Samstag, 7. Mai 2016

5. Größter Star aller Zeiten

oder 
The Real Peter Pan
Seit ich ein kleiner
Junge war, habe ich davon geträumt, die
bestverkaufte Platte aller Zeiten zu machen.
Michael Jackson
Die LP The Jacksons kommt auf Platz 36 der Pop Charts - auch nicht besser als das letzte Motown-Album. Die Single-Auskoppelung Enjoy Yourself bringt es auf Platz 6. Der Kampf gegen den Abstieg scheint gewonnen. Die Epoche The Jacksons ist aber weniger wegen ihrer Plattenaufnahmen bemerkenswert, sondern weil Michael nun für Jahre wieder auf die Rolle als Frontman in seiner Familienband zurückgestutzt ist. Er ist sogar viel tiefer in den Jackson-Clan verstrickt als seine großen Brüder! Die hatten alle nur ihren achtzehnten Geburtstag abgewartet, um zu heiraten und das heimische Nest in der Hayvenhurst Alley zu flüchten. Überhaupt hatte das Bild der glücklichen Musterfamilie, das nach außen noch heil war, nach innen tiefe Risse bekommen. Katherine, die bei den Mißhandlungen ihrer Kinder durch Joe weggesehen hatte, mochte seine ständige eheliche Untreue nun nicht länger hinnehmen. Im Lauf der Jahre sollte sie wiederholt die Scheidungsklage einreichen (um sie freilich immer wieder zurückzuziehen).

Und schließlich wuchsen bei den Brüdern Groll und Eifersucht auf den Familienstar, der sie alle in den Schatten stellte. Michael mag davon nichts gemerkt haben. Schon als er sang- und klanglos Jermaine von der Stelle des Lead-Sängers verdrängt hatte, wird das nicht ohne stille Verbitterung des Älteren geschehen sein. Aber Michael war vom Kampf mit seinen durch Joe kunstvoll geschürten Selbstzweifeln voll beansprucht. Daß ihn jemand beneiden könnte, fiel ihm nicht ein. Im Streit mit Motown und beim Konflikt um die TV-Serie hatte sich erwiesen, daß er nicht nur der größere Künstler, sondern auch der bessere businessman war. Ohne ihn war das Familienunternehmen aufgeschmissen. 

Eigentlich konnte er dem Vater und den Brüdern seine Bedingungen diktieren. Das wußten sie. Aber er wußte es nicht, wie ein Freund der Familie erzählt, „jedenfalls nicht damals. Joe verstand es, Michael unten zu halten, und die Brüder machten mit.“
Das Jahr 1977 bringt eine Wende im Leben von Michael Jackson. Menschlich noch mehr als beruflich. Man bietet ihm eine Rolle in dem Hollywoodstreifen The Wiz an. Es ist die „schwarze“ Version eines Broadway-Musicals nach dem Kinderbuch-Klassiker The Wizard Of Oz, Der Zauberer von Oz. Es geht um Dorothy, die sich verlaufen hat und den Zauberer von Oz sucht, daß er ihr den Heimweg zeigt. Sie trifft unterwegs den Mann aus Blech, der auch den Zauberer sucht - weil er ein Herz braucht; und den feigen Löwen, der gerne etwas Mut hätte. Und sie trifft die Vogelscheuche, die von den Krähen verspottet wird, weil sie kein Hirn hat. Die Vogelscheuche ist nicht mit Stroh, sondern mit Zeitungspapier gefüllt - das heißt, mit Zitaten für jede Gelegenheit. Die arme Vorgelscheuche hat für alles und jeden die passende Antwort parat - nur leider weiß sie nie, zu welcher Frage sie gehört; sie bräuchte eben ein Gehirn. 

The Wiz war eine aufwendige Produktion. Dreißig Millionen Dollar soll der Starregisseur Sidney Lumet verbraten haben. Für ein namhaftes Set: Die Dorothy spielte keine andere als Diana Ross, der Zauberer war Richard Pryor. Dennoch war der Film ein Desaster. Das Publikum blieb weg, die Kritik verriß ihn: „Eine Märchen von der Zartheit einer Nilpferd-Herde“. Nur die Vogelscheuche bekam gute Kritiken. Sie ahnen es, lieber Leser: Es war Michael Jackson.

Die Rolle hat ihn dauerhaft geprägt. Die Vogelscheuche machte ihm die Lücken in seiner Bildung bewußt. Er hatte griechische Philosophen zu zitieren, deren Namen er nicht korrekt aussprechen konnte. Und um die verstörte Vogelscheuche noch weiter zu verhöhnen, gaben die Krähen ihr ein Lied zu singen, dessen Text sie nicht verstand, You Can't Win - Du kannst nicht gewinnen. Ach, das kam Michael bekannt vor! 

„Demütigungen und Hilflosigkeit - und daß es Leute gibt, die einen nicht direkt niederhalten, sondern indirekt dafür sorgen, daß man an sich zweifelt und sich so selber niederhät.“ Die Vogelscheuche war die Rolle seines (bisherigen) Lebens.

Vor jedem Drehtermin saß er stundenlang beim Maskenbildner. Tatsächlich ist er in dem Streifen gar nicht zu erkennen. Verkleiden und Maskieren - noch eine Kinderleidenschaft, für die der kleine Michael nie Zeit hatte. Man muß nicht Psychologe sein: Jede kluge Mutter weiß, wie sehr ihr Kind erst „es selbst“ wird, wenn es sich - als einen andern ausgeben kann. Für Michael Jackson war das ein spätes und umso heftigeres Erlebnis. Jetzt ging er in seiner kiloschweren Verkleidung nachhause, tanzte stundenlang vor dem Spiegel und tauchte ganz ein in seine Rolle. Was andere im Kinderspiel ganz nebenher so mitnehmen, erlebte Michael Jackson als späte und darum dramatische Erleuchtung: Man muß erst ein anderer werden, um sich zu „finden“, und je öfter, umso besser.

Und dann traf er bei den Dreharbeiten einen, der sein Leben prägen sollte. Die Filmmusik - Michael singt das Lied Ease On Down The Road - stammt von dem Jazzer, Producer und Hollywoodkomponisten Quincy Jones. Wir werden noch von ihm hören.

Während ihn die Vogelscheuche seiner künstlerischen Bestimmung näherbringt, entfremdet sie ihn weiter von seiner Familie. Jeder solistische Erfolg von Michael war Joe und den Brüdern verdächtig. Aber dieser ganz besonders. Der Produzent des Films war nämlich niemand anderes als Motown. Daß Berry Gordy ausgerechnet Michael für die Rolle anwerben ließ, deuteten sie messerscharf als Versuch, einen Keil in ihren Clan zu treiben. Hatte nicht Michael bis zum Schluß eine Verständigung mit seinem väterlichen Freund gesucht ? Doch The Wiz war ein Flop, und Michael Jackson trug die Episode nicht viel ein - außer dem Ruf, mehr Talente zu haben als nur singen und tanzen.

