Der Fall, der keiner wurde
With a child's heart, nothing's
got to get me down.
Music & Me (1973)
...but I loved it 'cause it's
dangerous.
Dangerous (1991)
Seit Thriller war Michael Jacksons
Verhältnis zu den Medien problematisch. Hätte ein Namenloser die bestverkaufte
Schallplatte aller Zeiten gemacht, die Sensation wäre nicht größer, sondern
geringer ausgefallen. Anderthalb Jahrzehnte lang hatte Michael Jackson zum
lebenden Inventar der Branche gehört. Das allein war schon bemerkenswert. Den
Erfolg von Off The Wall hatte man ihm
gar nicht mehr zugetraut. Und dann krönte ihn Thriller noch zum King of
Pop! Wie von selbst drängte sich die Frage auf: Wie lange wird er sich
diesmal halten? Zuerst ganz ohne Häme, aber dann, je länger es dauerte, mit
wachsender Ungeduld. Man fing an, nach einem Thronerben Ausschau zu halten. Der
Erfolg des Künstlers, der damals als Prince bekannt war, stammt auch daher.
Und während eben noch die Bad-Tournee
neue Publikumsrekorde feierte, war in der Berichterstattung der Medien längst
ein gehässiger Tonfall zur Selbstverständlichkeit geworden.
Besonders gespannt war sein Verhältnis
zur musikalischen Fachpresse. Zur „weißen“ Musik gehört seit drei Jahrhunderten
eine professionelle Kritik, die ihre Maßstäbe aus der akademischen
Musikwissenschaft holt und sich am Geschmack eines seit Generationen
spezialisierten Publikums orientieren kann. Die „schwarze“ Musik, aus dem die
zeitgenössische Unterhaltungskunst im Wesentlichen stammt, hat nichts
dergleichen. Sie ist nicht ‚diskursiv’, und darüber lässt sich wenig Gescheites
schreiben. Am ehesten taugt noch die Rock-Musik im engeren Sinn zur
Schriftform. Weniger wegen der musikalischen Substanz als wegen der
ideologischen Geste. In den Redaktionen der einschlägigen Fachblätter geben
folglich die Alt-Rocker der 68er Jahrgangs den Ton an. Die mochten Michael
Jackson nie besonders. Und wenn das Publikum Jahr für Jahr immer denselben
bejubelt, muss die Kritik daran erinnern, dass sie auch noch da ist.
Nach Thriller wurde jedes neue
Jackson-Stück von der Fachpresse mit spitzen Lippen und gerümpfter Nase
begrüßt. Immerhin, der Branchenführer Rolling
Stone hatte beim Erscheinen von Bad
anerkennend gebrummt, Jackson beweise wiedermal, „dass er jederzeit jeden
andern ausfunken kann“. Doch die
andern nahmen es weniger genau. Jackson
bashing war zum Nachweis eines gediegenen Geschmacks geworden.
Hype, die kultische Form
der Reklame, stammt aus dem industriellen Anteil der Unterhaltungskunst. Sie
gilt als Beweis der nichtkünstlerischen Natur des Showbusiness. Doch ist sie
ist auch Performance. Man kann sie selbst zu einer Kunstform ausbauen. Auch da
war Michael Jackson Pionier. Als erster entwickelte er Image building zu einem System.
Nichts kitzelt die Phantasie eines
blasierten Publikums so wie das Geschlechtsleben seiner Prominenten. Der [damalige]Präsident
der Vereinigten Staaten kann davon erzählen. Aber er ist nur beiläufig
Entertainer. Er muss nicht kitzeln. Michael Jackson ist Entertainer mit Haut
und Haaren. Der muss, denn davon lebt er.
Und nirgends sind Zweideutigkeit und Flou artistique so ersprießlich wie im
Reiche des Erotischen. Hier ist Michael Jackson in seinem Element. Mit den
wüsten Tanzvideos The Way You Make Me
Feel und Dirty Diana aus dem Bad-Album nutzte er seine Chance. Zwar
beschränkte er sich auf gestische Anspielungen, aber die waren eindeutig, das
heißt unanständig. Noch nie hatte man den sanften Jungen so „sexy“ gesehen.
Natürlich legte die provozierend herausgestellte und zugleich verleugnete
Männlichkeit eine transsexuelle, „androgyne“ Deutung nahe - zumal es sich um
ein klassisches Thema der schwarzen Unterhaltungskunst handelt. Unvergessen
bleibt das aggressiv tuntenhafte Gebaren von Little Richard, aber es war nur
der Gipfel einer langen Tradition. So setzte etwa James Browns Manager Ben Bart
Anfang der Sechziger, als im weißen Amerika Homosexualität noch ein Tabu war,
das Gerücht von der bevorstehenden Geschlechtsumwandlung des Godfather of Soul in Umlauf - er wolle
seinen Keyboarder Bobby Byrd heiraten! Das galt als werbewirksam. Und noch
heute bevorzugt der Künstler, der früher als Prince bekannt war, das Gehabe
eines Strichjungen im Rokoko-Kostüm. Dass ausgerechnet Michael Jackson von
solchen Interpretationen verschont würde, war nicht zu erwarten. Er wolle den
Sänger Clifton Davis ehelichen und sich operieren lassen! Natür-lich hatte er
damals heftig dementiert - um sogleich selber ein paar Fragezeichen
hinzuzufügen.
Da war zunächst das anzügliche Human Nature von der Gruppe Toto auf dem Thriller-Album:
If they say :
Why? Why -
Tell 'em that
it's human nature.
Why? Why - does
he do me this way?
I like livin'
this way.
I like lovin'
this way.
Und es folgte der Hit Muscles, den Michael für Diana Ross
geschrieben hatte. Mit laszivem Keuchen besingt sie Stärke und Schönheit des
männlichen Körpers, I want muscles, ich
will Muskeln! Und was ist dabei? Es ist schließlich eine Frau, die das singt!
Na ja. Würden man nur nicht im Background Michaels unverwechselbare Stimme
mitstöhnen hören: Muscles!
Doch solche Geschichten halten sich
nur, wenn man irgendwann Namen nennt. An Aspiranten wird es nicht gefehlt
haben, auch Andy Warhol und Leonard Bernstein waren im Gespräch. Aber Erfolge
konnte keiner melden, und schließlich versickerte das Gerücht. Man einigte sich
stillschweigend auf die Annahme, Michael Jackson habe gar keinen Sex.
Ab einem bestimmten Punkt gehört eine
schleichende Verunglimpfungskampagne, eine Art „Anti-Hype“, zum Ruhm dazu wie
zum Reichtum der Neid. Von der Callas hieß es schon früh : Sie verliert ihre
Stimme! Solange, bis es wahr wurde - zehn Jahre danach. Pavarotti kennt das
auch schon. Doch Michael Jackson ist ein hundertprozentiger Profi. Er überlässt
nichts dem Zufall und ging einen Schritt weiter. Er machte auch seine Anti-Hype
noch selber.
Schlechte Publicity gibt es nicht, sagt
ein Sprichwort aus Hollywood. Der Maler und Showman Salvador Dalí echote:
„Solln doch die Leute über mich reden, was sie wollen. Vorausgesetzt, es ist
viel.“ Ach, es ist alles eine Frage der Dosierung. Ständige Übertreibung wirkt
auf die Dauer nicht bizarr, sondern lächerlich, und Lächerlichkeit tötet.
Michael Jackson stand im Begriff, sich vom Megastar - das Wort wurde für ihn
erfunden - zur Witzfigur abzuwerten. Die Sauerstoffkammer, die angeblichen
Operationen, der Schrein für Liz Taylor, die Knochen des Elefantenmanns, und
selbst die Geschichte, dass er sich für die nächsten fünfzig Jahre einfrieren
lassen wolle, um jung und frisch im neuen Jahrtausend aufzutauen... Die Fans
lasten die Schuld an all dem Klatsch gern seinem Manager Frank Dileo an. Aber
es ist unwahrscheinlich, dass Michael Jackson ausgerechnet auf einem so heiklen
Feld die Federführung je an ein andern abgegeben hat. Vielmehr hat er feste
mitgemacht.
So war er lange Zeit in der
Öffentlichkeit nur in Begleitung seines Schimpansen Bubbles gesehen worden, den er von Hollywoods Hofschranzen umwuseln
ließ, wie weiland Wilhelm Hauff seinen Jungen Engländer. Michael Jackson ist
verrückt nach Kindermärchen; sollte er gerade dieses nicht gekannt haben? Es
wird ihm aber auch ein kaustischer Humor nachgesagt, und es ist nicht sicher,
wer da über wen gelacht hat. Doch wie dem auch sei: Am Ende kam er dem breiten
Publikum weniger mysteriös als albern vor. Die englische TV-Satire Spitting Image brachte dem armen wacko Jacko wenigstens Mitgefühl
entgegen: „I'm bad. - I'm sad. - (zum
Doktor :) I'm mad.“ Andere waren
nicht so zartfühlend.
