Ein hochmusikalischer Bub von
zwölf Jahren ist ein
vollgültiger Künstler.
Nikolaus Harnoncourt
Der
kulturelle Umschlagplatz zwischen Europa und Amerika sind die britischen
Inseln. Über England war die schwarze Musik Anfang des Jahrhunderts nach
Frankreich und Deutschland gekommen. Hier fand der Soul, vor allem in seiner „nördlichen“
Variante, ein solides Milieu von Jazz- und Blues-Freunden vor. Englands Jugend
war in die verfeindeten Lager der Rocker und
der Mods gespalten, und bei
letzteren, den „moderaten“ Liebhabern des Sanften und Raffinierten, fand Motown
rasch seine Abnehmer; genug, um eine eigene britische Filiale eröffnen zu können.
Der große Einfluß, den The Sound Of Young
America auf die Entwicklung der europäischen Unterhaltungsmusik nahm, ist
dokumentiert in den zahlreichen cover-Versionen, die in ihren Anfangsjahren
sowohl die Beatles als auch die Rolling Stones von Motown-Titeln
gespielt haben - nicht nur live im Konzert, sondern auch auf Platte. (Ein cover nennt man die Neuaufnahme eines älteren,
schon erfolgreichen Stücks durch neue Interpreten.) Beide Gruppen, die seither
selber Musikgeschichte gemacht haben, verstanden sich am Anfang als
R&B-Musiker. „Ursprünglich haben wir nur das gespielt, was uns gefiel, nämlich
Rhythm& Blues“, erzählt Mick Jagger, und die Beatles gingen sogar mit den
Motown-Stars gemeinsam auf Tournee, wenn sie aus Amerika herüberkamen. Smokey
Robinson erinnert sich: „Sie achteten uns nicht nur, sie bewunderten uns
richtig. Und wenn sie von den Reportern nach ihren Einflüssen gefragt wurden,
dann schwärmten sie jedesmal von Motown.®
Zurück
zum Sommmer 1968. Schon drei Tage nach ihrem Besuch im Hitsville, USA-Studio wurden die Jacksons nach Detroit zurückbeordert.
Ralph Seltzer wartete mit dem Vertrag. Ohne ihn lange zu studieren,
unterschrieb Joe. (Wenige Jahre später sollte er diese Hast bereuen. Er hätte
wissen können, daß Berry Gordy nicht im Ruf besonderer Großzügigkeit stand.)
Die Jackson-Brüder gingen zunächst einmal weiter zur Schule, wie bisher, aber
statt ihre Wochenenden auf der Wanderschaft von einer Bühne zur andern zu verbringen,
fuhren sie jetzt regelmäßig zu Aufnahmesitzungen nach Detroit. Doch Monate
gingen ins Land, ohne daß eine Schallplatte zustandekam. Mr. Gordy war einfach
nicht zufriedenzustellen. Was immer die Jackson 5 ablieferten, wurde zurückgewiesen.
Freilich, darauf gründete ja der Erfolg von Motown: daß Berry Gordy keine
halben Sachen machte. Er war ein Perfektionist, und ehe er nicht absolut,
wirklich absolut von einer Aufnahme überzeugt war, kam sie nicht auf den Markt.
Aber diesmal kam noch etwas hinzu. Es stand nicht nur für die Jackson-Familie,
sondern auch für Motown viel auf dem Spiel.
Seit
einem Jahr bereits betrieb Gordy den Umzug seiner Firma aus der Motorstadt ins
warme Kalifornien! Eine der größten Plattenfirmen, das größte Geschäftsunternehmen
in schwarzer Hand - das war für seinen Ehrgeiz nicht genug. Er wollte einen
Medienkonzern schaffen. Und dazu mußte er nach Hollywood. Aber das war riskant.
Das Image - nein, der Ruhm Motowns stand auf dem Spiel. Wenn man sich so
herzlos von seinen Wurzel losriß, mußte man schon mit etwas Besonderem
aufwarten; Motown mußte einen act
kreieren, der den Umzug nach Los Angeles glaubhaft verkörpern konnte. Da kamen
die Jackson 5 gerade recht.
Eine
Kinderband, das war mal was anderes, aber ganz einmalig war es nicht. Doch eine
Kinderband, die das Zeug zur Nummer Eins hatte - das gabs noch nie! „Michael
war der geborene Star, ein Naturereignis“ - das konnte Berry Gordy auf den
ersten Blick erkennen. Motown war nicht nur die große Chance der Jackson 5,
sondern die Jackson 5 waren auch eine große Chance für Motown. Freilich die
letzte, aber das ahnte damals keiner.
Am
allerwenigsten die Familie Jackson. Sie saßen wie auf glühenden Kohlen. Da
waren sie nun endlich an ihrem heißersehnten und mit harter Arbeit wohlverdienten
Ziel angelangt - dem Plattenvertag mit Motown; und dann wollte einfach nichts
zustandekommen! Sollte etwa der Vertrag platzen, bevor er noch wirksam wurde?
Im Haus 2300 Jackson Street, das nie ein Hort des Friedens gewesen war, wuchs
die Spannung. Joe wurde noch gewaltsamer als sonst.
Ein
ganzes Jahr harter, aber ergebnisloser Arbeit. Dann wurde es Berry Gordy zu
bunt. Nein, er löste den Vertrag nicht, ganz im Gegenteil. Er beschloß
vielmehr, die Dinge selber in die Hand zu nehmen, und befahl den Jacksons, zu
ihm nach Hollywood zu kommen. Am 9. August 1969 trafen sie in Los Angeles ein.
Zwei Tage drauf sollte eine Begrüßungsfeier im Daisy stattfinden, einer Disco, die in Beverly Hills gerade in Mode
war. Es wurde ein großer Empfang - denn Motowns Zugpferd Diana Ross hatte alle
eingeladen, die in der Branche Rang und Namen hatten.
Auf
den Einladungskarten stand zu lesen: „Die Jackson Five mit dem sensationellen
achtjährigen Michael Jackson werden live auftreten.“ Die fünf Brüder waren
perplex, am meisten der Kleinste, der in knapp drei Wochen seinen elften
Geburtstag haben sollte. Kaum einen Tag in Hollywood, hatten sie eine erste
Lektion zu lernen. Motown sollte sie in den kommenden Jahren alle um zwei Jahre
jünger machen: Das war gut für die Publicity. Und um auch gleich die erwünschte
Aufmerksamkeit auf seinen neuen top act
zu lenken, setzte Mr. Gordy die Legende in die Welt, die Kinderband sei von
Diana Ross durch einen reinen Zufall, nämlich bei besagter
Wahlkampfveranstaltung für den Bürgermeister von Gary entdeckt worden. Das hieß
zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Einerseits wurde der neue, noch
unbekannte Name öffentlich mit einem schon berühmten alten assoziiert. Und
andererseits wurde so das Image von Diana Ross, die sich gerade anschickte,
eine Solokarriere zu starten, aus der engen Verbindung mit The Supremes gelöst, mit denen sie bislang identifiziert worden
war.
Die
Jackson-Brüder würden sich schon bald daran gewöhnen müssen: In der Traumfabrik
Hollywood interessiert nicht, ob etwas stimmt, sondern wie es sich anhört. Wenn
aber Legenden ein wirkliches Geschäft begründen können, werden sie selbst zu
einem Teil der Wirklichkeit - und werden „in einem gewissen Sinne“ wahr: Seit
dem Aufstieg des Showbusiness zu einem mächtigen Industriezweig ist der
Unterschied zwischen Schein und Sein nicht mehr so eindeutig, wie man vorher
glaubte.
