Samstag, 7. Mai 2016

10,II. Der Hexer

oder 
The best is still to come
(aus der 2. Ausgabe von 1999)



Lieber Leser, 
als 1999 eine neue Auflage* meines Buchs nötig wurde, habe ich nichts Wesentliches zu ändern gefunden. Ein paar Schreibfehler, ein paar Aktualisierungen: der Präsident der Vereinigten Staaten war inzwischen ein damaliger Präsident, Jane Fonda war geschieden, und dergleichen mehr.

Aber HIStory war in den zwei inzwischen verflossenen Jahren weitergegangen, und die Frage, was aus der Jacko-Figur und dem Mythos vom Magical Child werden sollte, hatte sich zugespitzt. 

Lesen Sie hier das entsprechende Kapitel ab dem Absatz, wo es von der Erstausgabe abwich:
Tereza: „Erwachsen sollte ich nie sein.“
Calvero: „Wer will das schon!“
„Rampenlicht“
Nicht nur ist die Ansteckung ein Anzeichen der Kunst, 
der Grad der Ansteckungsgefahr ist Überdies auch der 
einzige Maßstab für die Vortrefflichkeit der Kunst.
Tolstoi 
Er hat sowas Rührendes.
Gerhard Schröder

....

Die Tour geht weiter. Am 4. Januar ’97 geht die HIStory-Tour in Ha-
waii zu Ende. Fast eine Million Zuschauer in 42 Ländem. Nach sei-
niem Auftritt zu Liz Taylors 65. Geburtstag am 12. Februar, wo er sei-
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ner treuen Feundin I Love You, Elizabeth sang, war er wieder in den
Aufnahmestudios. Mitte Mai erscheint Blood On The Dancefloor,
pünktlich zur Prasentation des lange angekundigten Kurzfilms
Ghosts — „Gespenster“ — auf dem Festival in Cannes (außer Konkur-
renz). Es folgt ein Album selben Titels mit Remix-Versionen einiger
HIStory-Songs und fünf neuen Liedem — und sorgt für Befremden.
Neben dem Titellied zwei Stücke aus dem neuen Film, sowie Mor-
phine und Superfly Sister — ein zynisches (und kein bißchen „be-
troffenes“) Stück über Drogen und eines über den Sexwahn: „Liebe
ist auch nicht mehr, was sie war!“ So pompös und düster das eine
klingt, so karg und funky das andere. Ja schon. Aber was sollen die
Remix-Nummern lüngst bekannter Stücke, wie man sie sonst nur als
Beigabe auf den Singles findet? Sie sind weder originell noch beson-
ders gelungen — eine Anbiederung an den Techno-Geschmack der
Zeit. „Ein richtiges Album ist das nicht“, urteilen die Fans. Es ist ei-
ne Art Promo-CD für HIStory und Ghosts. Sony hat darauf bestanden, 
sagen die einen. Andere fragen sich, ob nicht eine strategische Absicht 
dahintersteckt: ein Album, bei dem von vornherein ausgeschlossen ist, 
daß es „Epoche macht“. So als wolle er sagen: Ichbin’s leid, hinter
meinen eigenen Rekorden her zu rennen; Schluß damit! Gegenüber  
Black&White bekennt der Meister, er habe die Remixes selber nicht 
gemocht.

Seit Jahren geht unter den Fans ein ängstliches Raunen über einen
bevorstehenden „Imagewechsel“ ihres Idols um. Natürlich wollen
sie, daß er der Größte bleibt, doch dazu muß er sich stets erneuern.
Aber weil er ist, wie er ist. haben sie Herz und Verstand an ihn verlo-
ren — und so soll er bleiben. Im antiken Mythos gab es die Figur des
puer aeternus, des Ewigen Knaben, mal Dionysos, mal Adonis, der
wie der Frühling immer wieder sterben mußte, um immer wieder neu
zu erstehen: immer jung und ganz der alte. Für einen Showstar die
Quadratur des Zirkels. Aber wenn er sie schafft, ist er der Größte.

Schafft er sie? Die Videos zu den HlStory-Liedern gaben Anlaß zum
Zweifel. Auch hier nichts Komisches mehr, gedeckte Farben, kein
Tanz, höchstens Zorn, aber alles tiefernst. Abstoßend gar das bedau-
erliche, häßliche Stranger In Moscow, das doch eine ganz andere Be-
handlung verdient hätte. Einziger Lichtblick: das elektrische They
Don’t Care (brasilianische Fassung), ein rasanter rhythmischer Bil-
derbogen, wo Michael in alter Frische mit einer Schar halbnackter
brauner Jungens tanzt wie je und zum Schluß mit dem kleinsten und
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schwärzesten von ihnen eine Ehrenrunde dreht. Aber das hat ihm,
dem Vernehmen nach, nicht gefallen. Dafür ist Stranger In Moscow
in Deutschland spurlos untergegangen. Weiß das Publikum besser,
wer Michael Jackson ist, als er selbst?

Doch ist er ein hundertprozentiger Profi. Er führt seine Comeback-
Kampagne generalstabsmäßig. Nur ist Planung auf diesem Feld
das wenigste. Wenn Image Building eine Kunst ist, nämlich ein ge-
wagtes Spiel mit tausend Unbekannten, dann ist es Image Rebuilding
doppelt und dreifach. Die Kampagne geschieht in zwei Phasen. Zu-
erst wird in einer Art „Image-Zapping“ das vertraute Erscheinungs-
bild bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, um dann wie Phönix den alten
Jacko „neu“ aus der Asche steigen zu lassen. Beide Phasen über-
schneiden sich. In You Are Not Alone erscheint er bald als tragische
Unschuld wie Asta Nielsen, bald als Latin Lover wie Rodolfo Valen-
tino, dann als liebeskranker Cupido und schließlich mit Lisa Marie
wie in einem Softporno. In They Don ’t Care wird das Glitzerding in
T-Shirt und Schmuddeljeans zum König der Schlichtheit, in Child-
hood und Earth Song geht er gar in Lumpen. Und in Stranger In Mos-
cow - ach herrje!