Ein unerschöpfliches Thema ist sein
Gesicht. Auf dem Video Smooth Criminal
waren deutliche Narben zu erkennen. Beweis für immer und immer neue
Operationen! Dabei waren es dieselben Akne-Narben, die man schon Jahre zuvor in
She's Out Of My Life sehen konnte,
als seine Nase noch klobig und die Haut noch dunkel war. Aber Michael Jackson
tut alles, um die Gerüchte am Kochen zu halten. Seit Jahren geht er kaum noch
ohne seinen Mundschutz unter die Leute. Um die langsam zerbröckelnde Nase zu
verstecken! Nein, weil er eine manische Furcht vor Mikroben hat, er leidet
unter einem Hygienewahn! (Die ältere Schwester beschreibt dagegen sein
Verhältnis zu Ordnung und Sauberkeit als ein ungebrochen kindliches.) Er selbst
erzählt, er sei ihm mal nach einer Kieferbehandlung verordnet worden und habe
ihm gefallen, weil er ihn, wie die obligate Sonnenbrille, vor den zudringlichen
Blicken der Gaffer schützt. Prosaischere Geister haben freilich bemerkt, dass ‚richtige’
Fotos von Michael Jackson seither ausgesprochen rar geworden sind. Und
entsprechend teuer.
Gern redet der Laie auch über
medizinische Dinge. Gesundheitsprobleme machen einen Popmusiker selbst noch für
Frauenjournale verwertbar. Beschwerden am Brustkorb brachten Michael Jackson,
wie erwähnt, wiederholt ins Krankenhaus. Fast immer war auch Überarbeitung im
Spiel, und das heißt: „die Nerven“. Na, hatten wir's doch gewusst! Und wie er
sich ernährt! Magersucht, Anexoria
nervosa, was denn sonst...
Nein, maßloses Geschwätz banalisiert
den Star: „Der schon wieder!“ Familiarity
breeds contempt. Wenn es soweit kommt, dass die Redakteure sich schnell mal
eine Meldung über Michael Jackson selber ausdenken, um die Seite vollzukriegen;
wenn er zum allfälligen Lückenbüßer wird, sobald es nichts besseres zu
berichten gibt - dann ist das zu viel. Der Vergleich mit Goethes Zauberlehrling
liegt nahe, aber er erhellt nichts. Ohne das wär es nicht gegangen. Das macht
eben Image-Building zu einer Kunstform: dass es nie fertig wird. Der Ausgang
bleibt immer offen.
So viel kann man gar nicht dementieren,
kann man gar nicht prozessieren. Man kann sich der Presse nicht erwehren, indem
man an die Presse appelliert. Dem Klatsch darf man nicht hinterherlaufen, man
holt ihn doch nicht ein. Man muss ihm von vorn begegnen, man muss ihm
zuvorkommen. Man muss „positiv“ werden. Im April '88 landete Michael Jackson
einen Scoop, an dem er vier Jahre lang gebastelt hatte. Jacqueline
Kennedy-Onassis, mit der er befreundet war, wollte im Verlag Doubleday Michaels Autobiographie
herausgeben. Die Ghostwriter waren emsig, doch mal war es Michael zu pikant,
was da zustande kam, mal war es dem Verlag zu fad. Die mittlere Linie, auf die
man sich schließlich einigte, hat sich bewährt: Bis heute hat keiner der
späteren Biographen Moonwalk
zerpflücken können. Gewollt hätte mancher, doch stattdessen schöpfen wir alle
aus dieser Quelle.
Es ist keine selbstquälerische
Nabelschau, aber auch keine Heiligenlegende. In groben Zügen erfährt man schon,
mit wem man es zu tun hat. Es wird alles angesprochen, auch das heikle
Familienleben der Jacksons. Aber es wird nicht alles ausgesprochen. Manches
muss man sich dazudenken. Das ist nicht der Größte Star aller Zeiten, der aus
diesen Seiten strahlt. Von seinen vielen Gesichtern bevorzugt er hier den
strebsamen Jungen, der für seinen Erfolg hart gearbeitet hat und dabei mit
beiden Beinen auf dem Teppich bleibt. Nicht ganz alltäglich Lebensumstä„nde,
nun ja. Aber im Grunde einer von uns...
Moonwalk wird ein Bestseller,
gewiss. Doch den Ozean von Klatsch und Tratsch kann es nicht eindämmen. Das
soll es auch gar nicht. Es soll der stets wachsenden Gemeinde der Fans einen
Orientierungspunkt setzen. Es soll sie rechtfertigen. Dann nämlich können auch
die wildesten Gerüchte wieder nützen - weil die Empörung darüber die Gemeinde
zusammenschweißt.
Zu Weihnachten 1988 erfüllte sich
endlich Michaels Kindheitstraum. Er hatte seinen eigenen abendfüllenden
Spielfilm! Moonwalker kam in die
europäischen Kinosäle. In England und Frankreich standen die Leute Schlange.
Aber die Kritiken waren verheerend. Eine Springflut von Special effects nach dem letzten Stand der Technik - nur, um
Michael Jacksons maßloses Ego zur Geltung zu bringen! Die Story sei dürftig,
und vor allem Michaels mimische Leistung wurde verrissen - selbst Freund
Bubbles sei begabter. (Tatsächlich wirkt er hier merkwürdig hölzern - wo er
lediglich den Michael spielen soll, ohne sich ironisch zum Jacko verdoppeln zu
dürfen. Er muss erst ein Anderer werden, um „er selbst“ zu sein.)
Tatsächlich erzählt Moonwalker keine richtige Geschichte. Im
ersten Teil ein kaleidoskopischer Gang durch Michaels Karriere, dann - nach dem
programmatischen Trick-Video Leave Me
alone, Lasst mich in Ruh! - eine rasante Flucht vor dem Drogenboss Frankie
Lideo (sic), der hinter „den Kindern“ her ist. Mehr eine Mythe als eine
Handlung. Und dazwischen das phantastische Tanzvideo Smooth Criminal - das allein schon den ganzen Film wert ist. Und
natürlich nimmt alles ein gutes Ende...
War es wegen der schlechten Kritik?
Jedenfalls entschied Frank Dileo, den Film in Amerika nicht in die Kinos zu
bringen. Dort wurde er nur als Videokassette zum Kauf angeboten. Zwar
verdrängte er alsbald The Making Of
Thriller als meistverkauftes Musikvideo aller Zeiten auf den zweiten Platz.
Aber Michael war mit seinem Manager unzufrieden.
Als er am 24. 1. 1989 in Los Angeles,
nach insgesamt 123 Konzerten, die Bad-Tournee
abschloss, verkündete Frank Dileo, dies sei Michaels letzte Tournee gewesen.
Eine weitere werde es nicht geben. Er ahnte nicht, dass es seine letzte
Amtshandlung war. Am 14. Februar gab Michaels Pressesprecher Lee Solters die
„einvernehmliche Trennung“ von seinem Manager bekannt.
Michael Jacksons beinhartes
Geschäftsgebaren gehört zu seinen weniger reizenden Zügen. Doch geht es auch
seinen Partnern nicht um Zärtlichkeit, sondern ums Geld. Namentlich seine Art
des Heuerns und Feuerns von Mitarbeitern hat Befremden erregt. Er sei
undankbar. Mancher Getreue fiel aus allen Wolken, als er eines schönen Morgens
einen Brief in den Händen hielt, wo ihm der Meister mit drei freundlichen
Zeilen für die geleisteten Dienste dankt. Außer seinem Sicherheitschef Bill
Bray, der schon die Jackson 5 gehütet und sich erst im vergangenen Jahr zur
Ruhe gesetzt hat, und Lee Solters ist kaum einer länger als fünf Jahre in
seinen Diensten geblieben. So als sei ihm zu große Vertrautheit nicht geheuer.
Was auch im einzelnen jeweils den Ausschlag gab - immer ist im Hintergrund
Jacksons Scheu, sich in Abhängigkeit zu begeben, geschäftlich wie privat. Das
ist anscheinend das ‚Familienthema’ bei den Jacksons. Als seine jüngste
Schwester Janet 1988 ihre eigene Karriere begann, nannte sie ihr Debütalbum Control. Und damit auch jeder merkt,
wie's gemeint ist, zeigt das Video zum Titelsong, wie sie türeknallend das...
Haus ihrer Eltern verlässt. Joe Jackson mischt im Geiste immer noch mit.
Weder Michael Jackson noch Frank Dileo
haben sich zu den Gründen ihrer Trennung geoßert. So ganz endgültig ist sie ja
vielleicht auch nicht. Heute ist Dileo jedenfalls der Manager der Gruppe 3T, die von niemand anders als von
Michaels Neffen Taj, Taryll und T. J. gebildet wird. Ihre Platten erscheinen
bei MJJ Music - Michaels eigenem
Label bei Sony.
Doch Michael selber hat sich seither
keinen Manager mehr genommen. Er hat Berater, aber er entscheidet alles selbst.
Control!
Nach Abschluss der Bad-Tour zog sich
Michael Jackson wieder aus der Öffentlichkeit zurück - wie gehabt. Nein, nicht
ganz. Auf seiner Ranch hatte er sein eigenes Reich gefunden, wo er Hof halten
und seine Freunde empfangen konnte. Kinder, viele Kinder; die meisten aus den
Slums von L.A. Diese Leidenschaft hatte er inzwischen weltweit publik gemacht.
Der blonde zwölfjährige Jimmy Safechuck, mit dem er seit den Dreharbeiten zu einem
Pepsi-Spot befreundet war, hatte ihn auf der ganzen Tournee begleitet. Im
Jacko-Look gekleidet, wurde er überall, wo Fans jubelten, in den Vordergrund
geschoben und wie der „eigentliche“ Star gefeiert.
Nun baute Michael seinen Privatzoo und
den Rummelplatz auf Neverland aus, richtete einen Kinosaal her und ließ ihn mit
ein paar Krankenbetten für sieche Kinder ausstatten. Wirklich allein war er nur
noch selten.