Die
Empfangsparty wurde ein überwältigender Erfolg. Gordy hatte das Publikum
vorsichtshalber mit den Angestellten von Motown durchsetzt, aber das wäre gar
nicht nötig gewesen. Die Gäste gerieten ganz aus dem Häuschen, und am nächsten
Tag überschlug sich die Presse vor Begeisterung. Dem Aufstieg der Jackson 5 zum
top act stand seitens des Publikums
offenbar nichts im Wege. Jetzt mußte nur noch die richtig Platte gemacht
werden.
Berry
Gordy hatte den fünf Jungen enthusiastisch versprochen, er werde ihre drei
ersten Platten zu Number-One-Hits machen,
und zu Michael sagte er: „Aus dir mach ich das dickste Ding der Welt“ - I gonna make you the biggest thing in the
world! Doch ohne gute Lieder war nichts zu machen. Das Geheimnis von
Motowns Erfolg beruhte zur Hälfte auf Gordys fast übernatürlichem Gespür für künftige
Hits und für künftige Stars. Die andere Hälfte war die absolute Professionalität
seiner Produktionsmaschine. Beides spielte ineinander. Die Maschine produzierte
pausenlos, und wenn ein Stück Gordy im Ohr klingelte, dann wurde nach allen
Regeln der Kunst und des Handwerks so lange daran gebastelt, bis es ein Erfolg
werden mußte. Und der Boss hatte sich
nur selten geirrt.
Motowns
erfolgreichste Hitlieferanten der sechziger Jahre waren das legendäre Trio aus
den Brüdern Brian und Eddie Holland sowie Lamont Dozier gewesen. Aber sie
hatten die Firma 1967 im Unfrieden verlassen (wie es übrigens alle Motown-Stars
früher oder später taten). Umso wichtiger wurden die Jackson-Brüder für Berry
Gordy: Soviel Neuanfang bei Motown mußte mit einem Paukenschlag gefeiert
werden, um ihn dem Publikum glaubhaft zu machen. Vom gelungenen Einstieg der
Jacksons hing zu viel ab, als daß Gordy dem Zufall eine Chance lassen konnte.
Das hatte er noch nie getan - und diesmal schon gar nicht. Nichtmal die
Interpreten selbst hatte Gordy von seinem Perfektionismus ausgespart. Auch an
ihnen wurde so lange geputzt und poliert, bis sie hundertprozentig in das Bild
paßten, das Gordys Fachleute für sie entworfen hatten. Zu diesem Zweck hatte
Motown eine eigne Abteilung unterhalten, die Artist Development Division, ebenso legendär wie Motown selbst.
Hier wurden die Künstler nicht nur gestylt, sondern sie bekamen ihren letzten
Schliff; Stimmbildung, Gesangsunterricht, Bühnenchoreographie, aber auch gute
Manieren, Interviewtechnik und alles, was sonst noch zum Showbiz gehört... Doch
auch Artist Development war anläßlich
der Umzugs von Detroit nach Los Angeles, der sich insgesamt von 1967 bis 1972
hinzog, abhandengekommen. Für die Jacksons wurde, angesichts ihrer großen
Bedeutung für die Firma, eine individuelle Betreuung beschlossen, und Gordy übertrug
sie seiner damals erst vierundzwanzigjährigen Assistentin Suzanne de Passe.
Doch
viel wichtiger für den gerade elfjährigen Michael: Zum erstenmal ist er von
seinen Geschwistern und von seinem brutalen Vater getrennt! Die Jackson-Familie
war ohne Wohnung in Los Angeles, und bis etwas Passendes gefunden wurde, sollte
viel Zeit vergehen. Die Mutter und die Schwestern waren mit dem kleinen Randy
in Indiana geblieben, das dortige Haus mußte verkauft werden, aber es war ja
noch gar nichts entschieden... Joe und die älteren Brüder wohnten einstweilen
bei Gordy in dessen großem Haus in Hollywood, der jüngste der Jackson 5 kam
aber zu Diana Ross, nur ein paar Hausnummern weiter unten.
Auf
einmal stand die Welt Kopf für den kleinen Negerjungen aus den ärmlichen Verhältnissen
in der kalten Industriestadt am Michigan-See. „Alles war so neu und aufregend für
mich. Es war, als hätte sich die Welt in einen wundervollen Traum verwandelt“,
schwärmt Michael rückblickend in Moonwalk;
„ich war damals nicht zu bändigen.“ Südkalifornien im Winter - sanfter,
sonniger, freundlicher als Gary im Hochsommer. Disneyland, Sunset Strip, das Meer – „Jeder Tag war anders!“ Ganz anders
jedenfalls als das bisherige Leben der Jackson-Brüder, das nur aus Entbehrung
und rastloser Arbeit bestanden hatte; „tagein, tagaus proben“! Selten mal etwas
Ruhe, noch seltener ein fröhlicher Augenblick, aber immer - die Furcht vor dem
grausamen Vater. Anderthalb Jahre sollte Michael bei Diana wohnen. Aus dem
wenigen, was Michael Jackson bislang über sein Leben zu erzählen bereit war,
klingt durch: Das war der einzige glückliche Abschnitt. „Es war eine rauschende
Zeit.“
Diana
Ross stand gerade auf jenem Höhepunkt einer Karriere, den man im Rahmen einer
Gruppe erreichen kann. Mit dem Trio The
Supremes war sie an die Spitzen der Charts vorgerückt und zum Flaggschiff
von Motowns Crossover-Sound geworden. Aber auch privat stand sie bei Berry
Gordy ganz obenan. Wie so viele seiner Stars, hatte er sie selbst entdeckt, gefördert
und aufgebaut. Dabei waren sie sich menschlich näher gekommen, als es fürs
Gordys Ehe gut war. Aber es war eine stürmische Beziehung, das wußte jeder bei
Motown. Der kleine Michael bekam es jetzt auch mit. Zugleich nahm er sich die
Rolle der guten Fee, die Diana öffentlich für ihn und die Jackson 5 zu spielen
hatte, sehr zu Herzen. Sie war die erste schwarze Schönheit, die auch weiße Männer
zum Träumen brachte, und den kleinen Michael erinnerte sie an seine eigne,
daheim zurückgelassene Mutter, „als sie noch jünger war“. Sie ging mit ihm in
Museen und brachte ihm die Malerei näher, in der sie sich selbst versuchte. Bei
ihr begann Michael zu zeichnen (und macht es bis heute nicht schlecht). „Sie
war zugleich meine Mutter, meine Geliebte und meine Schwester - vereint in
einer einzigen, aufregenden Person.“
Aber
nicht zum Zeichnen und Schwimmen hatte ihn Berry Gordy nach Beverly Hills
geholt. Endlich war auch ein passender Song gefunden worden. Nach dem Weggang
von Holland-Dozier-Holland war bei Motown eine neues Komponisten- und
Produzenten-trio am Werk, bestehend aus Freddy Perren, Fonze (Alfonso) Mizelle
und Deke Richards, die so erfolgreich wurden, daß sie sich unter der Firma The Corporation ins Handelsregister
eintragen ließen. Für Gladys Knight and
The Pips hatten sie I Want To Be Free
verfaßt, aber Gordy ließ es für die Jackson-Jungens in I Want You Back umschreiben. Fieberhaft arbeitete The Corporation
mit den fünf Jungen, und nach zwei Dutzend Aufnahmen waren sie so zufrieden, daß
das Ergebnis dem Boß vorgespielt wurde. Der hängte noch ein halbes Dutzend
Aufnahmen dran, und dann gab auch er sein OK.