In Blood On The Dancefloor präsentiert er sich dann als Zuhälter
aus einer Hafenbar in Buenos Aires, und seine Tanzschritte — irgend-
wo zwischen Tango und Flamenco — wiederholen den merkwürdig
lateinischen Drive dieses R&B-Stücks. Aber seinen Höhepunkt findet 
das Image Rebuilding in dem halbstündigen Musikfilm Ghosts,
der seit Ende Oktober in amerikanischen Kinos im Vorprogramm
lauft. Zu der Musik von 2Bad („So’n Pech“) und den neuen Stücken
Ghosts und Is This Scary? singt, tanzt und mimt er in fünf verschiede-
nen Rollen — Masken, unter denen er nicht wiederzuerkennen ist. Die
Regie fiihrte Stan Winston, der für die Special effects von Jurassic
Park und Terminator verantwortlich war. Ghosts hat eine „richtige
Story“, an der Horrorspezialist Stephen King mitgearbeitet hat und
die man kaum mißverstehen kann. Ein „Maestro“ zieht in eine ame-
rikanische Kleinstadt, wo er die bigotten Einwohner und vorneweg
ihren Bürgermeister (auch den spielt Michael) gegen sich aufbringt:
Er sei unheimlich und bringe die Kinder auf dumme Gedanken. Dies
sei eine nette, normale Stadt — normale Leute, normale Kinder. We
want you out of town. We have a nice, normal town, normal people, normal 
kids. We don ’t need freaks like you telling them ghost stories.Die Kinder 
waren nämlich schon bei ihm gewesen und er hatte „Sachen gemacht“
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Aber eins von ihnen hat geplaudert, und nun geht’s dem Maestro 
an den Kragen. Er wehrt sich. Don’t you kids enjoy when I do my little 
(vieldeutige Handbewegung )  you know? “Ihr Kinder mögt doch 
mein  — na ihr wißt schon!“ Wie soll man da nicht an den Chandler-
Skandal denken? Viele Fans hätten gewünscht, er wäre schon früher
so bissig gewesen. — Und dann geht die Vorstellung erst richtig los. 
Die folgenclen drei Tanznummern überbieten alles, was man an 
Verbindung von Komik und Grazie bislang gesehen hat. Zuerst 
tanzt der Maestro zu 2Bad; völlig neue Choreographie, keine Spur 
mehr von Motown 25 — und auf einmal klingt das Stück, das nicht 
jeden Fan begeistert hatte, ganz anders in den Ohren. Danach tanzt 
ein wahrhaftiges Skelett zu Is This Scary? — Michaels Tanzbewe-
gungen werden elektronisch 1:1 auf das Computerbild übertragen. 
Und schließlich muß der Bürgermeister selbst auf die Tanzfläche:  
Ghost. Eben hatte das Gerippe den „magersüchtigen“ Michael 
karikiert — jetzt tanzt er als kleiner dicker Spießer so grotesk wie 
nie, und das will was heißen. Am Ende hat der Maestro alle an-
gesteckt, Kinder und Erwachsene — bis auf den Bürgermeister, 
doch der ergreift die Flucht…   

Waren bei Moonwalker Zweifel an seinem schauspielerischen 
Talent aufgekommen, so hat er sich mit Ghosts glänzend rehabilitiert. 
Wären da nicht im Abspann die Making-of-Bilder — man mag nicht 
glauben, daß unter all den Masken wirklich Michael Jackson steckt. 
Namentlich den selbstgerechten Bürgermeister gibt er so überzeugend, 
daß man wetten möchte, sogar eine  fremde Stimme zu hören! Erst-
mals übrigens präsentiert er sich hier nicht mehr als ewiger Einzel- 
gänger; dfer Maestro gebietet über eine ganze „Familie“ von Gespen-
stern; angemodertee Leichen aus mehreren Jahrhunderten, deren 
gruselige Schönheit Polanskis Tanz der Vampire in den Schatten stellt. 
Sie laufen die Wände hoch, tanzen an der getäfelten Zimmerdecke 
und stehen an komischer Grazie ihrem Meister in nichts nach. (Es 
ist viel mehr „echt“ in dieser Gespensterkomödie, als man bei Stan 
Winstons aufwendiger Computertechnik vermuten mag.)

Am 31. Mai ’97 beginnt im ausverkauften Bremer Weserstadion der
zweite Teil der HIStory-Tournee. Am nächsten Tag wird Ghosts auf
SAT1 gesendet. ln Deutschland werden zehn Konzerte vor insgesamt
660 000 Teilnehmern stattfinden — und wieder ist es ihm gelungen,
im heimlichen Wettrennen mit den Rolling Stones deren Besucherre-
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kord vom Vorjahr um fünfzigtausend zu überholen. Das Berliner
Olympiastadion ausverkauft, das Münchner sogar zweimal! (Im Au-
gust sendete SAT1 eine Aufzeichnung der Münchner Konzerte, die
inzwischen mehrfach wiederholt wurde.) Weiter geht’s durch Euro-
pa, von Spanien bis Skandinavien. An seinem neununddreißigsten
Geburtstag steht er in Kopenhagen auf der Bühne. Fünf Tage darauf,
als Prinzessin Diana in Paris verunglückt war, widmet er ihr sein
Konzert in Ostende. Und dann, im Oktober, spielt er erstmals in Süd-
afrika — vor über 200 000 Gästen. Insgesamt waren es diesmal mehr
als zwei Millionen Menschen, die die Show gesehen haben. Kom-
merziell war die Tournee jedenfalls ein Erfolg. Marcel Avram hat
keinen Grund zur Klage — außer daß er die Tournee hinter Gittern
verfolgen mußte. (Michael hat ihn später dort besucht.) War sie auch
sonst ein Erfolg? Zum Eröffnungskonzert in Prag hatte ein dortiges
Boulevardblatt die Kindersex-Geschichte nochmal aufgewärmt, und
auch in Asien gab’s ein, zweimal Skandal. Doch in Deutschland ge-
nierte sich selbst jenes Hamburger Revolverblatt und tat, als könne es
sich an nichts mehr erinnern. Als hätten sie alle sowas wie ein
schlechtes Gewissen. Entsprechend verlegen waren die ersten Kom-
mentare. Aber dann veränderte sich während der zehn Wochen, als
die Show durch Deutschland zog, die Tonlage unmerklich. Wurde
anfangs noch verhalten gemault, ganz so neu seien seine Dar-
bietungen ja nun doch nicht mehr, machte sich nach und nach die Er-
kenntnis breit, daß gerade darin die Bedeutung des Ereignisses lag:
Michael Jackson präsentierte eine Art „Summe“ der Showkunst —
The State Of The Art, wie ein Berliner Blatt formulierte. Fast schien
es, als sei er als „Mr. Showbiz persönlich“ den Niederungen des All-
tagsgeschäfts entrückt und jenseits aller Kritik. Schon irgendwie toll,
wie er das macht; aber das ist ja schließlich, was man von ihm
erwarten darf. Nur gelegentlich mal ein verhohlenes Staunen: Wie
dieser kleine Mann ganz allein so eine riesige Bühne füllt! Nicht
schlecht, ehrlich.