Ab und zu ließ er sich auch im
Blitzlichtgewitter sehen. Die Reporter waren gereizt genug, ein bisschen was
musste er ihnen anbieten. Ein paarmal wurde er in Begleitung von Madonna
gesichtet. Sie sollen gemeinsame Pläne geschmiedet haben. Beruflich, versteht
sich. Und gelegentlich erschien er sogar bei den Festlichkeiten der Branche, wo
die Trophäen verliehen werden. Viele nahm er persönlich entgegen, nicht nur per
Videoband. Einige überreichte er anderen. Aber er blieb immer wortkarg. I thank you so much und I love you all war meist alles, was er
über die Lippen brachte.
Bei einer Sorte von Auszeichnung aber
fehlte er nie, und er bekam sie jetzt immer öfter. Das waren die Medaillen für
seinen Einsatz zugunsten notleidender und benachteiligter Kinder. Gesundheits-,
Bildungs- und Anti-Drogen-Programme, das war sein Feld. So wurde ihm etwa vom Capital Children's Museum im September
'89 der Best of Washington Humanitarian
Award verliehen, ein Jahr darauf erhielt er als erster den eigens für ihn
gestifteten Michael Jackson Good Scout
Humanitarian Award von der Pfadfinderschaft von Los Angeles. Am 5. April
'90 schließlich wurde er sogar von George Bush im Weißen Haus empfangen und
ausgezeichnet (und am 1. Mai '92 ein zweites Mal).
Nur eine Woche später muss er aus einem
bedrückenden Anlass erneut in der Öffentlichkeit erscheinen. Sonst meidet er
Friedhöfe. Doch am 8. April war Ryan White nach langem Kampf mit nur achtzehn
Jahren seinem Leiden erlegen. Gemeinsam mit Barbara Bush und Elton John trug
ihn Michael zu Grabe. Für ihn ist das Lied Gone
Too Soon auf dem Dangerous-Album.
Künstlerisch machte Michael Jackson in
diesen Jahren Pause. Scheinbar. Ende Juni '89 brachten The Jacksons (ohne Michael und Marlon) ein neues Album heraus
namens 2300 Jackson Street - die
Adresse ihres Geburtshauses in Gary. Es sei aber nicht verschwiegen, dass auch
Michael im Titelsong zu hören und auf dem Video zu sehen ist. Und sie singen
von Eintracht und Frieden und trautem Familienglück - nach allem, was das
Publikum inzwischen von den Zuständen bei den Jacksons wusste...
Im November '89 war er noch bei der
Feier zum 65. Geburtstag von Sammy Davis Jr. aufgetreten und hatte das nur für
diese Gelegenheit geschriebene Lied You
Were There gesungen. (Davis starb im folgenden Jahr.) Das blieb für eine
lange Zeit seine einzige Performance. Allerdings war schon seit langem von einem
neuen Album die Rede. Er arbeitete, wie üblich, wie ein Berserker. Aber fand,
wie üblich, kein Ende. Die Fans mussten warten.
Und CBS auch. Michaels Plattenfirma
hatte ihren eignen Grund, sich in Geduld zu fassen. Sein Vertrag lief aus, und
man war nicht sicher, dass er ihn verlängern würde. Immerhin war er jetzt Herr
der Lage, er konnte wählen. Und CBS hatte den Eigentümer gewechselt. CBS Music, um genau zu sein. Der
Mutterkonzern hatte sich von seiner Musikabteilung getrennt. Sie gehörte jetzt,
einschließlich Epic Records, zum
japanischen Elektronik-Konzern Sony. Aber Michaels Verhältnis zu Walter
Yetnikoff, dem Boss von CBS Music,
hatte sich getrübt. Die Verhandlungen führte an dessen Stelle jetzt der Neuling
Tommy Mottola. Michael diktierte seine Bedingungen, und was dabei am 20. März
1991 herauskam, ging als „der größte Deal der Musikgeschichte“ ins Guiness-Buch
der Rekorde ein. Dort wurde der Gegenwert des Vertragsvolumens auf 890 Mio. $
geschätzt, aber andere rechneten mit mehr als einer Milliarde. Der Vertrag
läuft über fünfzehn Jahre. Michael hatte sich den Ruf eines gnadenlosen
Geschäftsmanns wenigstens nicht umsonst eingefangen. Im September nahm
Yetnikoff seinen Abschied bei CBS. Er hatte einen engen Vertrauten: John
Branca. Dessen Verhältnis zu Michael ging darüber in die Brüche. Und einen
guten Anwalt würde Michael Jackson eines Tages noch brauchen.
Doch hatte er auch einen neuen Freund
gefunden: Macauley Culkin, den engelblonden Kinderstar aus Kevin allein zuhaus. Ein weiterer Dauergast auf Neverland.
Am 14. November 1991 begann, nach der Thriller- und der Bad-Ära, endlich die Dangerous-Ära.
Sie stand von Anbeginn unter einem bedrohlichen Stern. Gegen wachsende Antihype
und unterm selbstgewählten Zwang zu immer neuen Rekorden trieb diese Karriere
langsam, aber sicher auf einen Paroxysmus zu. Als ob er es spürte, tat sich
Michael Jackson schwerer denn je. Immer wieder war das angekündigte neue Album
verschoben worden. Die Kritik würde es sowieso verreißen. Ihre fehlenden
ästhetischen Maßstäbe gleicht sie durch den ‚letzten Schrei’ aus. Doch das
breite Publikum ist launisch, aber konservativ. Ein etablierter Star, der
größte zumal, kann sich's leisten, die Kritik zu verprellen, aber nicht das
Publikum.
Das erste Problem war schon, für das neue
Album überhaupt Aufmerksamkeit zu schaffen. Gerade weil soviel davon geredet
wurde. Denn langsam hörte keiner mehr richtig hin. Ein Knalleffekt war nötig.
Und der passierte an diesem 14.
November. Das TV-Programm Top Of The Pops
strahlte als ersten Titel des neuen Albums den Song Black Or White aus. Aber nicht das Lied war die Sensation. Zwar war
es das erstemal, dass Michael Jackson sich zur Rassenfrage äußerte. Aber
erwartungsgemäß in gemäßigtem Ton. Die Sensation war das Video. Gedreht unter
der Leitung von John Landis, dem Thriller-Regisseur, zeigt es eine rasante
Folge von Tanzszenen in aller Herren Länder, mit Tänzern aller Hautfarben. Dann
ist die Musik zuende, aber noch nicht das Video. Denn es folgt die berüchtigte
‚Panther-Sequenz’. Das ist eine vierminütige Tanznummer ohne Musik, Michael
steppt wie ein wildes Tier - und demoliert ein Auto, zerschlägt Fensterscheiben
und treibt das Crotch Grabbing (buchstäblich) auf die Spitze. Ein
Riesenskandal! Am nächsten Tag ist der Teufel los. Die Jugendschützer der
ganzen Welt sind entfesselt, bis in unsere Tagesschau tönt das Echo. Sogleich
zieht Michael schuldbewusst die Panther-Sequenz zurück und lässt verlauten:
„Ich wollte immer ein gutes Vorbild sein. Ich bedaure zutiefst, wenn der
Schlussteil von Black Or White bei
Kindern oder ihren Eltern Leid und Schmerz verursacht hat.“ Freilich, John
Landis erinnert sich: „Er hatte den Schluss ursprünglich sexuell noch
eindeutiger gewünscht.“ Jedenfalls gab es nun keinen mehr auf dem Erdenrund,
der nicht wusste, dass Michael Jackson ein neues Album herausbrachte! Wenn es
ein Trick war, dann doch kein billiger. Denn bis heute darf die Panther-Sequenz
nicht im Fernsehen gezeigt werden, schon gar nicht bei MTV. Und dabei zählt sie
künstlerisch zu Michaels drei, vier reifsten Leistungen. (Freilich, auf
Kassette können Sie's kaufen...)
Das Album Dangerous kommt eine Woche später auf die Ladentische. Der Verriss
in der Musikpresse ist einhellig. Nur Rolling
Stone tanzt wieder aus der Reihe. Sie geben ihm viereinhalb Sterne und
plazieren es damit zwischen „exzellent“ und „ein Klassiker“. Und sie haben
Recht. Von den vierzehn Stücken sind dreizehn ein Meisterwerk, jedes auf seine
Art. (Nur Gone Too Soon fällt ab.
Trauer eignet sich nicht zur Veröffentlichung.) Aber eines ist wahr: „Neu“ ist
diese Musik nicht. Es ist Jackson-Funk in seiner höchsten Vollendung. Eben ein
Klassiker.
Quincy Jones war nicht mehr dabei.
Michael ist diesmal sein eigener Produzent. „Das ist o.k., er kann's jetzt
selber“, kommentiert Q. Die stärksten Stücke hat der Sänger selber geschrieben.
Da sind die drei Rock-Nummern Black Or
White, Who Is It und Give In To Me - die beiden letzten
schwere, düstere Lieder vom Liebesleid. Zweimal gab Slash, der Guitarrist der
Hardrock-Gruppe Guns N'Roses, ein
Gastsolo. Beim Publikum umstritten, aber darum nicht minder beliebt, waren die
Kinderhymne Heal The World und die
Gospelballade Will You Be There.