Auch daß er bei den Dreharbeiten (mit neunzehn Jahren!) erstmals allein - das heißt ohne Vater und Mutter, aber in Begleitung der älteren Schwester LaToya - viele Wochen in New York verbrachte, war ein Einschnitt. Binnen kurzem mauserte sich der grüne Junge zum Disco-Löwen. Sein Stammlokal war damals das Studio 54, wo alles verkehrte, was auf sich hielt. Michael war beeindruckt von der Energie jener Schönen der Nacht, die niemals müde wurden. Was das für ein weißes Zeugs war, das sie durch haarfeine Glasröhrchen schnupften, das war ihm, nach glaubhaftem Bekunden der großen Schwester, völlig unbekannt. Und als er in Begleitung eines ülteren Kollegen über zweie stolperte, die sich in einer Ecke gerade paarten, zeigte er sich gar nicht schockiert, sondern interessiert und neugierig.

Besonders vertraut war der jugendliche Star nicht mit den Dingen des Lebens, woher auch? Bei den nächtlichen Eskapaden, die nicht nur sein Vater, sondern bald auch seine älteren Brder veranstalteten, wann immer sie auf Tournee waren, hatte er nie mitgemacht. Zuerst nicht, weil er „zu klein dafür“ war. Aber später drängten sie ihn. Er wollte nicht. Die lockeren Sitten seiner Brüder, aber vor allem die Treulosigkeit des Vaters gegen die Mutter, hatten ihn immer abgestoßen. Er stand ganz im Bann der Zeugen Jehovas. Freilich war cute little Michael schon früh der Schwarm aller Mädchen. Und wenn man seinen Brüdern glauben darf, hat er es sich gern gefallen lassen. „Er war regelrecht hinter ihnen her“, erzählt Tito. Aber als er in die Jahre kam, wo solche Dinge ernster werden, ging er ihnen aus dem Weg.

Während der Arbeiten an The Wiz begleitet Michael seinen Vater zu einem denkwürdigen Gespr„ch mit Ron Alexenburg, dem Chef von Epic. Die Aufnahmen zu ihrem neuen Album Goin' Places waren gerade abgeschlossen, und als ob sie dessen sang- und klanglosen Untergang in den Charts vorweggeahnt hätten, wollten sie sich beim Boß beschweren: Wieder hatten sie nur zwei eigene Songs beisteuern dürfen, und die Vormundschaft von Huff und Gamble engte sie ein. Dafür waren sie doch nicht von Motown zu Epic gewechselt! Joe und Michael pokerten. Epic hat sein Bestes gegeben, aber das ist uns nicht gut genug“, sagt Michael. „Wir wollen funkier werden, mit neuen Sounds experimentieren.“ Wenn man ihnen nicht erlauben würde, das nächste Album ganz allein zu machen, dann würden sie eben Epic wieder verlassen. Sie müssen bei Alexenburg sehr energisch aufgetreten sein. Jedenfalls war er von ihrem Elan und ihrer Zuversicht beeindruckt. Sie wußten ja nicht...! Walter Yetnikoff, der führende Mann beim Mutterkonzern CBS, war nämlich mit ihren bisherigen Leistungen nicht zufriedener als sie, und eigentlich hatte er schon beschlossen, sie aus dem Vertrag wieder auszukaufen. Mit ihrer stürmischen Einfalt hatten sie Alexenburg für sich gewonnen, und dem gelang es, Yetnikoff umzustimmen - der seither Michaels treuester Verbündeter bei CBS gewesen ist. In Unkenntnis, wie die Karten verteilt waren, hatten sie hoch gepokert - und gewonnen. Das nächste Album durften sie ganz alleine produzieren.

Im Dezember 1978 erscheint das neue Album, Destiny. Mit einer Ausnahme sind alle Stücke von den Jacksons gemeinsam verfaßt und komponiert worden. „Wie sich herausstellte, fiel es mir leicht, Discosongs zu schreiben.“

Tatsächlich sind die Rhythmen der neuen Stücke härter, treibender, es klingt alles etwas entschiedener als bei Disco sonst üblich. Auch die Melodien sind nicht ganz so beliebig. Aber Michaels Stimme - er singt fast allein, gelegentlich unterstützt von Jackie, die andern nur im Off - klingt wieder nervös, fiebrig, unentschlossen. Als ob er sich damit abgefunden hätte, daß Discomusik nicht angehört, sondern abgetanzt wird.

Destiny kommt in den Black Charts auf den dritten Platz, und klettert in den Pop Charts immerhin auf Platz 12. Es ist geschafft! Sie haben die Talsohle durchschritten, der Abstieg findet nicht statt. Und sie haben gezeigt, daß sie es aus eigener Kraft können.

Nicht nur das Selbstbewußtsein der Brüder ist erstarkt. Auch ihr Frontman ahnt nun, daß er sich was zutrauen kann. Ob er es vielleicht mal allein versuchen sollte? Er bräuchte Hilfe. „Ich wollte nicht, daß mein Soloalbum wie eine Auskoppelung von Destiny klang. Der Sound sollte sich von dem der Jacksons unterscheiden. Deshalb wollte ich einen außenstehenden Produzenten haben, der keine vorgefaßte Klangvorstellung mitbrachte.“ Wer kennt die amerikanische Musikindustrie wie seine Westentasche? Quincy Jones. Er ruft ihn an und fragt, ob er nicht jemand kennt, der bereit wäre, sein erstes eigenes Soloalbum zu produzieren.

Sie waren einander schon früher einmal begegnet. Michael war damals zwölf, Sammy Davis hatte sie bekanntgemacht. Während der Dreharbeiten zu The Wiz hatte „Q“ (wie Insider ihn nennen) Michael dann von einer ganz unerwarteten Seite kennengelernt. „Mir fiel seine disziplinierte und hellwache Geistesart auf. Er saß morgens um fünf in der Maske, und ab sieben wurde gedreht. Er kannte die Texte sämtlicher Rollen auswendig, jede Zeile. Und er hat nie genörgelt... Ich sah seine unglaubliche Tiefe und das Musikantentum in ihm, und als er mich anrief und fragte, ob ich jemanden kenne, der sein Album produzieren will, da sagte ich: Ja; mich.“

Was tut ein Produzent von Pop-Musik? Da schreibt einer eine Melodie, ein anderer denkt sich dazu passende Wörter aus. Dann braucht man einen, der das singen kann. Alles, was sonst noch geschehen muß, bis eine Platte fertig ist, macht der Produzent. Nicht nur das Technische und Finanzielle. Er orchestriert, wählt die Klangfarben, sorgt für das Rhythmus-Arrangement, oder besser: Er holt die Leute ran, die all das machen. Er muß sie nicht nur kennen. Er muáß sie auch beurteilen können. Und dann muß er sie dazu bringen, es so zu machen, wie er es sich vorstellt. Wie sich ein Stück am Ende anhört - dafür ist heute, wo alles nachträglich am Mischpult zusammengesetzt wird, der Produzent viel mehr verantwortlich, als Liedschreiber und Sänger.