Es
war höchste Zeit. Am 18. Oktober 1969 hatten die Jackson 5 ihr Fersehdebüt -
bei ABC in der Sen-dung Hollywood
Palace, und bei der Gelegenheit wurde I
Want You Back vorgestellt. Gleichzeitig kam die Single in die Läden. Berry
Gordy behielt recht: In der vierten Januarwoche des Jahres 1970 war I Want You Back die Nummer eins der
Billboard Charts - Pop und Black gleichermaáen.
Rechtzeitig
fürs Weihnachtsgeschäft war eine erste LP auf die Ladentische gekommen, Diana Ross presents The Jackson Five.
Auch sie wurde Nummer eins in den Pop- und den Black Charts. Als Produzent
zeichnete Bobby Taylor, dessen Anteil an Motowns Neuentdeckung doch nicht ganz
ungewürdigt blieb. Und am 14. Dezember traten die fünf Jungen aus Gary, Ind. in
der Ed Sullivan Show auf. Das war der Adelsschlag des Showbiz, denn es war Ed
Sullivan, der nicht nur Elvis Presley, sondern auch die Beatles einem
nationalen Publikum vorgestellt hatte. Diana saß mit den Supremes im Saal und ließ sich von Sullivan zur Entdeckung der
Jackson-Brüder gratulieren: „Sie sind wirklich umwerfend! Besonders der kleine
Kerl da vorn ist unglaublich.“ Das war der Durchbruch.
Im
Februar folgte die zweite Single, ABC. Die
erste hatte mit Worten wie „Oh Baby, gib mir nochmal eine Chance! Ach laß mich
doch zurück in dein Herz!“ im Mund eines eben Elfjährigen etwas eigenartig
geklungen, doch die Nummer zwei war ganz auf ein Publikum abgestimmt, das so
alt war wie die Künstler selbst... Musikalisch war sie eigentlich nur eine
Variante der ersten, doch deren Erfolg war groß genug, um diesen Abklatsch noch
zu vertragen. In der vierten Aprilwoche war ABC
Nummer eins bei Billboard. Und das war mehr als nur ein Erfolg. Das war fast schon
ein historisches Ereignis; denn das Lied, das ABC vom ersten Platz verdrängte, war kein anderes als Let It Be von den Beatles! Die hatten
damit gerade einen Rekord aufgestellt: Mit Let
It Be waren sie auf Anhieb auf Platz 6 in den Top 100 bei Billboard
eingestiegen - das hatte es noch nie gegeben! Es sollte exakt ein Vierteljahrhundert
dauern, bis ihr Rekord gebrochen wurde. (Und ahnen Sie, lieber Leser, von wem?)
Und
gleich noch einmal mußten die fabelhaften vier Liverpooler den Jungens aus
Gary, Ind. weichen: In der letzten Juniwoche verdrängte die Single The Love You Save aus dem ABC-Album den Beatles-Hit Long And Winding Road vom ersten Platz.
- Wenn man heute die beiden ersten Alben der Jackson 5, die längst als CD
vorliegen, wieder anhört, ist man nicht ganz sicher, was ihren Erfolg damals
begründet hat. Es ist Musik für teenyboppers,
die allerjüngste Käufergruppe, alles ziemlich schnell, die Begleitung liegt
fast ganz bei der Rhythmusgruppe, aber artig und gepflegt. Es ist bubblegum soul - so genannt nach der
bevorzugten Kaugummimarke dieses Publikums. Es schmälert die Leistung der fünf
Jungen nicht, wenn man die Wandlungen des Zeitgeists erwähnt, die ihren Erfolg
ermöglicht haben. Vom 15. bis 18. August, eine Woche nach der Ankunft der
Jackson 5 in LA, hatte in Woodstock im Staate New York das größte Rockkonzert
aller Zeiten stattgefunden - der Höhepunkt der Hippie-Kultur der sechziger Jahre. Aber, wie sich zeigen sollte,
auch ihr Schlußpunkt. In der Nacht, als die Jungens bei Berry Gordy eintrafen,
fand zwei, drei Meilen weiter weg ein Verbrechen statt, das damals kaum weniger
Beachtung fand, als das Rockfestival an der Ostküste, nämlich die Ermordung der
Schauspielerin Sharon Tate durch Anhänger der Teufelsanbetersekte von Charles
Manson. Das anständige Amerika war entsetzt. Das also waren die Folgen der
Sex-, Drogen- und Rock'n'Roll-Bewegung!
Das
Bild der Jacksons als einer sauberen, adretten und wohlerzogenen Großfamilie,
die sich aus eigener Kraft von ganz unten nach weit oben gearbeitet hatte,
entsprach haarscharf den traditionellen Werten des „amerikanischen Traums“. Und
doch verkörperten sie nicht einfach die gesellschaftspolitische Reaktion und
eine bloße Wendung nach rückwärts: Sie repräsentierten den Fortschritt, denn
sie waren - schwarz. Sie waren die Zukunft - aber ganz harmlos! Ihr Erfolg war
der Beweis, daß die Integration der „Afro-Amerikaner“ in die weiße Gesellschaft
auf guten Wegen war - und daß sie nicht der Unordnung, der Ungesetzlichkeit,
des Aufruhrs bedurfte, sondern auf den bewährten W-gen des amerikanischen
Mittelstandes voranschritt: Bildung und
Eigentum! Darauf hin hatte Berry Gordy das Erscheinungsbild der Jackson 5
getrimmt, und vor allem die Legende von ihrem liebevollen, behüteten
Familienleben war so wesentlich für den Erfolg, daß eigentlich alle daran
glaubten; beinah auch sie selber.
Der
harmlose, fröhliche, unbeschwerte Klang des Bubblegum Soul der Jackson 5 traf
den Nerv der Zeit. Musik für die ganze Familie, das konnten Mummy und Daddy im
Fernsehen bedenkenlos mit ihren Kindern angucken. Aber ein Zeitbedürfnis kann
sich schnell ändern. Es ist wie Sand, auf den man nicht bauen kann. Gordy
wollte etwas Dauerhaftes. Die Kinderband mußte zeigen, daß sie mehr konnte als
nur Unterhaltung für Gleichaltrige (und ihre Eltern).
The Corporation hatte gehalten, was
Gordy versprochen hatte - drei Nummer-Eins-Hits in Folge, gleich zu Beginn. Das
war bereits ein Rekord. Doch nun nahm der Boß die Dinge abermals selbst in die
Hand. Gordy bastelte eine langsame Ballade mit viel Gefühl, bei denen die
unverbrauchten Stimmen des elfjährigen Michael und des fünfzehnjährigen
Jermaine so recht zur Geltung kamen. Ein Liebeslied mit Herz und Schmerz aus Kindermund
- konnte das gutgehen? Bei Motown war man sich einig: Das mußte ein Flop
werden. Aber wer durfte dem großen Boß widersprechen?
Am
19. Mai hatten die Jackson 5 im Los Angeles Forum ihr erstes öffentliches
Konzert als Motown-Truppe gegeben, vor 18 000 Zuschauern, es war zu Tumulten
gekommen, Mädchen fielen in Ohnmacht wie letztmals 1965 beim Besuch der Beatles
in Hollywood Bowl. Da war Gordy
seiner Sache sicher. Im August kam ihre vierte Single auf den Markt. I'll Be There wurde zum grӇten Erfolg,
den die Jackson 5 je hatten. Der drittgrößte Hit in Motowns ganzer Geschichte.