„Kitsch!“ Und gewiss ist der Text der Kinderhymne so sentimental, dass er nicht
übersetzbar ist. Aber dementiert wird er von der heiteren Melodie, die man,
wenn sie in rustikalem D-Dur stünde statt im prächtigen A-Dur, genausogut zur
Weinlese singen kännte. Allerdings lädt der tiefscharze Rhythmus eher zum
Tanzen ein als zur Arbeit...
Und in Will You Be There, das als Filmmusik zu Free Willy entstanden ist, findet sich folgender Stoßseufzer aller
unverstandenen Dreizehnjährigen:
Everyone's getting control of me
Seems that the world's got a role
for me
I'm so confused, will you show to me
You'll be there for me
And care enough to bear me?
Dann zum Abschluss das unvermeidliche Billie-Jean- und Dirty-Diana-Motiv, die gefährliche, vereinnahmende Frau: der
Titelsong Dangerous.
Take away my money
Throw away my time
You can call me honey
But you're
No damn good for m !
Dangerous
verkaufte sich besser als befürchtet. Doch schon mit Bad hatte sich abgezeichnet: Die Dynamik lag inzwischen eher in
Übersee als daheim. Zuhaus hatte er mit Thriller
sein Potential weitgehend ausgeschöpft, da war nichts mehr auszubauen. In Europa,
Asien und Lateinamerika dagegen war er immer noch „neu“. Nur kommt er dort als
der fix und fertige Jacko an. Der Kleine Michael wird immer erst im Nachhinein
entdeckt. Die Überraschung verstärkt dann freilich den Effekt.
Wenn sich Michael Jackson entschloss,
noch einmal auf Tour zu gehen, dann steckte Strategie dahinter. Es ging darum,
sein Reich rund um den Erdball auszuweiten. Bislang war Amerika sein Stand-,
der Rest der Welt sein Spielbein. Jetzt galt es, überall ein Standbein auf den
Boden zu bringen. Am 3. Februar 1992 kündigt er in New York seine neue
Welttournee an. Europa und Japan - die USA sind gar nicht vorgesehen. Aber mit
Rumänien zum erstenmal ein Land des ehemaligen Ostblocks. Pepsi sponsert. Und
er zieht einen Joker aus dem Ärmel: Alle Einkünfte aus der Tournee würden
seiner neuen Kinder- und Umweltstiftung Heal
The World Foundation zugute kommen. „Fünfundsiebzig Millionen Dollar“ waren
das Ziel!
Doch wie schon die Vorbereitung des
Albums, steht auch die Vorbereitung der Live-Show im Zeichen höchster
Nervosität. Michael Jackson lässt sich von den Star-Illusionisten Siegfried und
Roy und David Copperfield eine Reihe Special effects eigens entwerfen, aber
immer wieder wirft er das Programm über den Haufen und beginnt von vorn. Noch
eine Woche vor dem Tournee-Start in München habe er seinen Mittänzern gesagt:
„Vergesst alles, was wir geprobt haben“, und habe die Choreographie völlig
umgekrempelt...
Zuvor noch, als PR-Feldzug, eine Reise
„zurück nach Afrika“ ins Land der Väter. Sein ständiger Begleiter ist der
zehnjährige Brett Barnes (wir werden ihm noch begegnen). Ein Triumphzug, wie
geplant. Bei seiner Ankunft in Gabun wurde er von mehr Menschen begrüßt als vor
ihm Nelson Mandela, und in der Elfenbeinküste mobilisierte er größere Massen als
vor ihm der Papst. Dort wurde er gar vom Stamme der Sanwis zu ihrem „König“
gekrönt. Und dies in Ländern, wo es in den meisten Dörfern nicht einmal ein
Transistorradio gibt... Und doch wurde das PR-Unternehmen von der Presse unterm
Strich eher als ein „Fiasko“ verbucht - und vorzeitig abgebrochen. Ein
unscheinbares Ereignis am Rande hatte gezeigt, wie begründet Michaels Unruhe
war. - Er mag nicht, dass ihm die Leute ins Gesichts starren, und wenn er
seinen Mundschutz nicht trägt, sieht man ihn oft mit der Hand übers Gesicht
fahren. Und wenn er wieder verlegen ist, zupft er sich wohl schonmal an der
Nase. So auch in Afrika. Das hat einer fotografiert, eine Zeitung hat es
gebracht. Darunter schrieb sie: Er hält sich die Nase zu, weil die Afrikaner
schlecht riechen. Geschmacklos, sicher. Aber vor allem politisch bösartig.
Jetzt wurde es ernst. Denn verstehen sollte man es so: ein Neger, der ein
Weißer sein will; und wenn er seine Stammesbrüder trifft, hält er sich die Nase
zu, weil sie stinken... Das ist der kleine, feine Rassismus, wie er in Amerika
alltäglich ist; bei allen Rassen. Die Antihype hatte eine neue Dimension
bekommen. Da zeigte sich richtiger Hass - auf einen Entertainer!
Vor einem Vierteljahrhundert war der
kleine Michael aufgebrochen im Zeichen von Crossover, als King of Pop wollte er
dann die ganze Menschheit durch Musik vereinen, und jetzt polarisierte er wie
kein Künstler vor ihm. Wer nicht direkt für ihn war, war gegen ihn. Kaum einer,
der, wenn er seinen Namen hörte oder gar sein Gesicht sah – „schon dieses
Gesicht!“ -, nicht gleich pro oder contra reagierte. Denn längst stand er schon
für viel mehr als bloß eine bestimmte Sorte Unterhaltung. Er war zum
persönlichen Inbegriff der modernen Massenkultur geworden. Alle zeigten mit dem
Finger auf ihn. Punker und Pädagogen, Politiker und Redakteure, Prälaten und
schöne Seelen - sie alle sagten, wenn sie ihrem Unbehagen an der Kultur einen
Namen geben wollten, unfehlbar: Michael
Jackson. Da lag was in der Luft. Da braute sich was zusammen.
Und dass es dann gerade dieser „Fall“
wurde, nimmt auch nicht wunder. Einem bekennenden Kinderfreund, der so viele
Neider hat, musste früher oder später sowas angehängt werden.
Es wundert vielmehr, dass es nicht
schon früher geschah. Seit einem guten Jahrzehnt hatte der Mann, der Tag und
Nacht von der Sensationspresse ausgespäht wird wie kein anderer, dutzende und
hunderte von Kindern bei sich zu Gast gehabt, viele mit ihren Eltern, und oft
hatten sie bei ihm im Bett geschlafen. Das war kein Geheimnis, jedenfalls nicht
unter denen, die einen Blick hinter die Mauern werfen konnten; aber das waren
immerhin ein paar Dutzend. Und jedermann in Hollywood weiß, dass einschlägige
Agenturen die Hausangestellten der Stars bezahlen, um sich mit Exklusivklatsch
zu versorgen. Mark Quindoy, der Hausverwalter auf Neverland, und seine Frau
Faye standen auf der Pay list der
Londoner News of the World und The Sun (beide gehören Rupert Murdoch).
Er hätte offene Ohren gefunden. Doch Allan Hall, Murdochs Agent in Los Angeles,
sagt später: „Ich habe in all den Jahren nichts, aber auch gar nichts Negatives
über diesen Burschen [er meint Jackson] gehört.“ (Wir werden die Quindoys
wiedertreffen.) Kinder gingen in Neverland aus und ein. Aber damals hat sich
keiner was dabei gedacht. Nichtmal im skandalsüchtigen Hollywood. (Im
nachhinein wollen freilich manche „schon immer etwas geahnt“ haben. Aber gesagt
haben sie es erst, als viel Geld geboten wurde.)
Es war eben nicht immer
selbstverständlich, dass Liebe im Grunde doch nichts anderes ist als Sex. Das
ist es in Wahrheit noch heute nicht. Wir alle wissen es aus eigenem Erleben
besser. Und dennoch beherrscht die trübe Lehre, wonach sich Liebe stets auf
„machen“ reimt, weithin das öffentliche Feld. Wie kommt das? Ganz einfach. Es
zahlt sich aus. Was in den sechziger Jahren (von vorn) als „die sexuelle
Revolution“ daherkam, erweist sich heute (von hinten) als die Expansion der
Pornoindustrie. Und mit ihr expandierte die Bigotterie. Sie sind wie
kommunizierende Röhren. Denn auch von der Entrüstung lässt sich's leben,
solange die Obszönität gedeiht.
Unter größter Spannung begann am 27.
September 1992 in München die Dangerous-Welttournee.
Die Wahl des Ortes war nicht zufällig. Deutschland ist seit dem Fall des
Eisernen Vorhangs zu einem Schlüssel des europäischen Popmarkts geworden.
Erstmals war es sogar Trendsetter auf den Tanzböden der Welt! (Nichts, worauf
wir stolz sein können; denn von Techno
ist die Rede.) Auch MTV sendet inzwischen auf Deutsch. Hier war für Michael
Jackson noch ein großes Potential zu heben. In Deutschland gibt er zehn
Konzerte, dreiunddreißig in ganz Europa. Allein in London füllte er fünfmal das
Wembley-Stadion - 360 000 Zuschauer! Das Konzert in Bukarest (vor 72 000
Teilnehmern) wird vollständig aufgezeichnet und später rund um die Erde im
Fernsehen übertragen. Im Dezember folgen schließlich acht Konzerte in Tokio,
jedesmal vor 45 000 Zuschauern. Brett Barnes war immer dabei.
Anfang des Jahres ist er zurück in USA.