Aber eine Ratlosigkeit bleibt am Ende doch. Steigern läßt sich
seine Performance nicht mehr. Muß er sie also immer wiederholen?
Das hat sie nicht verdient. „Noch größer“ kann er sie aber auch nicht
mehr machen. Sie hat ihre quantiative Grenze erreicht und erinnert
gelegentlich an eine athletische Leistungsschau: „Wie steht er das
nur durch — zweieinhalb Stunden lang, immer wieder!“ Doch dabei
übersieht man dann seine Kunst. Solche Verschwendung zeugt von
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jugendlicher Kraft, aber ein Klassiker vergibt sich was dabei.
Schließlich hatte die Gala für Liz Taylor doch bewiesen: Das hat er
nicht mehr nötig. Er versteht es auch mit einfachen Mitteln, sein Pu-
blikum anzustecken.

Ein darstellender Künstler ist in einem Dilemma. Er mag noch so
gut sein — Wiederholung wird schließlich fad. Nur — auf der Jagd
nach dem „letzten Schrei“ macht er sich lächerlich! Wenn sich Ma-
donna irgendwann aus dem Geschäft zurückzieht, wird man wohl im-
mer noch das eine oder andere Lied von ihr bringen. Aber als Figur
wird sie nicht überdauern, denn dafür fehlt es ihr an Eigenem. Frank
Sinatra war schon zu Lebzeiten ein Klassiker und füllte die Säle bis
zum Schluß; aber als ein lebendes Fossil — daß er irgendwann mal
wieder auf Platz eins der Charts rücken würde, davon durfte er längst
nicht mehr träumen. Count Basie hatte die Lösung benannt: „Du
mußt zu einer Institution werden“; aber doch nicht zu sehr, sonst
wirst du zur Karikatur. Daß sich Michael Jackson zum Denkmal sei-
ner selbst erheben will, hatten die Statuen gezeigt, die er bei Erschei-
nen von HIStory in den europäischen Hauptstädten aufstellen ließ.
Aber ob eine Figur zum Denkmal taugt, hängt von ihrem Gehalt ab.
Sie muß unverwechselbar sein — aber auch vieldeutig genug, um noch
Fragen aufzuwerfen, sonst geht man achtlos dran vorbei.

Die HIStory-Tour sollte besiegeln, was das Album eingeleitet hat-
te: seine Riickkehr auf den Thron. Er ist nicht „gefallen“, er ist der
Größte wie eh und je. Aber ein Schlußstrich bezieht sich auf Vergan—
genes. Und ein Denkmal seiner selbst weist auch nicht gerade in die
Zukunft. Was also bleibt nach all dem Image Rebuilding von der
Jacko-Figur? Die eigentliche Geburtsstunde des Künstlers — und des
Schauspielers zumal, meinte der dänische Philosoph und Theatemarr
Sören Kierkegaard — sei seine „Krise“. Wenn er nämlich aufhört, nur
so zu sein, wie er „von ganz alleine“ ist, und sich mit voller Absicht
ein zweites Mal zu dem macht, was er werden soll, weil er es „im
Grunde“ immer war. Mit dem geborenen Künstler Michael Jackson
ist das allerdings komplizierter. Seine Verdoppelung zum Ewigen
Knaben Jacko hatte er nur zur Hälfte gemacht. Zur andem Hälfte war
auch sie ihm ganz von allein passiert. Ganz „fertig“ war sie jedenfalls
nicht.