In der letzten Septemberwoche ist es so weit: Die vier ersten Singles waren
Number-One-Hits in den Billboard-Charts geworden. Berry Gordon hatte sein
Versprechen überboten. Und wieder war Motowns charakteristisches
Crossover-Rezept aufgegangen: Nummer-Eins-Hits in den Pop- und den Black-Charts
zugleich!
Zum
erstenmal begegnet uns in I'll Be There
aber auch jene beunruhigende Mehrdeutigkeit, die den kleinen Michael sein Leben
lang begleiten soll - und in der wohl das Geheimnis seines Welterfolges liegt.
Es ist ein Liebeslied. Ein Junge schwört seinem Mädchen ewige Treue: Wherever you need me - just call my name,
and I'll be there; wo immer du mich brauchst - ruf nur meinen Namen, und
ich bin da. Aber es ist ein kleiner Junge, der da singt, und ein größerer
Junge, der ihm antwortet, die Stimmen sind voller Ausdruck, aber sie sind
durchsichtig und knabenhaft spröde, sie passen nicht zum Text! Man kann also I'll be there auch als eine Hymne auf
die Bruderliebe hören, wenn man will. Man kann es überhaupt so hören, wie man
will, es steht nichts fest. Nur eines kann man nicht: man kann es nicht wörtlich
nehmen.
You
and I must make a pact
We
must bring salvation back
Just
call my name
And
I'll be there.
I
reach out my hand to you
I'll
have faith in all you do
wherever
you need me
I'll
be there.
1992
brachte Mariah Carey bei Motown ein Remake von I'll Be There heraus, das ebenfalls auf Platz eins gelangte. Was
man sonst auch von der Aussagekraft ihrer Stimmakrobatik halten mag: Die neue
Eindeutigkeit bekommt dem Lied jedenfalls nicht. - Auch Michael Jackson singt
das Lied - übrigens als einzigen Titel aus seiner Kinderkarriere - noch heute
auf seinen Tourneen. Aber bei ihm ist es kein bißchen eindeutiger als damals:
Ist es der große Jacko, der da singt - oder immer noch Little Michael von den
Jackson5?
Berry
Gordy hatte seine Wette gewonnen, das nächste Album - schlicht Third Album betitelt - hatte auf der
A-Seite nur seelenvolle langsamere Stücke, darunter ein beachtliches Cover von
Simon & Garfunkels Superhit Bridge
Over Troubled Water, das Jermaines Stimme noch einmal voll zur Geltung
brachte. Abgeschlossen wurde die A-Seite von einem heißen Tanzstück, das zur
flotteren B-Seite überleitete, Goin' Back
to Indiana, das überraschend nach The
Family Stone klingt und die triumphalen Rückkehr der Jackson5 in ihre
Heimat vorbereiten sollte. Am 9. Oktober waren die Jungen nämlich zur ihrer
ersten Tournee durch die USA aufgebrochen. Es sollte ein einziger Siegesmarsch
werden, mit allem, was dazugehört, ohnmächtigen Fans, Krankenwagen, Verkehrschaos,
Bombendrohungen. Jacksonmania tauft
es die Presse, in Anlehnung an „Beatlemania“, den Triumphzug der Beatles fünf
Jahre zuvor. Mitten in die Tournee fällt die Auslieferung von The Jackson5 Christmas Album, die ihr
familiäres Image festklopfen soll. Ein Höhepunkt der Tournee ist im November
ihr ausverkauftes Konzert im Madison
Square Garden in New York. Den Abschluß bilden zwei Benefiz-Konzerte im
schnee-bedeckten Gary, Ind. zur Wiederwahl von Bürgermeister Richard Hatcher.
Zum Empfang wird für eine Woche die Jackson Street in Jackson5 Boulevard umbenannt, und vor dem Haus N° 2300 wird ein
Schild aufgestellt: Welcome home Jackson5
- keepers of the dream - Willkommen zuhaus, Bewahrer des Traums! Und an der
Staatsuniversität von Indiana wird eine Plakette enthüllt, die der Jackson5
gedenkt, die „den jungen Leuten die Hoffnung zurückgebracht“ haben...
Ja,
so sieht der Ruhm aus.
Es
werden noch viele siegreiche Tourneen folgen, weit über die Grenzen der
Vereinigten Staaten hinaus, und die Jackson5 werden auch mit ihrer nächsten LP
noch einen großen Erfolg feiern. Da werden die älteren Brüder auch noch live ihre Instrumente spielen. Auf
Motowns Platten, wo alles hundertprozentig sein mußte, war von Anfang an eine
Studioband zu hören. Heute, da die Konzerte längst vergessen und nur die
Schallplattenaufnahmen zurückgeblieben sind, muß man rückblickend sagen: Die
große Zeit der Jackson5 währte ein ganzes Jahr. Sie waren eine Zeiterscheinung.
Ihr Schlachtroß war ihr Jüngster, „Little Michael of the Jackson Five“, wie er
von nun an für lange Jahre heißen sollte, der Kleine Michael von den Jackson5.
Der war die Ausnahme. Der sollte dauern. Der war ein künstlerisches Genie - das
konnte man hören und sehen.
Wir
schreiben nicht die Geschichte der amerikanischen Popmusik, sondern die
Lebensgeschichte des größten Stars aller Zeiten. Was immer sonst zu seiner
schwindelerregenden Karriere beigetragen haben mag - ohne seine außerordentliche
Begabung wäre gar nichts gegangen. Aber was hat es damit auf sich? Sicher, „wo“
er sie „her“ hat, werden wir nicht ergründen. Aber worin liegt sie, woraus besteht
sie? Kann man sie mit irgendetwas Vertrauten vergleichen?
Zuerst
einmal war er ein Sänger. Daß Knabenstimmen vor dem Stimmbruch mitunter eine
eigentümliche, herb-süße Schönheit, ein Art glühende Kühle entwickeln, die
zugleich das Gefühl von Wagemut und das von Gefährdung vermittelt, ist weithin
bekannt, wennauch nicht von allen geschätzt. Daß unter den musikalischen
Wunderkindern die Jungen überwiegen, ist ebenso bekannt (ohne daß man freilich
eine Erklärung dafür hätte). So ganz einzigartig wäre Michael Jackson in dieser
Hinsicht also nicht - wenn es nur das wäre...
Es
ist aber nicht nur das. Deutlich wird es beim Vergleich von Little Michael mit
Little Stevie Wonder - jenem anderen noch heute weltberühmten Wunderknaben, den
Berry Gordy entdeckt hat. Halten wir eingangs fest, daß man sie natürlich gar
nicht vergleichen kann, und dann tun wir's doch. Little Stevies rabenschwarzer Knabenalt kommt ohne Umweg, wie man
heute sagen würde, aus dem Bauch. Er ist ein Naturgenie. Man hört es deutlich:
würde es durch künstlerische Absicht gefiltert, so würde es gebrochen. Die
Probe aufs Exempel: Das eindrucksvollste Dokument aus Stevie Wonders
Kinderkarriere ist der Live-Mitschnitt eines Konzerts aus dem Jahre 1963, Little Stevie Wonder, 12-year old Genius.
Danach mag man seine Studioaufnahmen aus derselben Zeit nur noch mit Betrübnis
hören. Aber das ist nicht der springende Punkt. Little Stevies tiefe Stimmlage
ist naturgemäß ausdrucks-, d. h. modulationsfähiger als Little Michaels helles
Kinderstimmchen. Er hat den natürlichen Soul-Klang. Und dennoch: Wenn der
blinde Stevie singt, dann klingt es, und sei sein Lied noch so traurig, als bräche
nach einem verregneten Vormittag kurz vor zwölf doch noch die Sonne durch.
