oder
The best is still to come
(aus der 2. Ausgabe von 1999)
Lieber Leser,
als 1999 eine neue Auflage* meines Buchs nötig wurde, habe ich nichts Wesentliches zu ändern gefunden. Ein paar Schreibfehler, ein paar Aktualisierungen: der Präsident der Vereinigten Staaten war inzwischen ein damaliger Präsident, Jane Fonda war geschieden, und dergleichen mehr.
Aber HIStory war in den zwei inzwischen verflossenen Jahren weitergegangen, und die Frage, was aus der Jacko-Figur und dem Mythos vom Magical Child werden sollte, hatte sich zugespitzt.
Lesen Sie hier das entsprechende Kapitel ab dem Absatz, wo es von der Erstausgabe abwich:
The best is still to come
(aus der 2. Ausgabe von 1999)
Lieber Leser,
als 1999 eine neue Auflage* meines Buchs nötig wurde, habe ich nichts Wesentliches zu ändern gefunden. Ein paar Schreibfehler, ein paar Aktualisierungen: der Präsident der Vereinigten Staaten war inzwischen ein damaliger Präsident, Jane Fonda war geschieden, und dergleichen mehr.
Aber HIStory war in den zwei inzwischen verflossenen Jahren weitergegangen, und die Frage, was aus der Jacko-Figur und dem Mythos vom Magical Child werden sollte, hatte sich zugespitzt.
Lesen Sie hier das entsprechende Kapitel ab dem Absatz, wo es von der Erstausgabe abwich:
Tereza: „Erwachsen sollte ich nie sein.“
Calvero: „Wer will das schon!“
„Rampenlicht“
Nicht nur ist die Ansteckung ein Anzeichen der
Kunst,
der Grad der Ansteckungsgefahr ist Überdies auch
der
einzige Maßstab für die Vortrefflichkeit der Kunst.
Tolstoi
Er hat sowas Rührendes.
Gerhard Schröder
....
Die Tour geht weiter. Am 4. Januar ’97 geht
die HIStory-Tour in Ha-
waii zu Ende. Fast eine Million Zuschauer
in 42 Ländem. Nach sei-
niem Auftritt zu Liz Taylors 65. Geburtstag
am 12. Februar, wo er sei-
235
ner treuen Feundin I Love You, Elizabeth sang, war er wieder in den
Aufnahmestudios. Mitte Mai erscheint Blood On The Dancefloor,
pünktlich zur Prasentation des lange
angekundigten Kurzfilms
Ghosts — „Gespenster“ —
auf dem Festival in Cannes (außer Konkur-
renz). Es folgt ein Album selben Titels mit
Remix-Versionen einiger
HIStory-Songs und fünf
neuen Liedem — und sorgt für Befremden.
Neben dem Titellied zwei Stücke aus dem
neuen Film, sowie Mor-
phine und Superfly
Sister — ein zynisches (und kein bißchen „be-
troffenes“) Stück über Drogen und eines über
den Sexwahn: „Liebe
ist auch nicht mehr, was sie war!“ So pompös
und düster das eine
klingt, so karg und funky das andere. Ja
schon. Aber was sollen die
Remix-Nummern lüngst bekannter Stücke, wie
man sie sonst nur als
Beigabe auf den Singles findet? Sie sind
weder originell noch beson-
ders gelungen — eine Anbiederung an den
Techno-Geschmack der
Zeit. „Ein richtiges Album ist das nicht“,
urteilen die Fans. Es ist ei-
ne Art Promo-CD für HIStory und Ghosts. Sony
hat darauf bestanden,
sagen die einen. Andere fragen sich, ob nicht eine strategische Absicht
dahintersteckt: ein Album, bei dem von vornherein ausgeschlossen ist,
daß es „Epoche macht“. So als wolle er sagen: Ichbin’s leid, hinter
sagen die einen. Andere fragen sich, ob nicht eine strategische Absicht
dahintersteckt: ein Album, bei dem von vornherein ausgeschlossen ist,
daß es „Epoche macht“. So als wolle er sagen: Ichbin’s leid, hinter
meinen eigenen Rekorden
her zu rennen; Schluß damit! Gegenüber
Black&White bekennt der Meister, er habe die Remixes selber nicht
gemocht.
Black&White bekennt der Meister, er habe die Remixes selber nicht
gemocht.
Seit Jahren geht unter den Fans ein ängstliches Raunen über einen
bevorstehenden „Imagewechsel“ ihres Idols
um. Natürlich wollen
sie, daß er der Größte bleibt, doch dazu muß
er sich stets erneuern.