Das Kindliche ist eine ständige Versuchung für die Erwachsenen.
In ihrem geschäftigen Alltag haben sie sich um ein’ Gutteil der Mög-
lichkeiten gebracht, die sie einmal hatten. Daher die immer neue Be-
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geisterung für Wunderkinder aller Art: „Sieh an, das hättest du sein
können!“ Daß einer aus dem Sentiment fiir das Kindliche Kapital
schlägt, wäre nun nicht neu gewesen. Aber Michael Jackson verkör-
pert nicht einfach nur das Kindliche und basta; das war Peter Pan. Mit
Ghosts ist nun eine bedeutsame Verschiebung im Sinn der Jacko-Fi-
gur geschehen. Zum „Maestro“ hat er sich wirklich gemacht. Das ist
einer, der wohl auch selber auftritt, sogar in der ersten Reihe; der aber
vor allem die andern „in Szene setzt“ — seine Gespensterfamilie
ebensowohl wie das Publikum. Eine mythische Gestalt auch er — aber
eine andere als Peter Pan. Der war noch selbst der Junge, der nicht er-
wachsen wurde und sich ins Nimmerland verdrückte, wo die Welt ein
Märchen ist. Der Maestro hingegen ist ein Hexer. Das moderne Wort
Hexe stammt von dem althochdeutschen hagazussa, was wahrschein—
lich so viel heißt wie „eine, die auf dem Zaun reitet“. Der Zaun — das
wäre die Grenze zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren, der
sinnlichen und der übersinnlichen Welt; oder zwischen Kindheit und
Erwachsenheit. Der Maestro ist ein Zwischenträger, ein Schmuggler,
ein Schieber. Er ist auf beiden Seiten „ansteckend“, denn er gehört
beiden an. Nicht halbe—halbe, sondern jeder voll und ganz. Wenn Er-
wachsensein bedeutet, einen Beruf ergreifen und es „zu was bringen
in der Welt“, dann war Michael Jackson erwachsener als irgendwer.
Daß er sich von da aus „wieder“ zum Kind machte, das er niemals
war, das ist der Witz. Er stellt das Kindliche dar, wie es in einer er-
wachsenen Welt, gegen eine erwachsene Welt kämpft und — siegt.
Das sich zum Unternehmer macht, ohne aufzuhören, ein Spieler zu
sein. Der Maestro ist die Jacko-Figur nach ihrer Krise. Neu, aber
ganz der alte. Der ewige Knabe, aber ganz erwachsen.

Auch nach dieser Tournee, die ja einen Schlußstrich ziehen sollte,
verschwand er wieder in der Versenkung. Ganz unverständlich war es
diesmal nicht — immerhin war er nun Familienvater. Aber doch kein
gewöhnlicher. Während der Tournee war Ehefrau Debbie in Los An-
geles geblieben — sie mußte ja arbeiten gehn! Söhnchen Prince war
selbstverständlich beim Vater. Wie denn — auf Tournee, von einem
Hotel ins andere? Diesmal schlug Michael — jedenfalls in Europa —
ein festes Quartier auf, in Paris, und dorthin kehrte er buchstäblich
jede Nacht, nach jedem Konzert zurück, um dem Kleinen die Win-
deln zu wechseln („ungem“, wie er einer Joumalistin anvertraut).
Applehead nennt ihn sein Vater, wegen seines kullerrunden Kopfs,
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seine Haut wird immer heller, das Haar auch, und die Augen sind —
grün. „Wenn er schreit, muß ich nur singen und tanzen, schon hört er
auf.“ An zwei, drei Wochenenden bekommen sie Besuch von der Ma-
ma. Ganz normales Eamilienleben — na ja, fast. Und am 3. April ’98
bekommt Applehead dann schließlich eine Schwester. Sie heißt Kat-
herine — nach Michaels Mutter; und Paris — nach der Stadt, in der sie
erarbeitet wurde. Bald nach Abschluß der Tournee kündigt Sony ein
neues Album des King Of Pop an. Aber die Fans wissen, daß nichts
so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde: Das kann noch Jahre
dauern! Statt sich in die Aufnahmestudios zu begeben, geht Michael
Jackson erstmal seinen übrigen Geschäften nach. Er ist auf der Suche
nach geeigneten Standorten für die Freizeitparks, die er mit Kingdom
Entertainment geplant hatte. Man sieht ihn in Südkorea, in Polen —
wo ihm eine barocke Klosteranlage angeboten wird —, in Kanada. Na—
mibia, Brasilien, in Deutschland — wo er sich für die Harburg im
bayerischen Donauries interessieren soll —, und schließlich in Süd-
afrika, wo er bei Nelson Mandela eine Woche gemeinsam mit Li-
sa Marie verbringt; na wenn das nichts zu bedeuten hat! Aber Debbie
meint nur, sie seien halt immer noch Ereunde.

Im Mai sieht man Michael Jackson schließlich auf den Jungfern-
inseln in der Karibik. In seiner Begleitung der farbige Geschäftsmann
Don Barden. Sie suchen gemeinsam nach Grundstücken fur eine Ho-
tel- und Freizeitanlage. Kingdom Entertainment und Prinz Al Walid
gehören anscheinend der Vergangenheit an. Freilich hatte der Prinz
sein Vermögen bislang mit spekulativen Transaktionen erworben, mit
Investitionen in industrielle Projekte hat er weniger Erfahrung. Viel-
leicht lagen die Geschäftsinteressen der beiden doch weiter auseinan-
der, als sie dachten. Über die Umstände ihrer Trennung ist aber nichts
durchgesickert; nicht einmal, wie endgültig sie ist. Taugt Don Barden
besser zum Partner bei Michael Jacksons Versuch, die Vorherrschaft
des Disney-Konzerns im Reich von Kiddie Kulture zu brechen? Sein
Vermögen stammt aus dem Glücksspiel. Er betreibt etliche Kasinos,
unter anderem in Michaels Geburtsort Gary. Jackson-Burden Enter-
prises Worldwide verfügen (zu gleichen Anteilen) über ein Kapital
von 3 Milliarden Dollar und haben den Zweck, Hotels, Vergnügungs—
parks und eben — Spielkasinos zu betreiben. Na — das Spielen gehört
zwar in die Welt des ewigen Knaben Jacko; das ist es ja, was ihn „an—
steckend“ macht. Aber daß damit neuerdings Glücksspiel gemeint
ist, das verschlägt den Fans die Sprache.
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Die erste Aktion des ungleichen Paars trägt denn auch wirklich al-
le Züge einer Pokerrunde. Es geht um Majestic Kingdom, einen
Vergnügungspark in Detroit — dem Geburtsort von Motown. Der
springende Punkt: In den dazugehörigen Hotels soll ein Spielkasino
eröffnet werden. Der Haken: Die Konzession für ein Kasino hat der
Bürgermeister von Detroit bereits an die drei Branchenfiihrer verge-
ben. J.B.E.W. bieten also den Bewohnern Detroits einen Deal an: Sie
investieren 1,7 Mrd. Dollar in einen Freizeitpark (und schaffen so ein
paar tausend Arbeitsplätze), wenn jene per Abstimmung ihren Bür-
germeister dazu verdonnern, die Konzession für das Kasino draufzu—
legen! Michael Jackson macht zum erstenmal Wahlkampf. Und zwar
richtig amerikanisch, auf allen Registem. So kann man zum Beispiel
hören, J.B.E.W. verdiene schon deswegen den Vorzug, weil es sich
um „das einzige hundertprozentig schwarze Unternehmen in der
Branche“handele! Eigenartige Töne aus dem Mund des „farbenblin—
den“ King Of Pop. Er ist zwar afrikanischer Abstammung, das ist
wahr; aber schwarz ist nicht einmal Don Barden — eher hellbraun.
Schwarz ist allerdings die Mehrheit der Wähler in Detroit. Doch nur
vierzig Prozent der Wähler stimmen am 4. August für Majestic King-
dom. Michael hat gepokert und verloren. Auf seinem eigenen Feld
war ihm das nie passiert.