Der
Kleine Michael kann singen, was er will, es zerreißt einem das Herz. Ob es
sentimentale Balladen wie I'll Be There
oder (später) Ben waren oder betont
fröhliche Stücke wie Rockin' Robin
und Goin'
Back To Indiana: „Er sang alles mit einem tüchtigen Schuß Schmerz. Dabei
war er doch noch ein Kind! Wo hatte er bloß diesen Schmerz her?“ erinnert sich
sein Mentor Berry Gordy. „Als habe er alles, was er sang, schon selber erlebt!“
Und Smokey Robinson, damals zum inneren Kern der Motown Family zählend, sagt: „Michael war ein merkwürdiges und
liebenswertes Kind. Mir kam er immer vor wie eine uralte Seele in einem Knabenkörper.“
Little
Stevies jubilierender Soul ist sozusagen mehr Gospel. Michaels klagender Soul
ist mehr Blues. An der Stimmphysiologie allein kann es kaum liegen. Da muß die
Persönlichkeit des Interpreten im Spiel sein. Der kleine Michael wird
allenthalben als ein fröhliches Kind geschildert. Unter seiner unersättlichen
Spottlust und seinem Schabernack hatten die älteren Geschwister nicht wenig zu
leiden. Wenn man seiner älteren Schwester glauben will, war er eines dieser
kleinen Monster, die man am liebsten erwürgen möchte. Aber im Gesang des Elfjährigen
ist es nicht zu überhören: Die heitere Fassade verbirgt schon damals eine tiefe
Traurigkeit. Little Michael of the
Jackson5 wäre nicht das erste schwermütige Kind gewesen, dem es durch
forcierte Lustigkeit gelang, von sich abzulenken - nicht zuletzt sich selber.
Schwermut, egal woher sie kommt, ist nicht eins von diesen modernen „Bedürfnissen“,
die „ganz wichtig“ sein wollen. Sie will vor allem in Ruhe gelassen werden.
Gemerkt
hat es damals wohl keiner. Man darf annehmen, daß der Motown Family die Wahrheit über das Familienleben der Jacksons so
wenig verborgen geblieben ist wie ihnen selbst. Aber sehen und wahrnehmen sind
zweierlei. Kein Betrug ist so erfolgreich wie der Selbstbetrug.
Der
Ausdruck „Motown-Familie“ war übrigens mehr als nur ein Reklame-Slogan. Berry
Gordy hattte seinen Konzern tatsächlich wie einen großen Familienclan
aufgezogen, über den er herrschte wie ein Patriarch. Es fing damit an, daß er
von vornherein seine Geschwister, Cousins, Nichten und Neffen, Onkels und
Tanten an allen Schlüsselstellen der Firma unterbrachte. Bei Motown ging es so
vertraulich und auch so autoritär zu „wie in einer richtigen Familie“. Alle
Musiker, alle Techniker, alle Bürokräfte - Diana Ross hatte bei Motown als
Gordys Sekretärin angefangen - wurden in diesen trauten Kreis hineingezogen,
der nach außen hermetisch abgedichtet war. Es entsprach dem Temperament des
menschenscheuen, zurückhaltenden Firmenchefs, sich die Neugier der Medien vom
Hals zu halten. Die Geheimniskrämerei, mit der er alles umgab, was mit Motown
zu tun hatte, erwies sich freilich auch als eine geniale PR-Strategie. Wenn die
Blätter nichts wußten, mußten sie raten, ihre Phantasie betätigen, die Storys,
die sie schreiben wollten, selbst erfinden. Durch gezielte Fehlinformationen
konnte man die Spekulationen erst recht anheizen - um dann trocken zu
dementieren. So wurde man überhaupt erst richtig interessant. - Kommt Ihnen das
bekannt vor, lieber Leser? Der größte Star aller Zeiten hat immer wieder gerühmt,
wieviel er bei Berry Gordy gelernt hat. Das gehört auch dazu.
Aber
bitte: Berry Gordy ist wirklich schüchtern, ist wirklich menschenscheu. Wird es
unecht, weil es außerdem auch noch verwertet wird? Entertainment ist ja ein
Geschäft, wo das Erscheinungsbild, das Design dem Produkt nicht nachträglich
von außen hinzugefügt wird, sondern - sie sind das Produkt selbst! Da gibt es überhaupt
nur zwei Möglichkeiten. Entweder man setzt etwas in Szene, was man in
Wirklichkeit nicht ist. Oder man setzt das in Szene, was man wirklich ist. Aber
in Szene gesetzt ist es in jedem Fall. Daraus besteht nämlich das ganze Gewerk.
Was es ist und wie es aussieht ist hier ein und dasselbe: Es ist Kunst.
Michael
kam sich in Südkalifornien wie im Paradies vor. Statt der Enge, des Kleinlichen
und Schäbigen seiner bisherigen Existenz war hier alles weit, großzügig und schön.
Und endlich war die ständige, zentnerschwere Sorge von ihm gewichen: Ob wir es
jemals schaffen werden? Auf einmal war das Leben leicht. Da merkte er gar
nicht, daß er bei Motown in einer Art Retorte gelandet war. Die Rundreise auf
dem Chitlin Circuit, das Regal in Chicago, das Apollo in Harlem, das Uptown in Philadelphia - das war, bei
aller Schinderei, doch auch das pralle Leben gewesen. Als Star bei Motown - das
war eine Existenz in vitro. Ein
kleiner Kreis bekannter Gesichter - dahinter war die Welt zuende. So wie
damals, eingesperrt in dem Häuschen 2300, Jackson Street! Nur viel luxuriöser...
Später, während der monatelangen Konzerttourneen, sollte es ihm aufgehen: Er
lebte wie ein Gefangener.
Inzwischen
war die ganze Jackson-Familie in Hollywood versammelt. Motown hatte eine Villa
in der Queen Road gemietet, aber da
gab es bald Ärger mit den Nachbarn: Es war zu laut, die Kinderband probte noch
immer jeden Tag. „Wir sind ausgezogen, weil die Häuser zu dicht beieinander
standen. Wir hatten im Haus ein Studio eingerichtet, 16 Spuren! Und wenn wir
probten, haben sich die Nachbarn beschwert. Da sind wir ausgezogen. Aber nur
ein Star hat sich beschwert. Frank Sinatra hat über uns gewohnt.“ Was denn, Frank
Sinatra hat sich beschwert? „Nee, der hat sich nie beschwert. Aber sein Balkon
war direkt über uns!“, plappert der inzwischen Zwölfjährige - damals noch nicht
der schweigende Schrecken aller Reporter. Auch in dem neuen Heim, das Motown für
sie gemietet hatte, blieben die Jacksons nur bis zum Frühjahr 1971. Dann
erstand Joseph Jackson für eine Viertelmillion Dollar ein Grundstück in der Hayvenhurst Alley in Encino mit einer
22-Zimmer-Villa. Encino liegt nördlich von Los Angeles, am jenseitigen Hang der
Hollywood Hills, etwa vierzig Autominuten außerhalb der Millionenstadt. Hier
waren sie nicht mehr die Nachbarn von Berry und Diana, hier waren sie wieder ganz
unter sich - so wie Joe es wünschte. Anders als man vielleicht erwarten sollte,
war der Vater durch den Erfolg, der alle Hoffnungen weit übertroffen hatte,
kein wenig sanftmütiger geworden. Er war zwar jetzt ein reicher Mann, aber als
Manager seiner Kinder hatte ihn Gordy praktisch ausgebootet. Sein Name stand
wohl in dem Vertrag mit Motown, aber in Wirklichkeit traf Suzanne de Passe die
wichtigen Entscheidungen (falls sie sich der Boß nicht selber vorbehielt). Je
weniger er im Geschäft zu melden hatte, umso stärker trumpfte er zuhause auf.