Aber weil er ist, wie er ist. haben sie
Herz und Verstand an ihn verlo-
ren — und so soll er bleiben. Im antiken
Mythos gab es die Figur des
puer aeternus, des Ewigen Knaben,
mal Dionysos, mal Adonis, der
wie der Frühling immer wieder sterben mußte,
um immer wieder neu
zu erstehen: immer jung und ganz der alte.
Für einen Showstar die
Quadratur des Zirkels. Aber wenn er sie
schafft, ist er der Größte.
Schafft er sie? Die Videos zu den HlStory-Liedern gaben Anlaß zum
Zweifel. Auch hier nichts Komisches mehr,
gedeckte Farben, kein
Tanz, höchstens Zorn, aber alles tiefernst.
Abstoßend gar das bedau-
erliche, häßliche Stranger In Moscow, das doch eine ganz andere Be-
handlung verdient hätte. Einziger
Lichtblick: das elektrische They
Don’t
Care
(brasilianische Fassung), ein rasanter rhythmischer Bil-
derbogen, wo Michael in alter Frische mit
einer Schar halbnackter
brauner Jungens tanzt wie je und zum Schluß
mit dem kleinsten und
236
schwärzesten von ihnen eine Ehrenrunde
dreht. Aber das hat ihm,
dem Vernehmen nach, nicht gefallen. Dafür
ist Stranger In Moscow
in Deutschland spurlos untergegangen. Weiß
das Publikum besser,
wer Michael Jackson ist, als er selbst?
Doch ist er ein hundertprozentiger Profi.
Er führt seine Comeback-
Kampagne generalstabsmäßig. Nur ist Planung auf diesem Feld
Kampagne generalstabsmäßig. Nur ist Planung auf diesem Feld
das wenigste. Wenn Image Building eine Kunst ist, nämlich ein ge-
wagtes Spiel mit tausend Unbekannten, dann
ist es Image Rebuilding
doppelt und dreifach. Die Kampagne
geschieht in zwei Phasen. Zu-
erst wird in einer Art „Image-Zapping“ das
vertraute Erscheinungs-
bild bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, um
dann wie Phönix den alten
Jacko „neu“ aus der Asche steigen zu
lassen. Beide Phasen über-
schneiden sich. In You Are Not Alone erscheint er bald als tragische
Unschuld wie Asta Nielsen, bald als Latin
Lover wie Rodolfo Valen-
tino, dann als liebeskranker Cupido und
schließlich mit Lisa Marie
wie in einem Softporno. In They Don ’t Care wird das Glitzerding in
T-Shirt und Schmuddeljeans zum König der
Schlichtheit, in Child-
hood und Earth Song geht er gar in Lumpen. Und in
Stranger In Mos-
cow - ach herrje!
In Blood
On The Dancefloor präsentiert er sich dann als Zuhälter
aus einer Hafenbar in Buenos Aires, und
seine Tanzschritte — irgend-
wo zwischen Tango und Flamenco —
wiederholen den merkwürdig
lateinischen Drive dieses R&B-Stücks.
Aber seinen Höhepunkt findet
das Image Rebuilding in dem halbstündigen Musikfilm Ghosts,
das Image Rebuilding in dem halbstündigen Musikfilm Ghosts,
der seit Ende Oktober in amerikanischen
Kinos im Vorprogramm
lauft. Zu der Musik von 2Bad („So’n Pech“) und den neuen Stücken
Ghosts und Is This Scary? singt, tanzt und mimt er
in fünf verschiede-
nen Rollen — Masken, unter denen er nicht
wiederzuerkennen ist. Die
Regie fiihrte Stan Winston, der für die
Special effects von Jurassic
Park und Terminator verantwortlich war. Ghosts hat eine „richtige
Story“, an der Horrorspezialist Stephen
King mitgearbeitet hat und
die man kaum mißverstehen kann. Ein „Maestro“
zieht in eine ame-
rikanische Kleinstadt, wo er die bigotten
Einwohner und vorneweg
ihren Bürgermeister (auch den spielt
Michael) gegen sich aufbringt:
Er sei unheimlich und bringe die Kinder auf
dumme Gedanken. Dies
sei eine nette, normale Stadt — normale
Leute, normale Kinder. We
want you out of town. We have a nice, normal town,
normal people, normal
kids. We don ’t need freaks like you telling them ghost stories.Die Kinder
waren nämlich schon bei ihm gewesen und er hatte „Sachen gemacht“
kids. We don ’t need freaks like you telling them ghost stories.Die Kinder
waren nämlich schon bei ihm gewesen und er hatte „Sachen gemacht“
237
Aber eins von ihnen hat
geplaudert, und nun geht’s dem Maestro
an den Kragen. Er wehrt sich. Don’t you kids enjoy when I do my little
(vieldeutige Handbewegung ) — you know? “Ihr Kinder mögt doch
mein — na ihr wißt schon!“ Wie soll man da nicht an den Chandler-
Skandal denken? Viele Fans hätten gewünscht, er wäre schon früher
so bissig gewesen. — Und dann geht die Vorstellung erst richtig los.