Er tritt bei der Feier zur Amtseinführung von Bill Clinton auf. Es folgt ein
Spektakel eigner Art: In der Halbzeitpause des Super-Bowl-Endspiels der American Football League am 31. Januar in
Pasadena singt Michael Jackson gemeinsam mit zehntausenden Kindern Heal The Worl - und 133 Millionen
schauen zu ! Aber der eigentliche PR-Stunt kommt noch. Am 10. Februar empfängt
er zuhaus auf Neverland Amerikas größten Fernsehstar, die Talkmeisterin Oprah
Winfrey. Michael Jackson gibt ein Live-Interview! Vor rund 90 Millionen
Zuschauern redet der schweigsame Star neunzig Minuten lang über Gott und die
Welt. Es ist das Medienereignis des Jahres. Wenn man auch - außer über Vitiligo
- nicht viel Neues erfährt. Doch findet er unerwartet klare Worte über seine
Kindheit und seinen Vater. Nur als Oprah wissen will, was alle beschäftigt:
nämlich ob er noch jungfräulich sei - da zuckt er zurück. „Ich bin ein
Gentleman!“ Vielleicht sei er altmodisch, aber über sowas redet er nicht...
In den Tagen drauf schießt Dangerous in den Billboard Charts wieder
nach oben.
Und am 9. Mai finden wir Michael
Jackson bei den World Music Awards in
Monte Carlo. Er erhält drei Auszeichnungen, unter anderm als erfolgreichster
Plattenstar der Epoche. In seiner Begleitung : der dreizehnjährige Jordy
Chandler mit Mutter und Schwester.
Die Fortsetzung der Dangerous-Tournee
durch Asien, Australien und Südamerika war für den Herbst des Jahres vorgesehen
- pünktlich zu Michael Jacksons fünfunddreiáigstem Geburtstag am 29. August.
Aber vorher passierte was.
Am 24. August 1993 erfuhr der deutsche
Fernsehzuschauer aus der Tagesschau,
Michael Jackson werde des sexuellen Kindesmissbrauchs bezichtigt. In den
folgenden Tagen überbot sich die Boulevardpresse, und nicht nur sie, rund um
den Globus mit immer neuen Enthüllungen. Wie Ritter Blaubart habe der falsche
Kinderfreund hunderte von Kleinen nach Neverland auf seinen Rummelplatz
gelockt, um sich dort über sie herzumachen. Sodom und Gomorrha!
Als sich der erste Pulverdampf gelegt
hatte, erfuhr man, worum es überhaupt ging: Jordan Chandler hatte Jackson seit
einem Jahr in der Öffentlichkeit begleitet, wie viele andere Jungen vor ihm.
Und regelmäßig hatte mal er auf Neverland übernachtet, oft in Begleitung von
Mutter und Schwester; mal Jackson im Haus von Jordans Stiefvater, dem
Autoverleiher Dave Schwartz. Es ging so familiär zu, dass der National Enquirer damals eine Geschichte
über „Michael Jacksons heimliche Familie: eine Millionärsgattin und ihre beiden
Kinder“ brachte - und dazu ein Foto mit Michael, Jordy, June Schwartz-Chandler
und der fünfjährigen Lily. Jordans leiblicher Vater, der nicht sehr
erfolgreiche Zahnarzt Evan Chandler, lag aber seit Jahren mit der geschiedenen
Mutter im Streit um die Unterhaltszahlungen. So wurde Jordans Freundschaft mit
Michael Jackson zur Waffe im Nach-Scheidungskrieg. Das Sorgerecht wurde zum
Druckmittel. Konnte man einer Mutter das Sorgerecht lassen, die ihr Kind nicht
vor falschen Freunden schützt? Dr. Chandler hat seinen Sohn erst zu einem
Therapeuten und dann zur Polizei geschickt.
Wir sind in Hollywood. Geld spielte
eine Rolle, viel Geld. Dr. Chandler ist nebenbei auch Drehbuchautor. Von ihm
stammt das Buch zu Mel Brooks' Robin-Hood-Parodie Helden in Strumpfhosen (und die Idee dazu soll sein Sohn gehabt
haben). Sofort nach Bekanntwerden der Anschuldigungen erklärten Jacksons Anwälte,
Dr. Chandler habe von Jackson 20 Mio. $ für ein Filmprojekt haben wollen. Es
handle sich um einen gewöhnlichen Erpressungsversuch.
Jedenfalls war die Polizei von Los
Angeles am 21. August, dem Tag vor seinem Abflug nach Asien, mit großem
Aufgebot in Neverland eingefallen, hatte sämtliche Türen aufgebrochen und alles
auf den Kopf gestellt. Drei Tage später wusste es die ganze Welt. Der Zeitpunkt
hätte nicht besser gewählt sein können. Am selben Tag fand in Bangkok das
Eröffnungskonzert zum zweiten Abschnitt der Dangerous-Welttournee statt. Und
sein Geburtstag stand bevor - die Medien waren voll davon. Es kam alles wie
bestellt.
Tagelang vernahm die Polizei alle
Jungen, die je mit Michael zusammen gewesen waren, voran Macauley Culkin, und
wie durch ein Wunder waren die Medien immer bestens informiert. Selbst das
Protokoll von Jordan Chandlers erster Polizeivernehmung - eines der geheimsten
Dokumente im Staate Kalifornien - hatte umgehend den Weg in die Redaktionen
gefunden, für nur $ 750 pro Kopie! Aber es fand sich keiner sonst, der etwas
Belastendes zu sagen hatte. Brett Barnes und der gleichaltrige Wade Robson,
beide Dauergäste auf Neverland und bei der Haussuchung zugegen, traten tapfer
vor die Fernsehkameras, um sich in ungeschminktem Kinderzorn vor ihren Freund
zu stellen. „Ob er küßt? Yea. So als ob man seine Mutter küßt“, sagt Brett. Hat
er mit ihm in einem Bett gelegen? „Yessir.“ Und wie war das? „Ganz einfach. Er
hat auf der einen Seite geschlafen, ich auf der andern. Es ist ein großes Bett,
wissen Sie.“ Und er fügt hinzu: „Es ist als würde ich ihn mein ganzes Leben
lang kennen, und mein voriges Leben auch.“
Die Ritter-Blaubart-Version hat nicht
lange gehalten. Es blieb bei den Anschuldigungen des dreizehnjährigen Jordan.
Im Laufe eines halben Jahres sei es insgesamt sechsmal zu sexuellen Handlungen
gekommen. Mehr als nur Doktorspiele. Nicht viel mehr zwar, aber immerhin.
Jedenfalls genug, um jemand öffentlich zu ruinieren. Und um ihn ins Gefängnis
zu bringen.
Der „Fall Jackson“ besteht aus zwei
ungleichen Teilen. Da war einerseits eine staatsanwaltliche Untersuchung. Und
da war andererseits eine Medienkampagne, wie sie die Welt noch nicht gesehen
hat, und die war das eigentliche Ereignis; das andere gab nur den Anlass. Die
englische Fernsehanstalt BBC hat über die Medienorgie eine anderthalbstündige
Dokumentation erstellt - The Hunt for
Michael Jackson, „Die Jagd auf Michael Jackson“. Und die wurde prompt ein
Opfer desselben Prozesses, den sie dokumentiert: In Deutschland wurde sie, um
die Hälfte gekürzt, unter dem ‚politisch korrigierten’ Titel „Der Skandal um
Michael Jackson“ in den Dritten Programmen entsorgt...
Michaels einzige Reaktion auf den eben
ausbrechenden Skandal war - die von seinem Anwalt Howard Weitzmann verlesen
lapidare Erklärung, er habe sich „nichts zuschulden kommen lassen“. Doch das
zweite in Bangkok vorgesehen Konzert musste um einen Tag - und dann noch einen
Tag verschoben werden. Mit den Anschuldigungen hatte es angeblich nichts zu
tun. Michael litt lediglich unter „Dehydration“, übermäßigem
Flüssigkeitsverlust wegen der tropischen Hitze in Bangkok. Seine Freundin
Elizabeth Taylor und Schwester Janet waren sofort aufgebrochen, um ihn in
Singapur zu treffen, wo er an seinem Geburtstag ein Konzert gab. Auch hier
musste Tags drauf das zweite Konzert abgesagt werden. Er war unmittelbar vor
dem Auftritt in seiner Garderobe zusammengebrochen. Die Fans verließen bedrückt
und gereizt das ausverkaufte Stadion. Nach einem Gehirn-Scanning im Mount Victoria Hospital sprachen die
Ärzte vom Ausbruch einer lange verschleppten Migräne. Aber die Fans glaubten
sowenig wie die Presse, dass die Ereignisse in Los Angeles gar keine Rolle
spielten. Seit Jahren hatte man über die angegriffene Gesundheit, das seelische
Gleichgewicht des hypersensiblen Stars orakelt. Dass er seine Verteidigung nun
ganz und gar anderen überließ, ohne selber in Erscheinung zu treten - nichtmal
per Video -, das gab zu Besorgnis Anlass.
Doch abgesagt wurde die Tournee nicht.