Es hagelte Schläge wie eh und je, und die Demütigungen blieben an der
Tagesordnung. „Er gab uns das Gefühl, wir seien völlig wertlos und taugten zu
gar nichts“, sagt Michael. Sein Standardsatz: You're all nuthin' – „ihr seid alle Nichts!“ Joe Jackson schrieb nämlich
den Erfolg seiner Söhne nicht ihnen, sondern... seiner harten Hand zu. Selbst
Little Michaels geniale Veranlagung schien er für sein eigenes Verdienst zu
halten.
Die
Rede ist hier nicht von zwar beklagenswerten, aber gelegentlichen Exzessen. Es
ist weniger banal. Wir reden von einem Leben in Furcht und Schrecken. „Schon
ein Blick von ihm ließ einen schaudern. Ich hatte furchtbare Angst vor ihm. Mir
wurde schon schlecht, wenn er mir nur nahekam. Ich mußte mich sofort übergeben.
Als Kind, aber auch noch als Erwachsener.“ Das erzählte der inzwischen
vierunddreißigjährige Michael vor sechzig Millionen Zuschauern.
So
war es mit der ungeheuren Leichtigkeit des Seins bei den Ersatzeltern Berry und
Diana schon nach wenigen Monaten vorbei. Immerhin - die Mutter war wieder da.
In den ersten Wochen hatte Michael eine normale Grundschule in LA besucht und
folgte dann Marlon an die Emerson Junior
High School in Beverly Hills, aber da blieb er nicht lange: Nach zehn Tagen
gab es die erste telefonische Bombendrohung, und beide Jungen wurden eilig im
exklusiven Buckley-Institut im
nahegelegenen Sherman Oaks
untergebracht.
Doch
oft sollte Michael die Schulbank nicht mehr drücken. Von nun an verbrachte er
einen Gutteil seines jungen Lebens wieder unterwegs - auf der Reise von Konzert
zu Konzert, von Fernsehshow zu Fernsehshow. Die erste große Tournee war im
Oktober 1970 gestartet und ging erst an besagtem 31. Januar in Gary zuende.
Nach mehreren Live-Auftritten im Fernsehen begann im Sommer die zweite
USA-Tournee mit rund 40 Konzerten, die erst am 12. September in Honolulu auf
Hawaii endete. Und zum Jahresende folgte gleich die nächste Tour mit Auftritten
in fünfzig amerikanischen Städten. Begleitet wurden die Jackson5 bei ihrem
Wanderleben von ihrer mütterlichen Hauslehrerin Rose Fine, die sich alle Mühe
gab, die Lücken im Lehrpensum der Jungen nicht allzu groß werden zu lassen. Ihr
oblag auch die religiöse Unterweisung des jungen Stars, an der Michael - der
als einziger Bruder seine Mutter und die älteren Schwestern zu den sonntäglichen
Versammlungen der Zeugen Jehovas zu begleiten pflegte - großen Anteil nahm.
Berry Gordy hatte immer darauf geachtet, daß seine jugendlichen Künstler nicht
ihre Allgemeinbildung vernachlässigten - denn wie lange so eine Karriere im
Show-geschäft dauert, weiß keiner im voraus... Als er 1960 den gerade zehnjährigen
Stevie Wonder unter Vertrag nahm, verpflichtete sich Motown, dem früh
erblindeten Jungen eine angemessene Schulbildung an der Michigan High School for the Blind zu ermöglichen, wo Stevie 1969
seinen Abschluß machte. Doch das Tutoren-Regime für Michael Jackson war nur ein
Notbehelf. Der kluge, bis heute unstillbar neugierige Junge, der immer alles
wissen will, kam intellektuell nicht auf seine Kosten. Noch jetzt leidet
Michael Jackson unter dem Gefühl, nicht genügend gelernt zu haben, und
verschlingt jedes Buch, das ihm in die Finger fällt - vielleicht etwas wahllos.
Als er während der Bad-Tournee im
Herbst 1988 zum erstenmal in Berlin war, ließ er sich dort am Vorabend des
Konzerts für mehrere Stunden in der größten Buchhandlung am Platz einschließen
- und wühlte selbstvergessen in den zehntausenden Bänden, deren Sprache er
nicht verstand.
Was
Michael während dieser zweiten Wanderzeit am meisten belastete, waren denn auch
nicht Stress und sogenannte Reizüberflutung, sondern im Gegenteil - die
bleierne Langeweile. „Uns ging es vor allem darum, die Langeweile zu bekämpfen,
die uns heimsuchte, wenn wir zu lange auf Tournee waren. Da waren wir also
eingesperrt in diese Hotelzimmer, weil wir wegen der Horden kreischender Mädchen
nicht auf die Straße gehen konnten, und wir wollten doch unsern Spaß haben.“
Zwar erzählten die Brüder den Reportern, die es gerne hörten, das Leben auf
Tournee sei „der lebendigste Geographieunterricht, den man sich wünschen kann“.
Doch das war ein bei Motown einstudierter Spruch. In Wirklichkeit bekamen sie
die Städte, durch die sie kamen, gar nicht zu sehen. Überall in den Straßen und
vor den Hotels lauerten Tausende aufgeregter Fans, um einen Blick zu erhaschen oder sie womöglich einmal
anfassen zu können, und das war - auch ohne Bombendrohung - gerade gefährlich
genug. Wie leicht konnte es zu einer Panik und zu einem Unfall kommen! Tatsächlich
mußte im November 1970 ein geplanter Auftritt in Buffalo, N.Y. abgesagt werden,
weil kurz zuvor in einem Stadion ein Mädchen zu Tode gekommen war - die
entsetzten Eltern wollten ihre Kinder nicht mehr ins Konzert lassen.
Für
die zweite Tournee im Sommer '71 war daher ein ehemaliger Polizeibeamter als
Sicherheitschef der Jackson5 angeheuert worden, Bill Bray, der noch bis 1995
diese Arbeit fr Michael Jackson machen sollte. Für den Alltag
der Jungen bedeutete das: Stunde um Stunde in Hotelzimmern hocken, die überall
gleich aussehen und mit denen man doch nicht vertraut wird. Wie schlägt man
unter solchen Umständen die Zeit tot? Kartenspiele, Monopoly, Kissenschlachten,
Wettrennen durch die Korridore, wassergefüllte Luftballons, die auf die andern
Gäste niedergehen, Lausbubenstreiche gegen die paar Leute, die zur Hand sind:
Hotelpersonal, Begleitmusiker und... wer noch ? Viele sind es nicht. Sie finden
es auch nicht komisch, wenn zum xten Mal ein Wassereimer von der Türkante fällt.
Lionel Richie, der damals mit seinen Commodores
im Vorprogramm der Jackson 5 auftreten durfte, erzählt, wie sie ihre Schuhe,
die sie über Nacht zum Putzen vor die Tür gestellt hatten, des Morgens mit Eiswürfeln
angefüllt fanden... Zwar wird Michael auch auf diesem Gebiet als sehr
erfindungsreich geschildert, doch noch der ausgefallenste Streich hat ein Aroma
von schonmal-dagewesen, wenn - sonst den ganzen Tag nichts passiert.