Die folgenclen drei Tanznummern überbieten alles, was man an
Verbindung von Komik und Grazie bislang gesehen hat. Zuerst
tanzt der Maestro zu 2Bad; völlig neue Choreographie, keine Spur
mehr von Motown 25 — und auf einmal klingt das Stück, das nicht
jeden Fan begeistert hatte, ganz anders in den Ohren. Danach tanzt
ein wahrhaftiges Skelett zu Is This Scary? — Michaels Tanzbewe-
gungen werden elektronisch 1:1 auf das Computerbild übertragen.
Und schließlich muß der Bürgermeister selbst auf die Tanzfläche:
an den Kragen. Er wehrt sich. Don’t you kids enjoy when I do my little
(vieldeutige Handbewegung ) — you know? “Ihr Kinder mögt doch
mein — na ihr wißt schon!“ Wie soll man da nicht an den Chandler-
Skandal denken? Viele Fans hätten gewünscht, er wäre schon früher
so bissig gewesen. — Und dann geht die Vorstellung erst richtig los.
Die folgenclen drei Tanznummern überbieten alles, was man an
Verbindung von Komik und Grazie bislang gesehen hat. Zuerst
tanzt der Maestro zu 2Bad; völlig neue Choreographie, keine Spur
mehr von Motown 25 — und auf einmal klingt das Stück, das nicht
jeden Fan begeistert hatte, ganz anders in den Ohren. Danach tanzt
ein wahrhaftiges Skelett zu Is This Scary? — Michaels Tanzbewe-
gungen werden elektronisch 1:1 auf das Computerbild übertragen.
Und schließlich muß der Bürgermeister selbst auf die Tanzfläche:
Ghost. Eben hatte das Gerippe den „magersüchtigen“ Michael
karikiert — jetzt tanzt er als kleiner dicker Spießer so grotesk wie
nie, und das will was heißen. Am Ende hat der Maestro alle an-
karikiert — jetzt tanzt er als kleiner dicker Spießer so grotesk wie
nie, und das will was heißen. Am Ende hat der Maestro alle an-
gesteckt, Kinder und Erwachsene — bis auf
den Bürgermeister,
doch der ergreift die Flucht…
doch der ergreift die Flucht…
Waren bei Moonwalker Zweifel an seinem schauspielerischen
Talent aufgekommen, so hat er sich mit Ghosts glänzend rehabilitiert.
Wären da nicht im Abspann die Making-of-Bilder — man mag nicht
glauben, daß unter all den Masken wirklich Michael Jackson steckt.
Namentlich den selbstgerechten Bürgermeister gibt er so überzeugend,
daß man wetten möchte, sogar eine fremde Stimme zu hören! Erst-
mals übrigens präsentiert er sich hier nicht mehr als ewiger Einzel-
gänger; dfer Maestro gebietet über eine ganze „Familie“ von Gespen-
stern; angemodertee Leichen aus mehreren Jahrhunderten, deren
gruselige Schönheit Polanskis Tanz der Vampire in den Schatten stellt.
Sie laufen die Wände hoch, tanzen an der getäfelten Zimmerdecke
und stehen an komischer Grazie ihrem Meister in nichts nach. (Es
ist viel mehr „echt“ in dieser Gespensterkomödie, als man bei Stan
Winstons aufwendiger Computertechnik vermuten mag.)
Am 31. Mai ’97 beginnt im ausverkauften
Bremer Weserstadion der
zweite Teil der HIStory-Tournee. Am nächsten Tag wird Ghosts auf
SAT1 gesendet. ln Deutschland werden zehn
Konzerte vor insgesamt
660 000 Teilnehmern stattfinden — und
wieder ist es ihm gelungen,
im heimlichen Wettrennen mit den Rolling
Stones deren Besucherre-
238
kord vom Vorjahr um fünfzigtausend zu überholen.
Das Berliner
Olympiastadion ausverkauft, das Münchner
sogar zweimal! (Im Au-
gust sendete SAT1 eine Aufzeichnung der Münchner
Konzerte, die
inzwischen mehrfach wiederholt wurde.)
Weiter geht’s durch Euro-
pa, von Spanien bis Skandinavien. An seinem
neununddreißigsten
Geburtstag steht er in Kopenhagen auf der Bühne.