Quincy Jones kommt aus den Slums von Süd-Chicago und hat bei Count Basie als Trompeter angefangen. Aber er ist kein autodidaktischer Jazzmusiker geblieben. Als Filmkomponist hat er eine richtige klassische Musikausbildung absolviert und sogar am Pariser Konservatorium bei der berühmten Nadia Boulanger studiert. Er war seit über drei Jahrzehnten im Musikgeschäft und hatte mit Billie Holiday, Frank Sinatra, Lionel Hampton und Duke Ellington gearbeitet. Er war ein routinierter Profi mit einem Hang zur Perfektion. Die beiden sollten sich gut verstehen. Sie waren auf derselben Wellenlänge. Für ein paar Jahre würde Q bei Michael den verwaisten Platz von Berry Gordy einnehmen - der gütige Vater, der ihn den realexistierenden Joe vergessen ließ. „Er erinnert mich an den Jungen in François Truffauts Film L'Enfant sauvage - geistvoll, aber scheu. Ich fühle mich ein bißchen für ihn verantwortlich“, sagt Q. „Aber manchmal ist er es, der den Vater spielt.“

Tanzmusik hatte Q allerdings noch nicht produziert. So bringt er jedenfalls keine alte Leier mit in das Projekt. Es ist für ihn genauso neu wie für Michael. Von den Songs, die dieser selbst komponiert hatte, wählt er drei aus. Die andern Stücke muß er sich anderswo besorgen. Eins von Stevie Wonder (I Can't Help It - von einer nervösen Rhythmik), drei von seinem Bekannten Rod Temperton, darunter die Titelnummer Off The Wall. Und dann war da noch Girlfriend - ein gefälliges Konfektionsstück, das Paul McCartney extra für Michael geschrieben hatte: Die beiden hatten sich im Vorjahr durch Pauls Tochter kennengelernt und angefreundet.

Last, but not least ein Stück von Tom Bahler, She's Out Of My Life - inzwischen ein Standard bei Michaels Konzerten.

Insgesamt muß man Off The Wall noch der Disco-Ära zurechnen; Michaels Erfolgstitel Don't Stop 'Til You Get Enough gibt den Ton an, und die andern Texte stehn nicht nach:

We're the party people night and day,
livin' crazy, that's the only way.
So tonight gotta leave that nine-to-five upon the shelf,
and just ENJOY YOURSELF...

Aber es ist gewissermaßen der Paukenschlag zum Abschluß. Die Begleitung ist schlanker geworden, der Song tritt wieder hervor, der Rhythmus wird komplexer, die Musik swingt - das hatte es lange nicht mehr gegeben. Disco hatte sich totgelaufen. Man wollte wieder mehr fürs Ohr. Da kam Off The Wall gerade recht. Anders ist sein sensationeller Erfolg nicht zu begreifen. Crossover, Michaels von Motown ererbtes Programm, weist jetzt in die umgekehrte Richtung: Disco „mit etwas mehr Schwarz“. Aber das ist alles relativ. (Quincy Jones arrangiert heute Rap-Versionen der Off The Wall-Titel.)

Das wirklich Neue an diesem ersten eigenen Album ist Michaels Gesang. Er ist gereift. Ausdrucksvoll hatte er schon als Kind gesungen - so, daß mancher alte Hase blaß aussah. Doch zuallererst mußte es schön sein. Oder Effekt machen. Dann, bei The Jacksons, war Schönheit, scheint's, verpönt. Da war Ausdruck alles. Aber Ausdruck von was? Wer weiß. Nichts bestimmtes. Irgendwie komisch gemeint. Ein bißchen manieriert. Oder affektiert? Aber auf Off The Wall singt er wieder richtig. Ausdrucksstark und schön. She's Out Of My Life ist eine Bravournummer. Kitsch? Aber ja! Es soll einem das Wasser in die Augen treiben.

Das Album kommt im November 1979 heraus und  erreicht Platz drei in den Pop-Charts, in denen es sich anderthalb Jahre hält, in den Black Charts ist es vier Monate lang die Nummer eins. Ein Erfolg, mit dem weder Michael noch Q, und schon gar nicht Epic gerechnet hatte. Zwei Titel - Don't Stop... von Michael und Rock With You von Temperton - werden Nummer Eins in den Single-Charts. Und er stellt seinen ersten Rekord auf. Erstmals kommen vier Single-Auskoppelungen aus derselben LP in die Top Ten! In nur einem Jahr werden allein in den USA 5 Millionen Alben abgesetzt; nachdem die Plattenindustrie jahrelang unter der Rezession gelitten hatte, ein warmer Regen! Nicht nur das Publikum - auch der Handel liebt Michael... Von Off The Wall wurden bis heute gut 15 Millionen Stück verkauft.

Das Album brachte auch drei Videos hervor, damals ein ganz neues Medium. Bei Don't Stop... und Rock With You profiliert sich Michael erstmals als Tänzer - nicht mehr nur ein Sänger, der nebenher „auch tanzt“. Aber nicht durch ausgefallene Schritte tut er sich da hervor, sondern allein durch die Anmut seiner Körpersprache. (Im dritten Video, She's Out Of My Life, sitzt er nur reglos auf einem Schemel und schluchzt.)

Das Plattencover bringt einen neuen Michael. Um zu zeigen, daß er nicht länger der kleine Bruder der Jackson5 ist, präsentiert er sich als Partylöwe im schwarzen Smoking mit Fliege (und mit weißen Glitzersocken, die fortan eines seiner Markenzeichen sind). Er hat allerdings auch - eine neue Nase. Während der Destiny-Konzerttour hatte er beim Tanzen einen Unfall. Er brach sich das Nasenbein. Die Versuchung lag nahe: Wenn schon operieren, warum nicht gleich richtig? Das war im Mai 1979. Die Maskerade in The Wiz hatte ihn auf den Geschmack gebracht.

Weitere Veränderungen bahnen sich an. Seine Erkrankung an Vitiligo wird unübersehbar. Schon auf älteren Fotos, als er siebzehn, achtzehn war, sieht man sein Gesicht übersät mit tausend hellen Punkten, wie verkehrte Sommersprossen. Aber jetzt wird es ernst. 

Jahrelang spekulierte die Presse über den immer weißer werdenden Afro-Amerikaner Michael Jackson. Er lasse sich bleichen, hieß es, um es beim weißen Publikum leichter zu haben; er wolle seine Rasse verleugnen, sagten die Black-Power-Aktivisten. Was war schädlicher fürs Image - die Gerüchte um geheimnisvolle chemische Behan-lungen, oder das Eingeständnis einer Krankheit? Lange genierte er sich, die Erkrankung zuzugeben. Schließlich, als er kreidebleich geworden war, erzählte er im Fernsehen von Vitiligo. Aber da wollte ihm keiner mehr glauben! (Das Jahr 1994 sollte dann zu Umständen führen, bei denen Michaels Erkrankung staatsanwaltlich beglaubigt wurde. Darauf hätte er aber wohl lieber verzichtet.)