Aber
doch, es passiert ja was - abends: das Konzert! Die Show! Zehntausende
begeisterter Menschen, die gar nicht genug bekommen können, wenn die fünf Brüder
singen und tanzen, was das Zeug hält, immer bis hart an die Grenze ihrer
jugendlichen Kraft. Nie war es dem kleinen Michael deutlicher gewesen: Das
wahre Leben, das ist die Bühne, das ist der Auftritt. Der Rest ist nur Vorbereitung,
Warten, Pause.
Man
sieht es ihm an auf den Fernsehaufzeichnungen, die anläßlich jedes
Michael-Jackson-Specials immer wieder mal gezeigt werden. Das eindrucksvollste:
Who's Lovin' You, ein Stück von
Smokie Robinson, das die Brüder zu ihrem Einstand bei Ed Sullivans Show im
Dezember 1969 dargeboten hatten - jene Nummer, wo Michael den großen rosa Hut
trägt. Er legt allen Ausdruck in sein Lied, in seine Mimik, in die Gesten, er
geht völlig darin auf, „als hätte er das alles selber erlebt“, wie Gordy sagte.
Doch da - zwischen zwei Drehungen, kaum wahrnehmbar, ein kurzer, prüfender
Blick in den Saal, ob ihm das Publikum wohl noch folgt; wie ein uralter Profi!
Und schon versinkt er wieder in seinem Lied... Wir Europäer entdecken Little
Michaels Kinderkarriere im nachhinein, aus der Sicht von Thriller, Bad und Dangerous. Uns hatte jene einmalige
Verbindung von ausgebufftem Professionalismus mit ungebrochen kindlicher
Expressivität fasziniert, und bei diesen alten Aufnahmen sehen wir - damals war
er auch schon so, schon „ganz der Alte“! Doch nach kurzem Staunen fragt man
sich: Worüber soll man sich mehr wundern? Daß er bereits als Kind so war - oder
daß er als Erwachsener immer noch so ist?
Als
Erwachsener - ist das bei Michael Jackson überhaupt ein passendes Wort? - Diese
Frage ist vielleicht die Antwort auf die vorangegangene! Schließlich
identifiziert sich der erwachsene Jacko demonstrativ mit Peter Pan, dem Jungen, der nie erwachsen wurde, weil er - nicht
wollte. Wie es mit dem kleinen Michael so weit kam, wollen wir in diesem Buch
erzählen.
Also
zurück zu unserer Geschichte. Es ist eine merkwürdige Erscheinung im Showgeschäft,
daß der Erfolg eines Künstlers beim Konzertpublikum nicht unbedingt mit dem Verkaufserfolg
seiner Schallplatten zusammenhängt. Die Jacksonmania
kochte erst 1972 und '73 ihrem Höhepunkt entgegen. Jede neue Tournee wurde länger
und größer als die vorige. Im Oktober '72 starten sie zu ihrer ersten
Auslandstournee. Nach Europa, nachdem sie bei Motowns großer England-Kampagne
im Jahr 1970 noch nicht mitgedurft hatten - wegen der dortigen
Schutzbestimmungen gegen Kinderarbeit, die dem noch nicht ganz zwölfjährigen
Michael das Auftreten unmöglich machten. Nun brachen sie im Liverpool Empire den Zuschauerrekord,
den dort die Beatles gehalten hatten, und trugen die Jacksonmania zu den
Briten. Die Szenen, die sich auf ihren Konzerten abspielten, waren des Aufruhrs
um die Fabulous Four würdig. Doch ihr
dortiger Plattenumsatz kam nicht entfernt an die heimischen Rekorde heran.
Daheim
im März 1971 war die Single Never Can Say
Goodbye noch auf Platz zwei der Pop-Charts gekommen. Aber ihr viertes Album
Maybe Tomorrow, das im April folgte,
schaffte es nicht mehr in die Top Ten der Pop-Charts, und blieb auf dem elften
Platz hängen - nachdem die ersten drei Alben bis auf Platz vier und fünf
vorgedrungen waren; und die Single-Auskoppelung des Titelsongs schaffte es gar
nur noch auf Platz 20. In den Black Charts kam das Album zwar auf den ersten
Platz - aber das war auch nicht unbedenklich! Sollten die Jackson5 etwa ihr
Crossover-Image einbüßen und zu einer „schwarzen“ Gruppe werden? Für das
Plattengeschäft mußte sich Motown nun etwas einfallen lassen. Und was lag näher,
als den wahren Star der Gruppe, der Dreiviertel ihres Erfolgs eingefahren
hatte, nun als Solisten auf dem Markt zu etablieren! Cute little Michael, der „süße“ kleine Michael brach noch immer spielend
die Herzen aller erdenklichen Farbschattierungen. Dann würde man weitersehen.
Little
Michaels Stundenplan wurde um ein neues Pensum bereichert. Noch heute
versichert er ja: Er tat damals wirklich nichts lieber als singen und tanzen! „Ich
tat es, weil es mir Spaß machte und weil es für mich so natürlich war wie das
Atmen.“ Daß er dabei aber so manches versäumt hat, sollte ihm erst später klarwerden.
Am 7. Oktober 1971 erscheint die erste Schallplatte, auf der Michael allein,
ohne seine Brder zu hören ist: Got To Be
There, eine sogenannte Semi-Ballade, also ein nicht-ganz-so-langsames Stück,
das thematisch an den Superhit I'll Be
There anknpft und schon nach zwei Wochen auf Platz vier der Charts klettert
- Pop und Black, wie gewünscht! Gordys Rechnung ging auf: Die im Oktober
folgende nächste Single der Jackson 5 (Sugar
Daddy) kam immerhin wieder auf Platz zehn der Pop-Charts (aber Platz drei
auf „Black“). Im Januar folgt Michaels erstes Solo-Album, Got To Be There wird als Titelsong gewählt, das Album erreicht wohl
in den Black Charts wieder den dritten Platz, doch auf der Pop-Liste nur Platz
14. Die zweite Single-Auskoppelung Rockin'
Robin, das Remake eines Rock'n'Roll-Hits von 1958, sorgt endlich für
Erleichterung bei Motown - sie kommt in beiden Charts auf den zweiten Platz !
(Sogar in England schafft sie Platz drei.)
Übrigens
enthält das Album auch das erste Exemplar einer neuen Liedgattung, die später
eine Spezialität des King of Pop
werden soll - die „Kinderhymne“ In Our
Small Way:
Maybe
you and I can't
Do
great things.
We
cannot change
The
world in one day.
But
we still can change some things today
In our small way.
Seine
Solo-Karriere ist nun auf guten Wegen, und die J5 profitieren davon: Ihre nächste LP Looking Through The Window bringt es in den Pop-Charts nun auch
wieder auf Platz sieben.
Musikalisch
unterscheiden sich Michaels Platten von dem, was er bei den J5 gemacht hatte.