Ende September treten Jackson-Barden noch einmal gemeinsam
auf — in Las Vegas bei einem Kongreß der Glücksspiel-Branche. Es
heißt, J.B.E.W. interessierten sich fiir den Erwerb des Hotel-Komple—
xes Desert Inn (der immerhin auf 1,5 Mrd. Dollar taxiert wird). Nun
ist das Las Vegas der Neunziger Jahre zwar nicht mehr das
Mafia-Nest der Fünfziger und Sechziger, sondern eher ein Amüse-
ment „fiir die ganze Famille“. Doch Heal The World bei Roulette und
Baccara — entpuppt sich der Maestro am Ende als bloßer Zocker?

Image Building hat im Showgeschäft ja wirklich den Charakter
einer Pokerpartie. Nachdem monatelang nichts mehr von ihm zu
hören war, wurde am 19. März ’99 nicht das amerikanische, sondern
das deutsche Publikum von der Meldung verblüfft, daß The King Of
Pop schon am folgenden Tag live in einer Fernsehshow auftreten
würde! Sie heißt — passend zu Michael Jacksons jüngsten Unterneh-
mungen — Wetten, daß?

Was sollte das werden? Eine Doublette des Auftritts vor dreieinhalb 
Jahren? Das kommt für den größten Star aller Zeiten doch nicht in Frage. 
Dagegen — Michael Jackson bei einer Fernseh-Talkrunde,
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das wäre eine Weltpremiere. Das hat er noch nie gemacht!
Weil er nämlich weiß, daß er es gar nicht kann. Und weil es auch gar
nicht zu seinem Standing paßt. Entsprechend verkrampft, mecha-
nisch wie ein Automat, stakst er am folgenden Abend auf die Bühne.
Und wirklich — er kann‘s nicht. „Das Jahrtausend geht zu Ende, und
ich dachte, ich kann nicht einfach dasitzen und nichts tun ...“ Schon
nach drei Sätzen verliert er den Faden, ruft seine Manager zu Hilfe
(Marcel Avram hatte extra Freigang bekommen), und gleich rennt er
von der Bühne wie ein verschrecktes Kind, das seinen Einsatz ver-
patzt hat. „Gespensterauftritt!“ titelt das ungenannte Blatt. Das ver-
datterte Publikum muß von Dritten erfahren, worum es überhaupt
geht: Ende Juni sollen unter der Schirmherrschaft der UNESCO, des
Internationalen Roten Kreuzes und des Nelson Mandela Children’s
Fund — erst in Seoul, zwei Tage drauf in München — zwei gigantische
Benefiz-Konzerte stattfinden „für die Kinder der Welt“, an denen al-
les teilnimmt, was in Pop und (na ja) Klassik Rang und Namen hat.
Eine Art We Are The World, aber diesmal international statt ameriko-
afrikanisch; und live statt bloß im Studio.

Daß er in Gottschalks Plauderrunde keine fünf Minuten durchhal-
ten würde, wußte er vorher. Und genau das war die Botschaft, die
beim Zuschauer ankommen sollte! Denn nun fragt es sich: Warum
hat er sich diese Qual dann überhaupt angetan? Tja — weil es ihm so
sehr am Herzen lag…   Wäre es nicht um eine Benefiz-Veranstaltung
gegangen, hätte dieser PR-Stunt nicht funktioniert. (Und wäre nicht
bei Gottschalks voriger Sendung wieder Gerhard Schröder — nun als
Kanzler — aufgetreten, wäre Michael Jackson auch gar nicht gekom-
men.) War also alles nur inszeniert? Nein, es ist das alte Paradox. Es
ist alles echt; so echt, daß erstmals auch unser ungenanntes Blatt statt
der gewohnten Häme sowas wie Anteilnahme durchscheinen läßt.
Aber so echt, wie es ist, wird es auch zur Show gestellt. Thomas Gott-
schalk, zum zweitenmal gefoppt, zeigt dennoch Mitgefühl: „Er ist
ein menschenscheuer Kerl. Er kann nicht anders. Er hat auch keine
Arroganz oder irgendwelche Allüren. Aber ich habe gemerkt, daß er
in Panik gerät, wenn er reden muß. Er hat mich flehend angeschaut
und hat dann zwei seiner Leute auf die Bühne geholt. Seine Sprache
ist seine Musik.“ Das ungenannte Blatt sekundiert: „Die Massen be-
herrscht er — vor Einzelnen hat er Angst. Es gibt keinen scheueren
Menschen als ihn. Wenn wir ihn dann auf der Bühne sehen, haben wir
einen ganz anderen Menschen vor uns. Da weiß er sich auszudrücken
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wie kein zweiter.“ Das Absurde daran: Um zu erscheinen, wie er
ist, braucht der größte Star aller Zeiten einen Theater-Coup. Tags
drauf ist er, erstmals seit Jahren, wieder auf Seite eins der Boulevard-
blätter: Ob er denn „in diesem Zustand“ überhaupt noch auftreten
kann?! Und so ist dem Münchner Konzert die Aufmerksamkeit des
Publikums jedenfalls sicher 