Der Große Brockhaus schreibt: „Vitilígo; Scheckhaut, fleckförmige Depigmentierung [Entfärbung] der sonst unveränderten Haut; angrenzende Haut meist überpigmentiert, gestörte Melaninbildung; Behandlung nur kosmetisch.“ [Melanin ist der Farbstoff, der die Haut dunkel macht.] Die Ursachen sind unbekannt. Pschyrembels Klinisches Wörterbuch nimmt hormonale oder nervöse Ursachen an, andere Autoren glauben an erbliche Disposition. Wie dem auch sei - auf den Videos der Bad-Ära ist Michaels Gesichtshaut auffällig uneben; scarface, „Narbengesicht“ nannten ihn taktvolle Journalisten. Die Vermutungen über Experimente mit chemischen Bleichmitteln schienen bestätigt. Ja, hätte Michael Jackson einen andern Beruf gehabt - er hätte sich mit Brockhaus' Auskunft über die ausschließlich kosmetischen Behandlungsmethoden (d. h. fingerdicke Schminke) zufriedengeben können. Aber er ist ein Showman. Er hätte dumm sein müssen, um nicht auch radikalere Verfahren zu versuchen. Die Nachteile scheinen aber die Vorteile zu überwiegen. Seither kennen wir Michael Jackson also mit fingerdicker Schminke...

Der überraschende Erfolg, den man dem jugendlichen Oldie von den Jackson5 gar nicht mehr zugetraut hatte, macht ihn zum Hätschelkind der Klatschpresse und der Hollywood-Schickeria. Nachdem er einmal Blut geleckt hat, ist er vom Film fasziniert, seinem Kindheitstraum. Er lernt eine Menge Stars kennen, besonders die älteren, von denen er was lernen kann, haben es ihm angetan. Engere Freundschaft schloß er unter anderm mit Katherine Hepburn und dem inzwischen verstorbenen Cary Grant, sowie mit Marlon Brando, der noch heute zu seinen wenigen Vertrauten zählt. Auch mit Henry Fonda freundete er sich an, obwohl der ihn anfangs gar nicht mochte. Henrys Tochter Jane hatte sie bekanntgemacht. „Dad war auch so selbstquälerisch gewissenhaft und scheu im Leben, und er fühlte sich nur wohl hinter der Maske einer Filmrolle. Er konnte nur aus sich herausgehen, indem er ein anderer wurde. Mit Michael ist das ganz genauso. Er erinnert mich an ein verwundetes Tier. Er ist außerordentlich zerbrechlich.“ Jane Fonda stand Michael damals nahe. „Seine Intelligenz ist intuitiv und emotional, wie die eines Kindes. Wenn einem Künstler diese Kindlichkeit verlorengeht, versiegt sein kreativer Saft. Darum baut Michael eine Kunstwelt um sich herum, die seine Kreativität beschützt.“ Sie sagt schlicht: „Er ist ein Wunder.“

Während er zwar in Hollywood neue Bekanntschaften sammelt, igelt er sich doch immer mehr zuhause ein. Er verbringt ganze Tage in seinem abgedunkelten Zimmer vor dem Fernseher oder vorm Heimkino. „Ich würd gern alles mögliche machen, auf Bäume klettern oder nur so herumlaufen, aber alles, was wir tun, kommt in die Presse oder ins Fernsehen. Also bleibt man den ganzen Tag in seinem Zimmer. Wenn man ein Entertainer ist, dann wollen die Leute alles von einem. Sie reißen dir die Haare aus und treten die Absperrungen nieder. Es kann ganz schön angstmachen.“ Es ist aber wohl auch so, daß ihn seine Einsamkeit, wenn er sie mal nach außen durchbricht, von innen gleich wieder zurückholt. „Die Arbeit an Off The Wall war eine der schwersten Zeiten meines Lebens. Ich hatte damals wenig Freunde und fühlte mich sehr isoliert.“

Tja, wenn du ein Entertainer bist, dann weißt du eben nie, wer wirklich dein Freund ist... Nicht, daß die Leute im Showbiz alle einen schlechteren Charakter hätten als in anderen Berufen. In Hollywood ist es nur so, daß es keine Bekanntschaft gibt, die einem nicht irgendwann mal nützlich werden kann. Jedem, dem man nützen kann, kann man ebensogut schaden...  Aber was sind das auf die Dauer für Freundschaften, wo immer schon der eigne Vorteil mit im Spiel ist? Dieses Gift frißt sich bis in die Familien hinein. Michael merkt es inzwischen.

‚Ja, das Problem haben aber alle in Hollywood. Wenn deshalb gleich jeder zum Eremiten würde...!‘

Sicher, aber alle andern hatten eine Zeit, wo sie noch keine Stars waren. Und da kennen sie auch immer noch ein paar Leute, die nicht ganz so tief im Sumpf stecken wie sie. Doch nicht Michael Jackson. Den hat jeder schon immer als Star gekannt, er war noch nie irgendjemandes Seinesgleichen. Er kann niemanden kennenlernen, der nichts von ihm will; außer alternden Filmstars.

Und außer denen, die von jeher seine glühendsten Verehrer sind, die Kinder. Aber das soll ihn noch teuer zu stehen kommen.

Vorläufig ist seine liebste Ausflucht immer noch die Bühne. Und nach dem großen Erfolg von Off The Wall steht erst einmal der zweite Teil der Destiny-Konzerttournee auf dem Plan, der ihn nach Europa und Afrika führen wird. „Die Bühne ist die einzige Stelle, wo ich auflebe. Ich sage mir ‚Das ist es, hier bin ich zuhaus, hier gehöre ich hin, hierher wollte Gott mich haben‘. Ich fhle mich so frei und ungebunden auf der Bühne. Als ob ich zu allem fähig wäre. Der Auftritt ist besser als alles, was ich mir sonst vorstellen kann. Ja, ich bin regelrecht bühnensüchtig. Wenn ich nicht da oben stehe, fehlt mir wirklich was. Ich mach dann irgendwie dicht.“

Aber nicht jeder Auftritt ist so gut wie ein anderer. Jedenfalls nicht die Destiny-Tour mit seinen Brüdern, zu der ihn sein Vater noch hatte zwingen können. Denn immernoch war er ja Michaels Manager. Michael liebt die Bühne und haßt Tourneen. Das Leben in Hotelzimmern hat er nie gemocht. Wohl hat er nie eine Anstrengung gescheut, wenn sie kreativ war. Aber auf Tournee gelten die meisten Anstrengungen der Routine. Auch melden sich erstmals gesundheitliche Probleme. Während der Arbeit an The Wiz hatte er seinen Bruder Jermaine auf Long Island besucht und dort am Strand einen Erstickungsanfall erlitten. Ein nervöses Symptom? Jedenfalls stellten die Ärzte in dem Krankenhaus, in das er gebracht wurde, eine bedenkliche Verengung des Brustkorbs fest. Eigentlich dürfe er sich das Arbeitspensum, nach dem er so süchtig ist, gar nicht zumuten. Während der Destiny-Touren müssen denn auch wiederholt Konzerte abgesagt werden - Michael ist krank. Aber er hat wohl auch nicht viel Lust gehabt.