Und als er dann schließlich wieder auf die Bühne trat, fanden ihn das Publikum
und selbst die Presseleute fast wilder denn je, wie im Trotz: „Er tanzt um sein
Leben!“ Und man will sogar gesehen haben, dass er die Journalisten nicht, wie
sonst, mit zwei gestreckten Fingern, sondern nur mit einem gegrüßt habe... Im
Verlauf der Tour kam es dann aber immer öfter vor, dass Auftritte verschoben
oder abgesagt werden mussten. Als er am 12. September in Moskau zu seinem
ersten Konzert in Russland gelandet war, schleppte er sich mühsam die Gangway
herab, und es sah aus, als wolle er stürzen. Niemand glaubte seinen Ärzten und
Propagandisten, dass er ungebrochen und in kämpferischer Stimmung sei, und
schon beschworen die Medien ungeniert seinen bevorstehenden Selbstmord.
Am unruhigsten waren natürlich die
Fans. Wieso sagte er denn nichts? Warum überließ er kampflos der Sudelpresse
das Feld? Und irgendwie kam das Gefühl auf, nun sei das Phänomen Michael Jackson
zu seiner Vollendung gelangt: So undurchsichtig wie jetzt war er noch nie.
Es passte ja auch alles viel zu gut.
Wer nicht ein einziges Lied von Michael Jackson kannte; wer nicht wusste, wie
er auf seinem Set MTV empfangen kann; wer das Wort Funk noch nie gehört hatte - sie hatten es jetzt alle erfahren:
Michael Jackson war wieder auf Tour! Passend zum Auftakt war Free Willy in die Kinos der Welt gelangt
und war Will You Be There als Single
herausgekommen:
In my darkest hour
In my deepest despair
Will you still care
Will you be there?
In my trials, in my tribulations
Through your doubts and frustrations
In my violence, in my turbulence
In my fear and my confessions
In my anguish and my pain...
Und war er nicht The King Of Hype? Wenn nun das Ganze (man wagt es kaum zu denken)
ein gewaltiger Stunt war, wie ihn nur der größte Star aller Zeiten ausdenken
kann?
Ganz unmöglich, na klar. Aber nicht so
unmöglich, dass man nicht doch einen Moment überlegen müsste.
Und wirklich wurde die Tournee ein
voller Erfolg, die Stimmung war aufgepeitscht, die Konzerte ausverkauft (mit
Ausnahme von Moskau: Dort kostete der Platz ein durchschnittliches
Monatseinkommen, und es hatte seit drei Tagen nicht aufgehört zu regnen !) Der
Plattenverkauf boomte, nichtmal zuhaus in USA verbuchte Billboard
Verkaufseinbußen oder einen Rückgang bei den Sendern. Sony verkündete stolz:
Von Dangerous waren inzwischen 20
Millionen verkauft.
Während die Tour weitergeht, tobt in
Kalifornien der Krieg der Anwälte. Nicht vor Gericht, sondern vor der Presse.
Der „Fall“ scheint von den Medien entschieden zu werden statt von Geschworenen.
Dutzende, hunderte von Reportern waren aus aller Herren Länder nach Los Angeles
geströmt, jeder wollte ein Stück vom Kuchen. Es war die Sternstunde der Yellow Press. So ein dickes Ding hatte
es noch nicht gegeben! Die Erregung war allgemein. Doch den Krieg der Pressekonferenzen
schienen die Jackson-Anwälte zu gewinnen. Dr. Chandler geriet ins Zwielicht und
verlor an Boden. Er musste wieder in die Offensive. Am 14. September machte er
einen Schachzug: Er reichte eine Zivilklage auf Schmerzensgeld ein. In Europa
hinge ein Zivilverfahren von einem vorherigen Schuldspruch durch ein
Strafgericht ab. Nicht so in USA (wie der Fall O. J. Simpson gezeigt hat).
Egal, was die staatsanwaltliche Untersuchung erbrachte - die Eröffnung des
Zivilverfahrens lag in Dr. Chandlers Entscheidung. Das brachte Jackson in eine
Zwickmühle. Denn entweder die Sache kam vor eine Jury und würde monatelang
ausgewalzt; und hätte man ihn tausendmal freigesprochen: Danach war seine
Karriere zu Ende. Oder er ließ sich auf einen außergerichtlichen (d. h. finanziellen)
Vergleich ein. Das sähe aus wie ein Schuldgeständnis: „Er kauft sich frei!“
Eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Man kann nur verlieren.
Jetzt ging der Nervenkrieg erst richtig
los, und wieder waren die Medien am Zuge. Die Yellow Press der fünf Kontinente
nahm die Detektivarbeit selber in die Hand, die Staatsanwaltschaft mußte nur
noch zugreifen. Deutschlands größte Tageszeitung, deren Namen man nicht nennt,
schwankte tagelang zwischen schuldig und nicht schuldig. Es war ihr aber auch
ganz wurscht. Die Frage war doch nur: Was lässt sich länger ausschlachten? Tja,
good news is no news - also schuldig.
Nie wurde eine Untersuchung gründlicher
geführt. Jeder Kieselstein wurde umgedreht, jede Kleinigkeit geprüft, ob sie
sich wohl verwerten ließ. Reporter entdeckten zum Beispiel die Aufzeichnung der
Überwachungskamera in einem Spielzeugladen. Michael Jackson war mit einem
Jungen da, und der hatte sich in ein Luxusstück vergafft. Als Michael ihn
fortschieben will, schubst der ihn unsanft beiseite. Kommentiert der
Psychologe, der das Band auswerten sollte: „Man sieht ein Verhältnis, im dem
das Kind wirkliche Macht hat.“ Verdächtig oder unverdächtig? Je nach Geschmack.
Jedenfalls druckbar.
Und wer immer was erzählen mochte,
wurde erhört. Nur interessant musste es sein. Auch Michaels ältere Schwester
LaToya drängte es vor die Fernsehkameras. Seit ihre Popkarriere gescheitet ist,
lebt sie davon. Zuerst beteuerte sie erwartungsgemäß die völlige Unschuld ihres
kleinen Bruders. Doch ein zweitesmal wollte das keiner hören. Da wechselte sie
die Seiten - und war nun öfter auf der Mattscheibe.
Um phantasielosen Zeugen die Zunge zu
lockern, bot die Presse einfach Geld - Scheckbuchjournalismus. Da war etwa das
ehemalige Hausmädchen, das in Michaels Schlafzimmer ein Foto eines „völlig
nackten“ Jungen gesehen haben wollte - der „lediglich um die Körpermitte von
einem Badetuch bedeckt“ war. Sündhaft wie der Quellekatalog! Da war jetzt auch
LaToya. Die hätte mit eigenen Augen die Schecks gesehen, mit denen Michael jahrelang
das Schweigen entrüsteter Eltern erkauft hat. Wahrscheinlich lagen sie in Hayvenhurst auf dem Küchentisch rum,
aber so genau wollte sich die Schwester dann doch nicht erinnern. Und
schließlich der erwähnte frühere Hausverwalter Quindoy. Der erzählte der Presse
im heimischen Manila, wie er einmal Mr. Jacksons Hand am Höschen eines Jungen
gesehen habe. Da wollte er $ 100 000. Zum Schluss verlangte er eine halbe
Million, aber dafür war die Hand jetzt auch schon in dem Höschen. (Bekommen hat
er nichts.) Man möchte meinen, wer solche Ankläger hat, kann eigentlich nicht
schuldig sein. Die Staatsanwälte zogen jedenfalls vor, auf diese Zeugen zu
verzichten.
Los Angeles hat einen ehrgeizigen
Bezirksstaatsanwalt: Gil Garcetti. Der wollte seinen Prominentenprozess. Wie
jeder Krimifreund weiß: Staatsanwaltschaft ist in den USA ein Wahlamt, und
unter Umständen Sprungbrett für eine politische Karriere. Und im District Santa
Barbara wird dieses Amt von Tom Sneddon versehen, der ein großer Eiferer ist.
Beide haben sie rund vierhundert Zeugen vernommen, darunter dreißig Jungen, die
mit Michael Jackson zusammengewesen waren. Als sie nichts zu erzählen wussten,
hat man ihnen auf die Sprünge geholfen. Das Los
Angeles Police Department ist seit O. J. Simpson für seine unorthodoxen
Beweiserhebungsmethoden berühmt. Sie versuchten's mit Bluff. Michaels Anwalt
Bert Fields alarmierte die Öffentlichkeit, als das L.A.P.D. einigen Jungen weismachen wollte, auf Neverland seien
Nacktfotos von ihnen gefunden worden...
Blieb Jordy Chandler. Mit dem stand und
fiel der „Fall“. Seine Aussagen gingen sehr ins einzelne. Doch das allein
bewies nicht ihre Wahrhaftigkeit. Bis auf einen Punkt: Er hatte Angaben über
Farbveränderungen an Jacksons Haut gemacht, die er nur kennen konnte, sofern die
anderen Aussagen auch zutrafen. Eine Leibesvisitation und - der Fall war
entschieden.
Aber Michael Jackson war immer noch
unterwegs. Israel, Türkei, Teneriffa, Lateinamerika - überall volle Stadien.
Ein Konzert in Südafrika war abgesagt worden - mit einer politischen
Begründung. Und dann wurde der Vorverkauf in Australien gestoppt.