Vier Wochen später eine weitere Etappe im Image Rebuilding:
Michael Jackson gibt ein Interview — ausgerechnet der Londoner Yel-
low Press! Zwar nicht gerade der Sun, sondern ihrem Erzrivalen
Daily Mirror, mit dem er eben erst einen jahrealten Rechtsstreit
wegen seiner angeblichen Gesichtsnarben beigelegt hatte. Bemer-
kenswert auch der Ort der Unterredung: Londons Nobelkaufhaus
Harrod ’s. Und wer sitzt dabei? Harrod’s Eigentümer, der ägyptische
Milliardär Mohammed El Fayed; der Welt besser bekannt als Vater
von Dodi, der gemeinsam mit Prinzessin Diana verunglückt war. Wir
erfahren von Michaels langjähriger Freundschaft mit Diana, daß er
El Fayed seit zwanzig Jahren kennt, daß er neuerdings Fußballfan ist
und daß er es gern sähe, wenn seine Kinder mal ins Showgeschäft
gingen, weil er ihnen dann was beibringen könne, und daß er ihnen
noch nie seine eigene Musik vorgespielt hat. Bis dahin nichts Aufre-
gendes. Dann spricht er erstmals von seiner Schwermut. „Wär’s
nicht wegen der Kinder — ich hätte längst das Handtuch geworfen
und mich umgebracht“. Und nun kommt er auf sein neues Album,
das schon zur Hälfte fertig sei. Es soll das Beste werden, was er je ge-
macht hat, na klar. Denn, so sagt er beiläufig, „ich glaube nicht, daß
ich danach nochmal eins machen werde“. Was denn, er dankt ab?!
Nein, nein, Soundtracks für Filme werde er machen und so, und viel-
leicht noch mal was mit seinen Brüdern. Aber ein richtiges Soloal-
bum wohl nicht mehr: „Die Jahrtausendwende ist die passende Zeit,
die Richtung zu wechseln!“ Also doch noch eine Sensation. Und
gleich die nächste: „Ich möchte ins Filmgeschaft einsteigen. Mo-
hammed und ich wollen eine Produktionsfirma gründen und ein paar
Filme zusammen machen. Das wird toll.“ Der Reporter fügt an: So-
gleich brechen die beiden Milliardäre in brüllendes Gelächter aus
über all das Ungemach und die gebrochenen Knochen, die sie in Hol-
lywood erwarten.

Na, noch ist das „letzte“ Album nicht erschienen. Man wird se-
hen. Jedenfalls hat sich seine Geschäftsverbindung mit Don Barden
erledigt. Uff, das war knapp, Michael. Aber einen potenten Partner
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braucht er, wenn er endlich Ernst macht: richtiges Kino! Er hat seine
Talente noch lange nicht ausgeschöpft, Ghosts hat es demonstriert.
Und Kiddie Kulture bleibt der Markt der Zukunft — gerade eben hat
die neueste Folge von Krieg der Sterne den bisherigen Rekordhalter
Jurassic Park als erfolgreichsten Film aller Zeiten überrundet. Doch
will er in Hollywood Control gewinnen, reicht Talent allein nicht aus.
Da geht’s um ganz andere Summen als im Musikgeschäft. Dream-
Works hat vier Jahre gebraucht, um sich gegen Disney durchzusetzen
(und hat es ausgerechnet mit Zeichentrickfilmen geschafft). Aber da-
hinter stand die geballte Finanzkraft von Spielberg, Geffen und Kat-
zenberger! Allein hätte Michael Jackson keine Chance. Und Kino
macht man ganz oder gar nicht. Es ist wahr, für neue Alben bleibt
dann kein Platz.

Daß auch sonst für ihn die Zeit gekommen ist, die Richtung zu
wechseln, zeigte eine Klatschmeldung, die knapp weitere vier Wo-
chen später durch die Blätter ging: Michael Jackson verliert zum er-
stenmal einen Plagiatsprozeß! Der italienische Schmusesänger Al
Bano hatte ihn verklagt. Michaels Will You Be There sei eine Kopie
seiner Schnulze I Cigni Di Balaka. Die Zivilklage ging acht Jahre
lang durch alle Instanzen und wurde im Januar 98 endgültig abge-
wiesen. Die Folge war immerhin, daß unterdessen Will You Be There
in Italien nicht gespielt und das Album Dangerous nicht verkauft
werden durfte — und auf HIStory fehlt das Stück. Aber nach seiner
kostspieligen Niederlage im Zivilverfahren bemühte Al Bano das
Strafgericht, und da hat er nun in der ersten Instanz recht bekommen.
Rund dreißig Noten des einen Liedes fänden sich tatsächlich in dem
anderen wieder. Allerdings wurde Michael Jackson lediglich zur
Zahlung der Gerichtskosten verurteilt — sage und schreibe 4.000 DM.
Die Presse hat das Urteil „salomonisch“ genannt. Schwer vorzu-
stellen, daß sich Michael Jackson die Platten von Al Bano anhört, um
sie auszuschlachten. Sicher, es passiert, daß beim Pizzabäcker im
Hintergrund ein Liedchen dudelt, und Jahre später fällt es einem ein
und man denkt, man habe es gerade selbst erfunden. Nur, Michael
Jackson geht in keine Pizzerien. Vorkommende Ähnlichkeiten diirf-
ten daher rein zufällig sein.

Aber gerade darum sollten bei Michael Jackson die Alarmglocken
geschrillt haben. Al Bano hätte nie geklagt, wäre Will You Be There
nicht ein Hit geworden — denn er hätte es nie gehört. Die erste Vor-
aussetzung für einen Hit ist eine einfache und dabei einprägsame Me-
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lodie. Die Tonleiter besteht aber nur aus zwölf Tönen. Irgendwann
sind die Möglichkeiten erschöpft. Als dem deutschen Schlager-
produzenten Ralf Siegel unlängst vorgeworfen wurde, er habe (für
Sürpris) sein eigenes Lied kopiert, konterte er trocken: „Wenn man
im Lauf der Jahre 1.500 Lieder geschrieben hat, kann es schon vor-
kommen, daß sich das eine mal ein bißchen wie das andere anhört.“
Die Gefahr der Wiederholung liegt im Wesen der Branche begründet.
Die Techno-Welle hat aus der Not eine Tugend gemacht und ernährt
sich aus der Hinterlassenschaft der Disco-Ära.