Ach nein, ganz so zurückgezogen ist Michael Jacksons Privatleben in diesen Jahren doch nicht. Er ist ja immer noch bei den Zeugen Jehovas (obwohl er sich erst 1981 taufen läßt). Ganz nach Vorschrift steht er an Straßenecken und verkauft den Wachtturm. Und welche Hausfrau liebt sie nicht, wenn sie des Sonntags vormittags, wenn gerade der Braten in der Röhre ist, an der Türe klingeln? Das alles macht Michael Jackson auch, treppauf treppab. Wie soll das denn gehen - ein allbekannter Popstar als Missionar?! Na, maskiert natürlich, Michael bekehrt die Menschen als actor; Schauspieler; Komödiant. „Aber die Kinder haben mich immer erkannt“...

Und dann entwickelt er eine neue Leidenschaft. Durch einen Hinterausgang stielt er sich aus Hayvenhurst und eilt immer, immer wieder nach Disneyland! Ja wirklich, immer wieder. Hat er denn nicht irgendwann alles ausprobiert, wird er‘s nicht irgendwann leid? Aber wegen der Attraktionen geht er doch gar nicht hin. Es ist wegen der Kinder. „Ich lasse mich gerne von ihren Reaktionen anregen, wenn ich ihrem Vergnügen, ihrer Freude zusehe. Ich gehe nach Disneyland, um mir dort meine tägliche Dosis Inspiration zu holen, und wenn ich dann zurückkomme, bin ich zu allem bereit. Den besseren Teil meines Erfolges verdanke ich der Inspiration durch die Kinder. Sie geben mir die Energie.“ Es ist also nicht bloß das Bedürfnis nach uneigennütziger Gesellschaft, das ihn zu ihnen treibt: die Suche nach Leuten, denen er trauen kann. Er fühlt sich ihnen auch sonst seelenverwandt. Und das sind die beiden Stücke, aus denen Freundschaft gemacht ist.

Aber Freundschaft ist ja nicht alles. Es gibt anspruchsvollere zwischenmenschliche Verhältnisse. Was ist damit? Zeitweilig sah man Michael Jackson in Begleitung von Tatum O'Neal, die in fast noch kindlichem Alter zum Filmstar geworden war. Später hatte er zu Brooke Shields, der Hauptdarstellerin der Blauen Lagune, ein ähnliches Verhältnis. Wie intim sie waren? Da wird einiges gemunkelt... Im März 1988 gab er eines seiner raren Interviews. Die Reporterin fragt ihn geradezu: „Kinder, na schön. Aber was ist mit Heiraten, mit eigenen Kindern?“ Er stutzt; dann: „Keine Ahnung... Wirklich - keine Ahnung!“ Aber in seiner Autobiographie, die drei, vier Wochen später in die Buchläden kam, hat er sich dann doch geäußert. „Die Sachen, die ich mit Millionen von Menschen teile, sind nicht die Art Sachen, die man mit einem einzelnen Menschen teilt. Viele Mädchen wollen wissen, was mich treibt - warum ich so lebe, wie ich lebe, warum ich das mache, was ich mache -, und versuchen, in meinen Kopf zu sehen. Sie wollen mich von meiner Einsamkeit erlösen, aber sie versuchen es so, daß ich glauben muß, sie wollen meine Einsamkeit mit mir teilen - was ich keinem wünschen kann. Ich glaube, ich bin der einsamste Mensch der Welt.“ So redet die Schwermut, die in Ruh gelassen sein will.

Off The Wall war noch nicht in den Läden, da hatten die Brüder schon mit der Arbeit an ihrem nächsten Gruppenalbum begonnen. Triumph erscheint im Herbst 1980. Es klingt nach Destiny, nicht nach Off The Wall. Die Jacksons machen inzwischen wieder Funk, nicht Disco; freilich auch in dem Sinn, daß die Melodik zu wünschen läßt - oft bleibt es bei einer Art Sprechgesang. Gehalten hat sich von den Liedern dieses Albums eigentlich nur Can You Feel It, eine allgemeine Versöhnungspredigt in einem bombastischen Gospel-Ton - aber auch schon ein bißchen Kinderhymne. Weniger wegen der Musik als wegen des von Michael selbst produzierten Video-Clips Triumph, dem das Lied unterlegt wurde und der für damalige Verhältnisse avantgardistische Special effects verwendete.

Während der darauffolgenden Triumph-Tournee kommt es zu einer neuen Jacksonmania. Die fünf spielten ihre unmittelbaren Konkurrenten, die Gruppe Earth, Wind & Fire, mühelos an die Wand. Der Erfolg war so überzeugend, daß Motown sich entschloß, die ersten drei LPs der Jackson5 sowie Michaels Soloalben Got to Be There und Ben neu aufzulegen. Doch keine solistische Darbietung von little Michael of the Jackson5 hatte je so durchgeschlagen wie Off The Wall. War nicht die Familienband zu einem Klotz an seinem Bein geworden? Sollte er sich nicht ganz auf seine Solokarriere konzentrieren? Michael war unschlüssig. Auf entsprechende Fragen antwortet er ausweichend. Auf jeden Fall braucht er ein besseres Management; Profis, keine Amateure (die mehr an sich als an ihn denken). Das andere würde sich finden.  

Bei CBS trifft er die richtigen Leute. Da ist zuerst der junge Steueranwalt John Branca, der dem Boß Walter Yetnikoff nahesteht; und natürlich Yetnikoff selbst, den Michael inzwischen ganz von sich überzeugt hat. Und als dritter im Bunde der etwas zwielichtige Werbeleiter der Plattenabteilung von CBS, Frank Dileo, der Stars wie Meat Loaf, Cindy Lauper und Boy George großgemacht hatte.

Der als Klatschmaul verschriene Musikjournalist Randy S. Taraborelli veröffentlichte 1992 eine Michael-Jackson-Biographie unter dem Titel The Magic and the Madness, Magie und Irrsinn. Sie handelt aber vor allem von Michaels Talent als Geschäftsmann; genauer gesagt, von den Leistungen John Brancas und Frank Dileos. Nach Taraborelli ist Michael zwar etwas sonderbar, aber längst nicht so, wie man es die Öffentlichkeit glauben macht. Das verrückte Image, das er sich gegeben habe, sei vielmehr eine Geschäftsidee von Frank Dileo gewesen. Er beschreibt das verzweigte kommerzielle Imperium, das John Branca rund um Michaels Firma MJJ Productions aufgebaut hat - hebt aber hervor, welchen Wert der ganz und gar nicht weltfremde Popkünstler darauf legt, jederzeit selbst das Heft in der Hand zu behalten: control! Taraborelli zeichnet das Bild eines sonst fast stinknormalen, aber genialen und mit allen Wassern gewaschenen Finanzjongleurs. Das sei zwar auch nicht der „ganze“ Michael Jackson, aber doch seine unbekannte „andere Seite“... 