Terminschwierigkeiten, hieß es, aber die Gerüchte um einen Abbruch der Tour
wurden lauter. Und noch immer keine Stellungnahme von Michael Jackson ! Dann im
September ein Auftritt in der Schweiz, der als eine solche gelten konnte und
seine Fans entzückt hat: Völlig unerwartet wurde er im Schweizer Gstaad
gesichtet, wo Liz Taylor ein Chalet hat, in dem er eine Ruhepause einlegte. Und
wen hat er in seiner Begleitung? Zwei kleine Jungens. „Entweder ist seine Gier
unersättlich, oder er hat wirklich ein reines Gewissen“, staunte ein Berliner
Gossenblatt. Es waren zwei längst bekannte Gesichter, die neun- und elfjhrigen
Brüder Eddie und Frank, Söhne des Hoteliers Dominic Cascio, mit dem Michael
seit langem befreundet ist. Sie sind auch dabei, als er einen Monat später in
Buenos Aires den wartenden Reportern eine seltene Probe seines bösen Humors
gibt: Zwischen Gardinen hervor winkt er ihnen mit einem Heft des Magazins Child. Was liest man auf dem Titelblatt?
„Sechsundvierzig lustige Spiele mit Deinem Baby“.
Wieder hatten Konzerte verschoben
werden müssen. Und zwischen den einzelnen Nummern braucht Michael Jackson immer
längere Pausen, lässt sich mit Sauerstoff behandeln. Zwischen seinen Konzerten
in Mexiko-Stadt - insgesamt gut eine halbe Million Zuschauer - muss er sich
einen Backenzahn ziehen lassen und die Nacht im ABC Hospital verbringen. Das fünfte Konzert am 11. November wird
das letzte sein. Die lange befürchtete Krise ist da. Liz Taylor eilt nach
Mexiko. Am nächsten Tag ist Michael Jackson spurlos verschwunden.
Einige Reporter konnten ihre sportliche
Hochachtung für diesen Stunt nicht verhehlen. Von Presseleuten umzingelt wie
keiner zuvor, und zwar von den bösesten ihrer Gattung, ist er ihnen doch
entwischt. Wochenlang blieb er unauffindbar. Das einzige Lebenszeichen: eine
Tonbandbotschaft. Mit zittriger Stimme gibt er den Abbruch der Tournee bekannt.
Es gibt eine Überraschung. Ausgerechnet Michael Jackson bekennt sich als Drogensüchtiger!
Sieben Monate zuvor seien ihm nach einer neuen Operation der Kopfhaut (immer
noch wegen des Pepsi-Unfalls) Schmerzmittel verschrieben worden. Anfangs habe
er sie sparsam genommen. Doch seit Monaten werde ihm nun übel mitgespielt. „Ich
wurde gedemütigt, bedrängt und gekränkt, ich fühlte großen Schmerz in meinem
Herzen. Der Druck dieser falschen Anschuldigungen machte mir solchen Kummer,
dass ich - bei der unglaublichen Energie, die mich meine Auftritte kosten -
physisch und emotional erschöpft war. Ich wurde zusehends von den
Schmerzmitteln abhängig, um die Tage der Tour durchzustehen. Meine Freunde und
Ärzte raten mir, mich unverzüglich in fachliche Behandlung zu begeben, um eine
Abhängigkeit zu beheben, die zur Sucht geworden ist.“ Später hieß es, er habe
zum Schluss täglich eine halbe Apotheke verschluckt; vor allem ein Mittel
namens Percodan habe er wie Bonbons
in sich reingestopft. Die Krise und der Zusammenbruch in Mexiko sei die Folge
einer Überdosis gewesen.
Inzwischen wissen wir, dass er durch
die Vermittlung des Sängers Elton John, den Liz Taylor eingeschaltet hatte, zu
Beauchamps Colclough an der Londoner Charter
Nightingale Klinik in Behandlung kam. Der Mann ist eine Legende. Er hat
selbst alles durchgemacht, was man mit Drogen und Alkohol erleben kann, und
gilt als Wunderheiler. Immerhin hat er Elton John clean gemacht. Und er braucht
immer nur ein paar Wochen. Allerdings sind seine therapeutischen Methoden
radikal.
Die Staatsanwälte, die Chandler-Partei
und der größere Teil der Presse heulten: Er ist geflohen! Er entzieht sich der
Justiz! Er kommt nie wieder nach Amerika! Und auf der Jackson-Seite gärte es.
Katherine Jackson fand schon lange, die Anwälte ihres Sohnes hätten die ganze
Sache verfahren. Nun fand Liz Taylor das auch. Vor allem die große Rolle, die
dem zwielichtigen Detektiv Tony Pellicano im Verteidigungs-Team eingeräumt
worden war, machte ihnen Sorgen. Pellicanos Intimfeind Ernie Rizzo, der auf der
Chandler-Seite gewühlt hat, sagt über seinen Kollegen: „Wenn's da wirklich eine
Erpressung gab, dann leg ich meine Hand ins Feuer: Der hat sich seine Scheibe
abgeschnitten!“
Am 12. Dezember, genau einen Monat nach
seinem Verschwinden, ist Michael Jackson wieder in Amerika - ebenso unverhofft.
Pellicano geht, mit ihm Bert Fields, der Sprecher der Anwaltsgruppe. Und da
begegnen wir John Branca wieder! Er nimmt die Dinge in die Hand und holt den
populären schwarzen Anwalt Johnnie Cochran ins Team.
Am 22. Dezember, den Kindern als
Weihnachtsgeschenk, äußert sich Michael Jackson erstmals öffentlich zu seinem
„Fall“! Vier landesweiten Sendern war eine unzensierte Direktübertragung einer
Live-Ansprache aus Neverland angeboten worden. Aber da fiel ihnen ihr
Berufsethos ein. Eine persönliche Meinungsäußerung, die „nicht zuvor von Journalisten
bearbeitet“ wurde? Nie! Wo führt das hin! Einzig CNN sendet Michaels Rede. Der
Sender gehört Ted Turner, und der ist mit Jane Fonda verheiratet. Michael
Jackson sieht schrecklich aus. Er erwähnt seine Entziehungskur, spricht dann
von den Anschuldigungen: „Diese Behauptungen sind völlig falsch.“ Aber er wird
nicht im einzelnen darauf eingehen: „Meine Anwälte sagen mir, dies sei nicht
der geeignete Ort dafür.“ Dann greift er die „unglaublichen, fürchterlichen
Massenmedien“ an. Das Publikum soll mit seinem Urteil warten, bis es die ganzen
Wahrheit gehört hat: „Behandelt mich nicht wie einen Verbrecher, denn ich bin
unschuldig.“ Und dann erfahren wir, dass Anfang der Woche eine Leibesvisitation
stattgefunden hatte. „Sie zeigten mir einen Gerichtsbeschluss, der ihnen
erlaubte, meinen Körper zu besichtigen und zu fotografieren, sowohl meinen
Penis, mein Gesäß, meinen Unterleib, meine Schenkel als auch jedes andere
Körperteil, das sie sehen wollten. Sie sollen nach Entfärbungen, Flecken oder
andern Anzeichen einer Hautkrankheit namens Vitiligo gesucht haben, von der ich
früher gesprochen habe.“ Ihm kommen vor Wut die Tränen: „Es war die tiefste
Erniedrigung meines Lebens! Es war ein Albtraum, ein grässlicher Albtraum.“ Und
er schließt mit einer erneuten Beteuerung seiner vollkommenen Unschuld. Die
Rede hat vier Minuten gedauert. Es war der Auftritt seines Lebens.
Blitzumfragen am nächsten Tag zeigten: Dreiviertel der Zuschauer glaubten ihm.
Es waren weniger seine Worte, die sie überzeugten, als sein Vortrag. Man nimmt
ihm die Empörung ab, man fühlt ihm die Demütigung nach. Zwar schrieben
dieselben Blätter, die ihm anlässlich von Moonwalker
jegliches Talent abgesprochen hatten: er sei eben ein guter Schauspieler. Doch
die allgemeine Stimmung war umgekippt.
Umso größer die Ernüchterung, als am
25. Januar 1994 die Anwälte der Chandler- und der Jackson-Partei gemeinsam vor
die Presse traten: Jackson zahlte eine nicht näher bezeichnete Geldsumme, und
die Chandler-Seite erhob von Stund an keinerlei Vorwürfe mehr. Die Fans waren
vor Schreck erstarrt. „Na also!“ frohlockte die Presse. Er kaufte sich frei!
Man muss nur reich sein, dann kann man sich alles erlauben... (Als ob sie eine
Zeile über ihn verloren hätten, wäre er arm gewesen.) Es schien überhaupt nur
eine Interpretation möglich: Der Deal war ein Schuldeingeständnis. Ebenso
plausibel war zwar diese Deutung: Der Erpressungsversuch war, dank freundlicher
Beihilfe der Weltpresse und der kalifornischen Justizbehörden, geglückt. Aber
das fiel niemand ein. „Wieso zahlt er, wenn er nichts zu verbergen hat?“ Oder
aber: Wie wahr ist eine Wahrheit, die man kaufen kann? Und welche dieser beiden
Fragen man zu stellen vorzog, hing davon ab, welche Antwort man bereits gegeben
hatte.
Anderthalb Jahre später, als er mit
Ehefrau Lisa Marie gemeinsam ein Interview gibt, hat sich Michael Jackson
selbst dazu geäußert. „Ich wollte die Sache zu einem Ende bringen. Meine
Anwälte haben mir gesagt, das könne sich sieben Jahre lang hinziehen.“
Tatsächlich ist Kalifornien dafür berüchtigt, dass dort alle Gerichtsverfahren
dreimal solange dauern wie anderswo in der Vereinigten Staaten; der Fall
Simpson war auch dafür ein Beispiel. Das Simpson-Strafverfahren wurde ein
Dreivierteljahr live im Fernsehen übertragen. Und als er freigesprochen war, fing
der Zivilprozess überhaupt erst an. Nun wurde er verurteilt: viele Millionen...