Wie wär es übrigens, wenn Will You Be There ganz von Al Bano
stammte? Es wäre trotzdem nicht dasselbe Lied. Weil er es nicht vor-
tragen kann wie Michael Jackson, gewiß. Aber vor allem, weil er
nicht Michael Jackson ist, sondern eben Al Bano. In den performing
arts ist ja nicht schon das Lied das Werk, sondern erst der ganze act
mit allem Drum und Dran. Und darum spielt die Aktualität, die Neu-
heit eine größere Rolle als in jeder anderen Kunstform. An sich ist
Neuheit keine ästhetische Qualität und hat mit dem künstlerischen
Wert gar nichts zu tun — das meinen nur die Snobs, die auf den unte-
ren Etagen des Kulturbetriebs nicht weniger zahlreich sind als auf
den oberen. Jedoch — der Künstler muß sich erneuern, um zu „blei-
ben, was er ist“. Und in diesem Sinn ist der Showkünstler noch etwas
„mehr Künstler“ als seine Kollegen aus dem klassischen Fach. Am
allermeisten Michael Jackson.

Filmstar wollte er schon immer werden. Mit Mut und Phantasie,
von denen er genügend hat, wird er die passenden Rollen wohl fin-
den; es muß ja nicht Peter Pan sein. Manche Figur der Weltliteratur —
oder wenigstens der deutschen — drängt sich formlich auf, von E.T.A.
Hoffmanns Student Anselmus und Eichendorffs Taugenichts bis zu
Grimmelshausens Simplicius und Wolframs Parzival: lauter Knaben,
die „erwachsen“ wurden, ohne, ach, daran zu reifen. Aber es ist wahr,
es ist inzwischen zu wenig, daß er sie nur spielt. Er muß sie auch in
Szene setzen. Ein Maestro, der nicht nur auf, sondern auch hinter der
Bühne „ansteckt“. Ein Impresario, ein Unternehmer, ein Hexer im
großen Stil. Die Idee vom Künstler als einem marktbeherrschenden
Industriellen hat schon Richard Wagner beseelt — weil sie die roman-
tischste von allen ist.

Der Weg dorthin wird steinig werden; aber das war der Weg zum
größten Star aller Zeiten auch. Zur Probe aufs Exempel ward das
Doppelkonzert in Seoul und München. Ort und Zeit waren absichts-
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voll gewählt. Am 25. Juni jährt sich zum fünfzigsten Mal die Zwei-
teilung Koreas, und Deutschland hat seine Spaltung vor gerade zehn
Jahren überwunden: nicht nur eine Wohltätigkeitsveranstaltung, son-
dern auch eine Art politischer Demonstration.

Ein Ereignis im Vorfeld ließ Schlimmes ahnen. Michael Jackson
wird am 2. Juni bei Luciano Pavarotti zu Hause in Modena erwartet —
zu dem immer wieder angekündigten, immer wieder verschobenen
Duett We Are The World. Doch während des Konzerts wieder die Ab-
sage: Michaels Söhnchen sei erkrankt. Das Publikum murrt. Pava-
rotti: Può morire, „er könnte sterben“! Folgt tags drauf in der Yellow
Press der ganzen Welt jene geschmacklose Story von dem weinenden
Vater und seinem „sterbenden“ Kind — das nach einigen Tagen schon
wieder recht munter war. Solche Geschichten sind geeignet, auch ei-
ne innige Freundschaft zu beschädigen…   Doch hieß es von beiden
Seiten, an Pavarottis Auftritt in München solle sich nichts ändern.
Nicht nur ein Konzert, sondem auch eine Demonstration. Eine po-
litische, aber auch eine für Michael Jackson. Zum erstenmal wurden
die Infrastrukturen der lokalen Fan-Clubs ins Kalkül der Firma
Jackson-Avram aktiv einbezogen. Rund um den Erdball, von New
York bis Sidney, organisierten sie die Anreise der Fans, um dem King
Of Pop bei seiner Ankunft in seinem Münchner Hotel den gebühren-
den Empfang zu bereiten. Im Gegenzug wurde ihnen — auch ein
Novum — ein regelrechtes Animationsprogramm beschert. Für die
Musik sorgt der Bayerische Rundfunk, für die Imitatoren-Show sor-
gen die Clubs — der jüngste Tänzer ist gerademal vier. Als der Meister
dann abends viertel nach sieben mit seinen beiden Kindern direkt aus
Seoul vorm Bayerischen Hof eintrifft, bricht die Hölle los.

Das Konzert am Samstag wird zu einem Marathon. Ab 15 Uhr
wechseln sich Alt-Rocker wie Status Quo und die Scorpions mit Rin-
go Starr und Alan Parsons, Teenie-Idole wie Boyzone und Sasha
Schmitz mit Pop-Barden wie Zucchero und Helmut Lotti auf der
Bühne ab. Nicht zu vergessen: Justus Frantz und die Philharmonie
der Nationen. Ein Ereignis eigner Art ist der Auftritt der Kelly-Fami-
lie. Erst vom vieltausendfachen Buh der Hardcore-Jacko-Fans be-
grüßt, fällt dann auch noch das Playback aus und sie müssen „un-
plugged“ improvisieren. Aber sie retten die Situation und bringen mit
We Are The World die Arena zum Kochen. Ach, gegen diesen Dauer-
brenner würde es What More Can I Give, „Was kann ich mehr noch
geben?“, nicht leicht haben — wenn es auch von Michael und Pava-
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rotti gemeinsam aus der Taufe gehoben wird! Wieder tritt Michael
Jackson gegen seinen eigenen Rekord an.