Wahrscheinlich übertreibt er seinerseits, doch alle, die Michael geschäftlich kennengelernt haben, bestätigen: In diesen Dingen ist er kühl und nüchtern. Da hat er mit Leuten zu tun, die ihren Vorteil suchen. Rührseligkeit ist nicht am Platz.

Übrigens sind die Verflechtungen der diversen Jackson-Unternehmen wohl noch undurchsichtiger als sein Privatleben. Taraborellis Buch ist interessant, aber vielleicht auch nicht verläßlicher als die sonstigen Mutmaßungen der Klatschpresse.

(Von Taraborelli stammt allerdings auch der Satz: „Geld interessiert ihn überhaupt nicht.“)

Das Jahr 1982 bringt Michael wieder ins Filmgeschäft; aber nur mittelbar. Er soll die Geschichte von Steven Spielbergs Welterfolg E.T. für die Schallplatte nacherzählen - Quincy ist der Produzent. „Wenn E.T. nicht zu Elliott gefunden hätte, hätte er zu Michael gehen müssen“, begründet Spielberg seine Wahl. Er hatte ihn kurz zuvor in Hollywood kennengelernt und zählt bis heute zu seinen Freunden. „Michael ist der letzte lebende Unschuldige, der sein Leben voll unter Kontrolle hat. Ich kenne niemand, der ist wie er. Er ist ein emotionales Sternenkind.“ Die Aufnahmearbeiten mit Quincy beginnen im Herbst. Michael war von dem Film tief bewegt. Er ist furchtbar sentimental. Bei den Aufnahmen mußte er immer wieder heulen, wie das kindliche Publikum unten im Saal. Quincy und Spielberg beschlossen, seine Schluchzer auf der Platte zu lassen. The E.T. Storybook wurde ein Verkaufsschlager.

Spielberg ermutigte Michael in seinem Wunsch, zum Film zu gehen. Ebenso seine Freundin Jane Fonda. Es wird kolportiert, wie sie eines Tages in seinem brandneuen Rolls Royce saß und verzweifelt nach einer passenden Rolle für ihn suchte. Plötzlich rief sie: „Ich hab's! Du spielst Peter Pan.“ Michael seien die Tränen gekommen. „Warum sagst du das?“ „Na, du bist Peter Pan!“ Nach einer Pause murmelte der verdatterte Sänger: „Weißt du, die Wände in meinem Zimmer hängen von oben bis unten voll mit Bildern von Peter Pan. Ich identifiziere mich ganz und gar mit dem Verlorenen Jungen im Nimmerland.“

Das Leitmotiv der größten Künstlerkarriere aller Zeiten ist angeschlagen: der ungezogene Junge, der sich weigert, erwachsen zu werden. Peter Pan wird ihn nicht mehr loslassen. Doch im Film gespielt hat er ihn bislang nicht. Steven Spielberg hatte Michael ursprünglich für seine eigene Peter-Pan-Version vorgesehen, aber lange Zeit kam nichts zustande, weil sich die Erben des Buchautors James Barrie querstellten. Als 1991 schließlich Hook in die Kinosäle kam mit Dustin Hoffman als finsterem Piratenkapitän, da spielte ein anderer den Peter. Na gottseidank! Peter Pan als Familienvater? Das konnte ja nicht gutgehen, nichtmal bei Spielberg. Hook ist herzlich schlecht. Daß aber The Real Peter Pan auf seiner Neverlandranch dieselbe Nummer einmal im wirklichen Leben ausprobieren würde, wer hätte das geahnt...

Neben den Aufnahmen für die E.T.-Platte arbeiten Michael und Q bereits an einem neuen Album. Es sollte Starlight heißen. Als Trumpfkarte hatte Michael sich etwas ausgedacht: ein Duett mit seinem neuen Freund Paul McCartney! Für ihn hatte er das Lied The Girl Is Mine geschrieben, eine seichte Sache, aber ein Pendant zu Girlfriend, Pauls Beitrag zu Off The Wall... Sie hatten das Stück bereits im März 1982 in Los Angeles aufgenommen. Ein weiteres Duett der beiden, Say Say Say von McCartney, sollte auf dessen Album Pipes Of Peace erscheinen. Michael, der sich inzwischen auch mit Pauls Ehefrau Linda angefreundet hatte, lernte viel von den beiden. Mehr, als McCartney und den andern beiden überlebenden Beatles recht sein konnte! Paul hatte nämlich begonnen, Copyrights für Popsongs aufzukaufen, und erzählte Michael, wieviel Geld man damit verdienen kann. Als sein gelehriger Schüler 1985 erfuhr, daß der sogenannte ATV-Katalog zum Kauf angeboten wurde, zu dem auch... die meisten Stücke von John Lennon und Paul McCartney gehörten - da zögerte er nicht lange, bot mit, und stach mit einem Angebot von 47,5 Mio. $ den Ex-Beatle aus. Das hat wohl ihre Freundschaft eine zeitlang getrübt.

Im Sommer 1982, während Michaels fieberhafter Arbeit an E.T. und seinem neuen Album, spitzen sich die Spannungen im Hause Jackson dramatisch zu. Katherine läßt sich wiedermal scheiden. Wegen ehelicher Untreue natürlich, aber diesmal auch wegen Joes windigen Finanzgebarens. Genauer gesagt, das Ehepaar Jackson ist so gut wie pleite. Joe muß die Hälfte des Hauses in der Hayvenhurst Alley an Michael verkaufen - für eine halbe Mio. $. Natürlich zieht Joe nicht aus, natürlich läßt sich Katherine nicht scheiden. Michael läßt die alte Nullachtfuffzehn-Villa abreißen und an ihrer Stelle ein riesiges Herrenhaus im Tudor-Stil errichten. Nein, eine bescheidene Hütte ist es nicht; der Neubau soll ihn drei Mio. $ gekostet haben. Aber vieles, was da sonst so rumsteht in Hollywood und Beverley Hills, ist protziger.

Doch warum zieht Michael Jackson, der wieder vergeblich auf die Scheidung und auf Joes Abgang gehofft hatte, nicht selber aus? (Inzwischen wohnen außer den Eltern nur noch die Schwestern LaToya und Janet dort.) „Wenn ich jetzt ausziehe, werd ich sterben vor Einsamkeit. Die meisten Leute, die zuhause ausziehen, gehn jede Nacht in die Disco. Sie haben jede Nacht Gesellschaft, sie laden sich Freunde ein. Aber all das tu ich ja nicht. Wirklich, ich würde vor Einsamkeit sterben.“ Und da bleibt er denn doch lieber bei den Eltern.