Aber Michael Jackson ist unvergleichlich reicher! Umso länger der Prozess.
(Tatsächlich wurde der Simpson-Fall in der amerikanischen Öffentlichkeit als
ein Ersatz für der ausgefallenen Jackson-Prozess angesehen. Es standen sich
auch dieselben Protagonisten gegenüber - hier Gil Garcetti und das L.A.P.D., da Johnnie Cochran und - als
Zeuge - Howard Weitzmann.)
Es war eine Wahl zwischen Pest und
Cholera. Was wog schwerer: Der momentane schlechte Eindruck des Vergleichs,
oder die Verheerungen eines monate- und jahrelangen Gerichtsverfahrens? Nicht
einmal die Fans sind unkaputtbar. Manch eine, die jahrelang jeden Schnipsel
ausgeschnitten hatte, wagte morgens nicht mehr, die Zeitung aufzuschlagen aus
Furcht, es könne schon wieder was über ihn drinstehen. Und das schon nach vier
Monaten !
Es war auch nicht mehr nur die Frage,
ob er sich künftig in den Charts ein bisschen weiter oben oder ein bisschen
weiter unten plazieren würde. Der Fall Jackson war längst zum Politikum
geworden. Und zwar an der heikelsten Stelle - der Rassenfrage. Ob man ihn für
schuldig oder unschuldig hielt, wurde nämlich wie später bei O. J, zu einer
Sache der Hautfarbe. Seit der Reagan-Ära haben sich die Beziehungen zwischen
den Volksgruppen in den USA wieder rapide verschlechtert. Auf allen Seiten
herrscht Gereiztheit. So wie Michael Jackson von weißer Seite zusehends
geschmäht wurde - schließlich ist der berühmteste Amerikaner ein Afrikaner -,
so verteidigten ihn die Schwarzen. Louis Farrakhan, der Führer der Black
Muslims, der selber des Rassismus bezichtigt wird und der seine schwarzen Jungs
immer vor der cissy Michael gewarnt
hatte, trat jetzt auf seine Seite und ließ ihn von seiner Leibgarde schützen ! In
seinem ganzen Leben war Michael Jackson dem Rassismus nicht selber begegnet.
Nicht in Gary. Da waren sie alle schwarz. Bei Motown auch. Und später war er
der Megastar, den alle hofierten. Seit seinem „Fall“, sagt Quincy Jones, könne
er mit Michael Jackson nun sogar über das Rassenproblem reden. Aber er selber
durfte doch nicht zum Gegenstand des Rassenkampfs werden! Da hätte er auch
gleich ganz aufhören können.
Die Umfragen zeigten, dass 55% der
Zuschauer der Meinung waren, der Vergleich schade seiner Glaubwürdigkeit. Aber
69% fanden, er solle seine Karriere fortsetzen. Der Vergleich war das kleinere
Übel.
Ein Beispiel für das, was uns sonst
geblüht hätte, brachte noch ein Jahr später, im August 1995, das Klatschmagazin
Dateline auf NBC. Eine gewisse Maureen
Orth, Journalistin bei Vanity Fair,
vom Scheitel zur Sohle jeder Zoll Entrüstung, hält triumphierend ein Dokument
in die Kamera: Es ist das Originalprotokoll der staatsanwaltlichen
Leibesvisitation! Kein Wort darüber, wie die Sauberfrau in seinen Besitz
gelangt ist, und dass es sich nur um eine Straftat handeln kann, die wenigstens
soviel Gefängnis wert ist wie das, was Michael Jackson vorgeworfen wird. Der
hatte im Fernsehinterview gesagt, die Ergebnisse der Untersuchung hätten in
keiner Weise mit den Angaben des Jungen übereingestimmt (didn't match at all). „Lüge!“ Die Kamera fährt groß auf den Text
zu: A dark blotch, „einen dunkeln
Fleck“ hat er an dem bewussten Körperteil. Jetzt wissen Sie's! Dateline und Frau Orth können sicher
sein: Kaum einer von hundert Zuschauern weiß, dass der Junge von pink-white blotches, „weiß-rosa Flecken“
geredet hatte. Quasi ein Unschuldszeugnis für den Angeklagten - aber verheerend
für den Star.
Und das war noch gar nichts. Der
Herausgeber des National Enquirer
erzählt der BBC, ihm seien sogar jene
Polizeifotos angeboten worden - für 3 Millionen Dollar. „Was soll ich damit?
Ich kann sie ja doch nicht drucken!“ Wenn es aber zum Prozeß gekommen wäre -
wer weiß.
Die Staatsanwälte hatten keinen Zeugen
mehr. Aber sie wollten nicht aufgeben. Sie suchten weiter. Aber sie fanden
nichts, das sie verwerten konnten. Am 21. September 1994 - ein Jahr und einen
Monat nach Beginn des Falls - verkündeten Gil Garcetti und Tom Sneddon, dass
sie keine Anklage erhoben und die Ermittlungen aussetzten.
Die Medien haben ihr Fest gehabt: Das
größte Spektakel der Geschichte. Und dass die Sache ungeklärt bleiben muss,
passt ihnen gut. Michael Jackson bleibt ihnen erhalten, und sie haben ein
Gerücht mehr im Repertoire. Außer Spesen nichts gewesen - aber davon reichlich.
Bleibt die Frage: Was bringt einen
dreizehnjährigen Jungen dazu, seinen besten Freund so schwer zu belasten? Das
amerikanische Magazin GQ hat in
seiner Ausgabe vom Oktober '94 eine Antwort gefunden. Anlässlich einer
Kieferbehandlung am 16. Juli '93 habe Dr. Chandler seinem Sohn von dem
befreundeten Anästhesisten Mark Torbiner das Barbiturat Sodium Amytal injizieren lassen. Intravenös verabreicht, habe es
eine hypnotische Wirkung. „Mit der Droge können Patienten falsche Erinnerungen
eingepflanzt werden, allein durch die Art der Fragen.“ - Eine unglaubliche
Geschichte, nicht wahr? Oder doch nicht. Denn dass er seinen Sohn die
peinlichen Fragen gestellt habe, als er nach dem Zähneziehen aus der Narkose
erwachte, wissen wir von Dr. Chandler selbst.
*
Ja, und wenn doch ?
Der Junge war dreizehn. Die Geschichte
soll ein halbes Jahr gewährt haben. Von Zwang der einen oder andern Art war
nicht die Rede. Und schließlich - unzufrieden kann er nicht gewesen sein, dafür
waren seine Aussagen zu spezifisch.
Aber eigentlich ging es in der Kampagne
gar nicht um das, was Michel Jackson getan hat oder nicht. Es ging um das, was
er getan haben könnte. Es ging um seine Neigung. Liebt er Kinder oder liebt er
Knaben? Und wenn letzteres - war er dann als Künstler erledigt? Verdiente er es
länger, größter Star aller Zeiten zu sein? Ja durfte er überhaupt noch einen
öffentlichen Platz in Anspruch nehmen?
Männer, denen das Herz nicht nach
Frauen, sondern nach Knaben steht, hat es immer gegeben. Die öffentliche
Meinung über die Knabenliebe war aber nach Ort und Zeit höchst verschieden.
„Eine ganze Reihe Lokrer [Griechen] erhängte sich um spröder Knaben willen. Die
griechische Knabenliebe ist noch wenig begriffen“, schrieb der deutsche
Philosoph Hegel, der selbst eher ein Philister war. „Es liegt eine edle
Verschmähung des Weibes darin und deutet darauf, dass ein Gott neu geboren
werden sollte.“ Die kultisch-aristokratische Päderastie im klassischen
Griechenland war sicher ein Extrem in der Kulturgeschichte. Aber ihre sexually correcte Ächtung in den Ländern
des protestantischen Westens ist es auch. Zwar kann man sich die Kultur, in die
man hineingeboren wird, genausowenig aussuchen wie Familie, Hautfarbe und
Nation. Aber darum muss man ja noch nicht mit den Wölfen heulen. Nüchternheit
kann auch hier nicht schaden.
Zumal in der Perhorreszierung der
Knabenliebe in unsern Tagen nicht nur die Sorge um die Unversehrtheit der
Kinder durchklingt. Das ist ein Gesetz der mediatischen Gesellschaft: Vieles,
was unausgesprochen bleibt, wiegt schwerer als was gesagt wird.
Die Liebe ist eine Leidenschaft. Das
heißt, sie kostet unsere Freiheit. Seine Freiheit verscherzen um kleiner
Jungens willen? „Wie albern. Wie unmännlich!“ - Ja, aber das wäre ein
Geschmacksurteil; kein moralisches. Und dass es eine hohe Achtung vor „dem
Kinde“ ausdrückt, kann man nicht gerade sagen.
Mit andern Worten: In der Jagd auf
Michael Jackson war viel Bigotterie. Sie war sogar ihre Triebkraft. Das
Interesse, an der Spitze des Showgeschäfts Platz zu schaffen für die
Konkurrenz, spielte nur nebenher.
Zugleich ist nämlich Sex mit Kindern
ein Tabu, das tagaus tagein lärmend gebrochen wird. Er ist seit Jahren das, was
uns am Kind am meisten bewegt. Das Kind ist interessant wie nie zuvor. Aber es
verkehrt sich unter unserem Blick aus dem Inbegriff des Harmlosen in einen
sexuellen Fetisch, in dessen Nähe nichts Unschuldiges mehr denkbar ist.
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