Nach vier Stunden endlich Pause. Das Publikum findet Zeit, sich
zu fragen, wo es eigentlich ist. Ein All-Star-Konzert quer durch die
Generationen? Eine Hilfsaktion für notleidende Kinder, von Kosovo
bis Nordkorea? Oder eine politische Demonstration für Friede, Freu-
de und das Gute im Menschen? Die Vielfalt der Titel, unter denen die
Veranstaltung läuft, trägt nichts zur Klärung bei: The Power af Hu-
manity, „Abenteuer Menschlichkeit“, What More Can I Give… Am
meisten durchgesetzt hat sich am Ende: „Michael Jackson & Friends“.
Ist es das: die offizielle Huldigung des Internationalen Showge-
schäfts an den König der Zunft?

Dann geht es erst richtig los. Viertel nach acht, das ZDF überträgt
live, dreiundzwanzig andere Länder sind zugeschaltet. Was wir bei
„Wetten, daß“ nicht erfuhren: Thomas Gottschalk führt selbst durchs
Programm, er darf den Gastgeber persönlich auf die Bühne rufen
(Orkan im Stadion!) und rückt in die Weltliga der Showmaster auf.
Andrea Bocelli, Peter Maffay, Roberto Alagna, Vanessa Mae,
André Rieu, Udo Jürgens mit Mario Adorf, Spirit of the Dance — “für
jeden Geschmack etwas“, aber ständig von Pannen begleitet. Die Be-
schallung ist schauderhaft, die Videotafeln sind viel zu klein, die na-
gelneue Bühnentechnik klappt auch noch nicht, und Gottschalks Mo-
deration ist im Stadion gar nicht zu vernehmen — so werden die Um-
baupausen quälend lang.

Und doch tat das der Stimmung — immer zwischen Karneval und
Weihestunde - keinen Abbruch. Warum? Daran ließ das Publikum
keinen Zweifel: „We Want Michael!“

Die Süddeutsche Zeitung brachte es auf den Punkt: „Bis dahin ein
Konzert, das weder aufregte noch begeisterte. Ohne Höhepunkte,
harmlos, nett, für die ganze Familie!“ Dann, nach über drei Stunden,
endlich der Auftritt. „Sensationell gut“, urteilt ein schon oft zitiertes,
aber nie genanntes Blatt. Doch das ist nicht alles: „Sobald er die Büh-
ne betrat, waren die vergangenen acht Stunden vergessen. Hatten nie
stattgefunden“, meint die Süddeutsche. „Das Konzert fing jetzt erst
an.“

Daß seine Kunst an einem Wendepunkt steht, konnte man sehen.
Nie trat das Bemühen um eine szenische Dramatisierung der Musik
so deutlich hervor — Bild- und Tonkunst in einem, wie er es immer
wollte. Ob er die sachlichen Bedingungen für seine Ambitionen zu-
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sammenbringt, bleibt aber abzuwarten. Marcel Avram, eben erst aus
der Haft entlassen, hat eine Schlappe erlitten. Nur die „Ansteckungs-
kraft“ von Michael Jacksons showmanship ließ über die vielen Pan-
nen hinwegsehen. Dabei wurde dem Publikum der ärgste technische
Patzer gar nicht recht bewußt: Michaels Absturz im Earth Song, wo-
bei ihm das schreckliche Wort mit f entfuhr — man hörte erst am näch-
sten Tag davon, als er das Krankenhaus schon wieder verlassen hatte.
Die allergrößte Panne war jedoch nicht technischer Natur: Pava-
rotti kam doch nicht, aber das Publikum ertrug es mit Gleichmut.
Schon am Vortag habe er in Oslo ein Konzert vor dem Königspaar
wegen Heiserkeit abbrechen müssen, hieß es offiziell. Inoffiziell wird
gemunkelt, er fürchte die deutschen Finanzbehörden und wolle nicht
auf den Spuren von Marcel Avram wandeln. Oder gibt es da etwa ei-
ne Rivalität zwischen den Stars: „Wer ist der größere Wohltäter?“
Die Süddeutsche deutet sowas an: „Vor dem Superstar Michael
Jackson waren alle anderen Stars gleich.“ Pavarotti mag das geahnt
haben. Das Duett werde „auf jeden Fall nachgeholt“, verkündet sei-
ne Sprecherin. Aber wohl erst bei einer Gelegenheit, wo beide auf
gleicher Höhe stehen.

Ein durchschlagender Erfolg war das Doppelereignis in München
und Seoul aber als humanitäre Hilfsaktion. Sechseinviertel Millionen
Geräte waren eingeschaltet, und während der Übertragung gingen
beim ZDF über drei Millionen DM Spenden ein. Alles zusammen —
Spenden, Senderechte, Eintrittskarten — dürfte „ein zweistelliger
Millionenbetrag“ zusammengekomrnen sein, teilt das Rote Kreuz
mit.

Und so ist denn Michael Jacksons Testlauf als internationaler Im-
presario gerade nochmal gutgegangen. Das „endgültige“ Album ist
in Amerika für den 9. November angekündigt. An dem Tag jährt sich
zum zehntenmal der Fall der Berliner Mauer. In Europa erscheint es
aber schon zwei Tage früher. Das wäre der Jahrestag der Oktoberre-
volution. Wer seine Termine so bedeutungsschwanger wählt, denkt
sicher nicht daran, abzudanken. Die Jahrtausendwende wird er gleich
zweimal feiern: zuerst mit einem Konzert in Sidney und dann, zwan-
zig Stunden später, noch einmal auf Hawaii. Nach einem Abschied
sieht das nicht aus. What more can give? war wohl nur eine rhetori-
sche Frage. Gemeint ist eigentlich: The best is still to come.


aus *Jochen Ebmeier, Michael Jackson - Das Phänomen, Mainz 1999




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