Allerdings ist er jetzt selber Hausherr. Er baut seinen Privatzoo aus: Außer seiner Boa constrictor namens Muscles, die er durch einen gleichnamigen Top-Ten-Hit für Diana Ross berühmt gemacht hatte, sind da jetzt die beiden Lamas Lola und Louie, eine Ziege namens Mr. Tibbs, die Giraffe Jabbar, ein paar Hirsche und einige Pfauen... Und außerdem verwandelt er das Anwesen in einen Rummelplatz, eine Art Klein-Disneyland. 

Und hierher kann jetzt auch er seine Freunde einladen. „Ja, der Grund, warum ich so gerne in diesem Haus wohne“, erzählt er einem Besucher, der heimlich ein Tonband mitlaufen läßt, „ist, daß ich hier mit Kindern zusammensein kann, daß sie hierherkommen können.“ Denn „mit Kindern zusammensein ist magic. Wenn ich magic sage, dann meine ich Wunder, Aufregung, das Unerwartete, einfach Entfliehen...“

Ach, während der Arbeit an seinem neuen Album wird er noch oft Gelegenheit haben, vom Entfliehen zu träumen! Daß ihm CBS im Nacken sitzt und einen viel zu engen Abgabetermin aufdrücken will - grademal drei Monate! -, ist noch das wenigste. ‚Michael und Abgabetermin, das paßt nicht zusammen‘, sagen nicht nur seine Mitarbeiter, sondern auch seine gedulderprobten Fans, und selbst CBS wird sich schließlich daran gewöhnen... 

Nein, er hat kreative Probleme. Und außerdem hat er das Gefühl, daß man ihn hängenläßt. Off The Wall war nur der Anfang gewesen, jetzt ging es erst richtig los. Zu seiner tiefen Enttäuschung hatte er für sein erstes eigenes Album nur einen einzigen Grammy - die jährliche Auszeichnung der amerikanischen Schallplattenindustrie - erhalten, und zwar als „bester Rhythm&Blues-Sänger“. Erst war er beleidigt, dann wütend. Das nächste Album mußte alles Dagewesene in den Schatten stellen. Schon als kleiner Junge habe er geträumt, die meistverkaufte Schallplatte aller Zeiten zu machen, erzählt er in Moonwalk. Jetzt war die Zeit gekommen! Aber Quincy Jones teilte nicht seine Zuversicht. Off The Wall hatte alle Erwartungen übertroffen, auch seine. Daß sich solch ein Erfolg wiederholen ließe, glaubte er nicht. „Wärstt du sehr enttäuscht, wenn sich das neue Album nicht so gut verkauft wie Off The Wall?“ hat er Michael gefragt. Michael war gekränkt. „Die Leute sehen einfach nicht, was ich sehe. Sie haben zuviele Zweifel. Man kann nicht sein Bestes geben, wenn man an sich zweifelt. Wenn man nicht selber an sich glaubt, wer dann? Es ebensogut zu machen wie beim letztenmal, ist nicht gut genug. Das ist die Einstellung ‚Nimm mit, was du abbekommst‘. Dabei braucht man sich nicht anzustrengen, da muß man sich nicht weiterentwickeln.“

Manchesmal war er niedergeschlagen und rannte davon aus den Westlake Studios - zu den Leuten, die ihm am liebsten sind. „Dann schnapp ich mir mein Rad und fahre zu irgendeinem Schulhof, bloß um unter Kindern zu sein. Wenn ich dann ins Studio zurückkehre, könnte ich Berge versetzen. So wirken Kinder auf mich. Es ist magic.“

Auch mit der eigenen Leistung war Michael nicht zufrieden. „Ich bin ein Perfektionist, ich arbeite, bis ich zusammenbreche“, denn „jeder einzelne Song muß so gut sein, daß man ihn auch als Single rausbringen kann.“ Doch als dann das Album fertigwar, das inzwischen Thriller hieß, und sie es sich im Studio anhörten, da „klang es so beschissen [scrappy], daß mir die Tränen kamen. Ich sagte meinen Leuten: ‚Wir werden es nicht veröffentlichen. Ruft CBS an und sagt ihnen, daß sie dieses Album nicht bekommen.'“ Bei der Abmischung der verschiedenen Soundtracks hatte man des Zeitdrucks wegen - The E.T. Storybook war auch noch nicht fertig - gepfuscht. Es mußte alles neugemacht werden... CBS hatte keine Wahl. Sie mußten den Termin um zwei Monate verlängern.
Am 1. Dezember 1982 wurde Thriller ausgeliefert. Es wurde das meistverkaufte Album aller Zeiten. Bis heute wurden weltweit gut siebenundvierzig Millionen Platten verkauft. Seither kämpft Michael Jackson wie ein Besessener gegen die Rekorde an, die er selbst aufgestellt hat. Vor ihm ist keiner mehr.

Einen Monat vor Erscheinen des Albums war als Auftakt die Single The Girl Is Mine in die Läden gekommen - das Duett mit Paul McCartney. Es konnte nicht ausbleiben, daß diese Besetzung die Neugier des Publikums erregte. Und das war auch nötig. Denn wiedermal befand sich der Plattenhandel in einer Absatzkrise; wegen der wirtschaftlichen Rezession, aber auch wegen der eben aufkommenden Video-Spiele, die das Entertainment seither nachhaltig revolutioniert haben. Da war es besonders schwer, Thriller zu einem Verkaufsschlager zu machen.

Was dann folgte, war eine wahre Supernova der Unterhaltungsindustrie. Es begann der größte Siegeszug um den Erdball, den je ein Künstler gefeiert hat - vergleichbar allenfalls mit dem Auftreten von Charly Chaplin am Anfang des Jahrhunderts. Der Triumphmarsch hält bis heute an. Was ist an Thriller so Besonderes?

Hier ein Wort in eigener Sache. Der Verfasser dieser Zeilen ist kein Jacko-Fan der ersten Stunde. Ich habe Unterhaltungsmusik nie gemocht. Ich habe mir überhaupt erst 1993 eine Scheibe von Michael Jackson zu Ohren geführt - veranlaßt durch ein ganz außermusikalisches Ereignis. Das war die Epoche von Dangerous. Über Nacht wurde der Liebhaber Brahms'scher Kammermusik zu einem Anhänger des zynisch-sentimentalsten Funk-Soul, den es je gab. Ich halte nicht Thriller für Michael Jacksons genialstes Werk, sondern Dangerous. Ich glaube, rein musikalisch ist das Erdbeben, das Thriller ausgelöst hat, gar nicht zu verstehen.

Unter den gerademal vierzig Minuten Musik - das absolute Minimum, das man den Käufern einer LP zumuten kann - finden sich nur zwei wirklich starke, allerdings sehr starke Stücke, Billie Jean und Beat It; beide von Michael verfaßt. Dann sind da noch Wanna Be Startin' Somethin', das erste ‚gültige‘ Beispiel von „Jackson-Funk“; und das vieldeutige Human Nature von der Gruppe Toto mit seiner eigenartig suggestiven Melodie. Der Rest ist, im Ernst, nicht der Rede wert - auch nicht das Titelstück, das ohne den dazugehörigen Tanz- und Musik-Kurzfilm längst vergessen wäre.