Um den Wohlklang seiner ‚rührenden‘ Stimme voll zur Geltung zu bringen, läßt
man ihn nun vorzugsweise langsamere Stücke singen, „Balladen“ - das Wort hat im
Pop-Jargon nur diesen Sinn und hat nichts mit dem gemein, was unser
Deutschlehrer darunter verstand. Dabei kommen nun auch verstärkt
Melodieinstrumente zum Einsatz, liebliche Flöten, mal schmeichelnde, mal
schluchzende Geigen, strahlendes Blech, tändelnde Keyboards: Es soll eben „schön“
sein - und weißes Publikum an die Kassen locken. Allerdings klingt es
(vielleicht nur auf den digital remasterten CDs dieser Tage?) oft so, als habe
man Michael um des Effekts willen höher und - lauter singen lassen, als es zu
seiner Stimme paßte. Freilich, laut und schnell - das war damals auch sein
eigener Geschmack. „Ich liebe schnelle Musik, das, was James Brown und Sammy
Davis machen“, sagt der Dreizehnjährige einem Fernsehreporter. Vielleicht war
das, was wir da heute noch hören, ein Kompromiß zwischen der Hitfabrik und den
Vorlieben ihres kleinen Stars. Zwar hat es Michael stets gewurmt, daß er bei
Motown nichts zu sagen hatte; aber Berry Gordy war zu sehr Geschäftsmann, um
nicht zu wissen, daß man sein Kapital pfleglich behandelt. Michaels Stimme war
schließlich einmalig. „Er konnte so niedergeschlagen und bluesy singen wie Tyrone Davis oder Joe Tex“, erinnert sich sein
Produzent Bobby Taylor, „aber er hatte auch die gepfefferte Energie eines
Schulbuben. Oh Mann, ich mußte kein Einstein sein, um zu entdecken, daß der
Junge ein bombensicheres Genie war.“ David Ritz, Biograph etlicher R&B-Größen,
kommentiert rückblickend: „Michael klang zugleich jung und alt, naiv und weise,
schüchtern und festentschlossen, wie ein Schnittpunkt von gereiften und von
jugendlichen Energien. Von Anfang an hatte er alle Qualitäten, die den großen Sänger
ausmachen - eindringliche Leidenschaft, individuelle Phrasierung,
unverwechselbaren Ausdruck, einen wachen Sinn für Harmonie, außerordentliche
Empfindsamkeit. Er sang schmetternd wie Stevie Wonde ; seine Stimme konnte im
Raum gleiten wie die von Smokey Robinson; er sang Pop-Balladen so wunderschön
wie Marvin Gaye. Vielseitigkeit war seine Stärke, aber dabei blieb Michael
immer Michael, hoffnungsfroh, funky,
geschmackssicher und intensiv, daß es einem über den Verstand geht.“
Sein
eigentlicher Durchbruch als Solist gelang Michael Jackson aber - sozusagen wegweisend
- mit einem Kuriosum: dem einzigen Liebeslied an eine Ratte, das wohl je
gesungen wurde. Es ist auch Michaels erste Begegnung mit dem Kino. Immer war es
sein Traum, ein großer Filmstar zu werden (damals recht kühn für einen
Farbigen). Nun sang er immerhin schon einen Titelsong: Ben war die Fortsetzung des Films Willard, der im Vorjahr die Kassen gefüllt hatte, und handelte
wieder von einem leicht verschrobenen Jungen, der keinen Freund hatte - außer
eben dieser Ratte namens Ben. Michael sang, als ginge es um die Liebe seines
Lebens. (Und endlich ließen sie ihn in seiner natürlichen Alt-Lage singen.)
Immer wieder lief er ins Kino, um im Abspann zu lesen: „Titelsong BEN gesungen
von MICHAEL JACKSON“! Bis heute nennt er Ben als sein Lieblingslied...
Ben,
most people would turn you away.
I
don't listen to a word they say.
They
don't see you as I do.
I
wished they would try to.
I'm
sure they'd think again,
if
they had a friend like Ben.
Es
war der erste Number-One-Hit in Michaels Solokarriere (Juli 1972). Wenn Berry
Gordy sich fragte, woher der Schmerz und die Ausdruckskraft in Michaels Stimme
kommt - bei diesem Lied hätte es ihm einfallen können. Michael war selbst das
Kind, das keine Freunde hatte. Sicher, da waren die Brüder, die andern Jackson5.
Die waren immer da. Immer. Er war nie allein. Kein Winkel, in den er sich zurückziehen
konnte. Aber das verhindert nicht die Einsamkeit, im Gegenteil. Es hindert
einen, sich zu sammeln - und das fehlt dann wieder zur Freundschaft. Zwar bestätigt
auch Jermaine das besondere Verhältnis, das er gerade in dieser Zeit zu seinem
kleinen Bruder hatte. Die Stimmen der Lead-Sänger brauchten Schonung, und so mußten
sie beide zeitig ins Bett. Sie schliefen immer im selben Zimmer, auch zuhaus in
Encino. Aber da gab es keine Privatheit. Beide erzählen, wie sie auf Tournee
gelegentlich nachts wachwurden, wenn Vater Joe mit ein paar Mädchen unterm Arm
ins Hotelzimmer kam, um ihnen die schlummernden Teenie-Stars zu zeigen... Aber
ohne Privatheit gibt es auch keine Intimität. Einer, der „schon immer da“ war,
der einem von vornherein zu nahe stand, taugt nicht mehr zum Freund. Einem, der
sowieso immer alles weiß, vertraut man kein Geheimnis an - wußte er es denn zu
schätzen? Freundschaft, wie die Liebe, geht am Zu-viel-wissen ein. Wie eng das
Verhältnis der Jackson-Brüder zueinander gewesen sein mag - die fehlenden
Freunde konnten sie sich nicht ersetzen: „Ich hab so oft geweint vor
Einsamkeit.“
Keinen
Freund haben heißt aber auch: kein Freund sein. Und das ist wohl das
schlimmste, was einem als Kind passieren kann. Ich wage zu sagen, schlimmer
auch als Joe Jacksons Grausamkeit. Wenn nicht alles täuscht, liegt hier der
Schlüssel zur größten Künstlerkarriere des Jahrhunderts, einschließlich ihrer
tragischen Verwicklung; denn das ist etwas, das sich schlechthin nicht wieder
gutmachen läßt.
Da
heißt es immer, die Mutterliebe sei die Schule der Liebesfähigkeit. Aber das
ist gar nicht wahr. Die Mutterliebe ist, wenn sie da ist, unvordenkliche Nähe.
Das ist ihr Verdienst und macht sie unersetzlich. Die wirkliche Liebe ist aber
ein Spiel mit dem Feuer. Die Vaterliebe kommt dem schon näher, aber nicht viel.
Das erste große Abenteuer ist die erste große Freundschaft - der „beste Freund“.
Der war nicht einfach da, den mußte man finden; und den wird man verlieren. Die
wahre Schule der Liebe ist die Kinderfreundschaft. Sie ist die erste
Leidenschaft. Doch gottlob, sie geht vorüber - wenn sie stattfinden durfte; und
gibt den Weg frei zu allen andern Wagnissen des Herzens.
Und
wenn nicht? Der kleine Michael hat nie einen Freund gehabt. Als ein Reporter
ihn auf die Intensität anspricht, mit der er Ben gesungen habe, antwortet der Zwölfjährige arglos: „Ich habe
selber eine Ratte!“
Besser
als gar nichts, aber wenn Michael Jackson seit Jahren immer entschiedener seine
verlorene Kindheit zum Thema seines Lebens macht, dann meint er eigentlich den
Freund, den er nicht hatte.
Hätte
er nicht später doch das eine oder andere nachholen können? Aber nicht als Berühmtheit,
und schon gar nicht in Hollywood. „Als Entertainer weißt du nie, wer dein
Freund ist“, sagt der erwachsene Megastar, und spricht damit - für uns -
eigentlich eine Binsenwahrheit aus. Aber für ihn selber, der nichts zum Zusetzen
hat, ist es eine Tragödie.
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