Konnten aber Billie Jean und Beat It allein den Durchbruch von Thriller begründen? Oder besser: wenn ja, warum? Weil sie „einfach mal sehr gut sind“? Das ist keine Erklärung. Es gibt nicht nur in der E-, sondern auch in der U-Musik gute Stücke, die nicht den Erfolg haben, den sie verdienen; jedenfalls nicht beizeiten. Es muß noch etwas hinzugekommen sein.

Es ist das völlig neue Bild, das nicht nur Michael selbst, sondern, durch Michael, die ganze Unterhaltungsmusik von sich gegeben hat. Und in diesem Bild kam ein kultureller Wandel zum Ausdruck. Musikalisch gesehen, sind beide Stücke perfektester Crossover; gleichzeitig blütenweißer Rock'n'Roll und pechschwarzer Soul-Funk; ein schwerer Beat, der an Eindeutigkeit nichts zu wünschen läßt, und wilde Synkopen; polyrhythmisches Schweben und klare melodische Figur. „Bevor ich Beat It schrieb, hatte ich mir vorgenommen, die Art Rocksong zu schreiben, den ich mir selber kaufen würde, der aber zugleich etwas ganz anderes sein sollte als die Rockmusik, die man zu jener Zeit im Radio hören konnte.“ Eine der damals populärsten Rock-Bands führte den programmatischen Namen Middle Of The Road - und das bezeichnete eine musikalische Richtung, die von allem ein bißchen, und darum nichts richtig brachte; für jeden etwas ist für die meisten zu wenig. Das ist nicht Crossover, sondern laues Zeug. Davon unterschieden sich Billie Jean und Beat It radikal. Sie sind „richtig“ Rock und „richtig“ Soul, und doch beides zugleich. Nicht für alle ein bißchen, sondern für jeden volles Programm. Michael unterstrich es, indem er sich für das obligate Gitarren-Solo in Beat It den Hard-Rocker Eddie Van Halen holte (der für diese Mitarbeit prompt in seinem Milieu Ärger bekam).

Die beiden Kernstücke waren also geeignet, in vielen verschiedenen musikalischen Gemeinden ihre Hörer zu finden. Aber für ihre nachhaltige Wirkung war mehr nötig. Und das war Michael Jacksons spektakulärer Angriff auf das traditionelle Halbstarken-, Sex- und Macho-Image der Rock- und R&B-Musik. Seit den fünfziger Jahren dominierte den Markt für Unterhaltungsmusik die tanzwütige Generation der Fünfzehn- bis Zwanzigjährigen. Ihrem halbstarken Lebensgefühl mußte das Bild der - weißen wie schwarzen - Pop- und Rockstars entsprechen. Der Urtyp war Jerry Lee Lewis, Ende der Fünfziger Elvis Presleys schärfster Konkurrent um den Titel des King of Rock'n'Roll. Ein Wüstling, ein unerzogener Flegel, ein lauter Sexprotz mit unvermeidlicher Whiskyflasche in der Hand. Und dabei voll jämmerlichem Selbstmitleid nach dem Motto „keiner hat mich lieb“. Der ewige Halbstarke, der sich in der Pose des Rebellen gefällt, ohne daß man immer wüßte, wogegen da rebelliert wird; denn darauf kommt es auch nicht an, sondern auf - die Pose.

Billie Jean führt einen radikal anderen Gestus in den Starkult ein. Michael ist ausdrücklich kein Macho, der mit seinen Siegen über die Weiber prahlt, in Beat It – „Renn weg!“ - ist er ausdrücklich kein kraftstrotzender Haudrauf. Billie Jean is not my lover, er hat sie nicht ‚gehabt‘, er hat sich entzogen. In Beat It ist er nicht einmal mutig: You better run; you better do what you can. Don't wanna see no blood. Don't be a macho man!

Und das kommt an. Hat sich das halbstarke Publikum geändert ? Nein. Michael Jackson bringt ein anderes Publikums mit auf den Markt, sein Publikum: die Kinder. „Beat It war auf den Geschmack von Schulkindern zugeschnitten. Es hat mir immer Spaß gemacht, Stücke zu schreiben, die Kindern gefallen würden. Es bereitet mit Freude, für sie zu komponieren, und ich weiß, was sie mögen, weil sie ein sehr anspruchsvolles Publikum sind. Man kann sie nicht zum Narren halten. Für mich sind sie immer noch das wichtigste Publikum, weil sie mir wirklich viel bedeuten. Wenn ein Song ihnen gefällt, ist er ein Hit, egal wo er in den Charts steht.“

Über das Geheimnis von Michael Jacksons Ausstrahlung sind dieselben Worte gesagt worden wie über Elvis Presley: Es sei das verwirrende Miteinander von aufreizender Erotik und ungebrochen jungenhafter Unschuld. Und doch trennen sie Welten.

Der amerikanische Musiksoziologe Albert Goldman, der sich bei den Fans durch eine garstige Elvis-Biographie verhaßt gemacht hat, ist von Michael fasziniert: „Seine magische Aura ist das Wesentliche an Jacksons Attraktivität, denn weder beruht sein Glanz und Glamour - wie bei all seinen Vorgängern - auf dem Sex Appeal, noch besteht seine Anhängerschaft hauptsächlich aus Jugendlichen, die mit Frühlingsspielen beschäftigt sind. Michael Jackson ist der erste Held einer Jugendkultur, die wesentlich Kiddie Kulture ist. Er lebt in der unschuldigen Welt der Jungen und Mädchen kurz vor der Pubertät. Nie zuvor haben Kinder dieses Alters einen bedeutsamen Einfluß auf die Pop-Kultur ausgeübt. Nie zuvor bildeten sie den ausschlaggebenden Pop-Markt.“

Kinder waren es, die den größten Star aller Zeiten kreiert haben. Wäre das nicht an sich schon ein zivilisatorisches Phänomen, das die Aufmerksamkeit aller Soziologen und Kulturkritiker verdient? Nichts davon. Keiner will es wissen. Wo soviele Kinder mitspielen, das kann nichts Ernstes sein. Das Interesse am Phänomen Michael Jackson beschränkt sich bis heute auf Klatschblätter und Skandalreporter. Und denen war seine plakative Identifikation mit den Kindern noch nie ganz geheuer. War sie überhaupt echt? Oder doch nur ein Reklametrick...! Aber dann sah es so aus, als sei sie zu echt - und auf einmal redeten sie monatelang von nichts anderem.

Bei dieser Gelegenheit noch ein Wort zu Jerry Lee Lewis. Dessen kometenhafte Karriere nahm 1958 schlagartig ein Ende, als der Sexprotz ein Verhältnis zu einem dreizehnjährigen Kind hatte. Es war ein Mädchen.

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