Fünf Tage darauf,
als Prinzessin Diana in Paris verunglückt
war, widmet er ihr sein
Konzert in Ostende. Und dann, im Oktober,
spielt er erstmals in Süd-
afrika — vor über 200 000 Gästen. Insgesamt
waren es diesmal mehr
als zwei Millionen Menschen, die die Show
gesehen haben. Kom-
merziell war die Tournee jedenfalls ein
Erfolg. Marcel Avram hat
keinen Grund zur Klage — außer daß er die
Tournee hinter Gittern
verfolgen mußte. (Michael hat ihn später dort
besucht.) War sie auch
sonst ein Erfolg? Zum Eröffnungskonzert in
Prag hatte ein dortiges
Boulevardblatt die Kindersex-Geschichte
nochmal aufgewärmt, und
auch in Asien gab’s ein, zweimal Skandal.
Doch in Deutschland ge-
nierte sich selbst jenes Hamburger
Revolverblatt und tat, als könne es
sich an nichts mehr erinnern. Als hätten
sie alle sowas wie ein
schlechtes Gewissen. Entsprechend verlegen
waren die ersten Kom-
mentare. Aber dann veränderte sich während
der zehn Wochen, als
die Show durch Deutschland zog, die Tonlage
unmerklich. Wurde
anfangs noch verhalten gemault, ganz so neu
seien seine Dar-
bietungen ja nun doch nicht mehr, machte
sich nach und nach die Er-
kenntnis breit, daß gerade darin die
Bedeutung des Ereignisses lag:
Michael Jackson präsentierte eine Art „Summe“
der Showkunst —
The
State Of The Art,
wie ein Berliner Blatt formulierte. Fast schien
es, als sei er als „Mr. Showbiz persönlich“
den Niederungen des All-
tagsgeschäfts entrückt und jenseits aller
Kritik. Schon irgendwie toll,
wie er das macht; aber das ist ja schließlich,
was man von ihm
erwarten darf. Nur gelegentlich mal ein
verhohlenes Staunen: Wie
dieser kleine Mann ganz allein so eine
riesige Bühne füllt! Nicht
schlecht, ehrlich.
Aber eine Ratlosigkeit bleibt am Ende doch.
Steigern läßt sich
seine Performance nicht mehr. Muß er sie
also immer wiederholen?
Das hat sie nicht verdient. „Noch größer“
kann er sie aber auch nicht
mehr machen. Sie hat ihre quantiative
Grenze erreicht und erinnert
gelegentlich an eine athletische
Leistungsschau: „Wie steht er das
nur durch — zweieinhalb Stunden lang, immer
wieder!“ Doch dabei
übersieht man dann seine Kunst. Solche
Verschwendung zeugt von
239
jugendlicher Kraft, aber ein Klassiker
vergibt sich was dabei.
Schließlich hatte die Gala für Liz Taylor
doch bewiesen: Das hat er
nicht mehr nötig. Er versteht es auch mit
einfachen Mitteln, sein Pu-
blikum anzustecken.
Ein darstellender Künstler ist in einem
Dilemma. Er mag noch so
gut sein — Wiederholung wird schließlich
fad. Nur — auf der Jagd
nach dem „letzten Schrei“ macht er sich lächerlich!
Wenn sich Ma-
donna irgendwann aus dem Geschäft
zurückzieht, wird man wohl im-
mer noch das eine oder andere Lied von ihr
bringen. Aber als Figur
wird sie nicht überdauern, denn dafür fehlt
es ihr an Eigenem. Frank
Sinatra war schon zu Lebzeiten ein
Klassiker und füllte die Säle bis
zum Schluß; aber als ein lebendes Fossil —
daß er irgendwann mal
wieder auf Platz eins der Charts rücken würde,
davon durfte er längst
nicht mehr träumen. Count Basie hatte die Lösung
benannt: „Du
mußt zu einer Institution werden“; aber
doch nicht zu sehr, sonst
wirst du zur Karikatur. Daß sich Michael
Jackson zum Denkmal sei-
ner selbst erheben will, hatten die Statuen
gezeigt, die er bei Erschei-
nen von HIStory
in den europäischen Hauptstädten aufstellen ließ.
Aber ob eine Figur zum Denkmal taugt, hängt
von ihrem Gehalt ab.
Sie muß unverwechselbar sein — aber auch
vieldeutig genug, um noch
Fragen aufzuwerfen, sonst geht man achtlos
dran vorbei.
Die HIStory-Tour
sollte besiegeln, was das Album eingeleitet hat-
te: seine Riickkehr auf den Thron. Er ist
nicht „gefallen“, er ist der
Größte wie eh und je. Aber ein Schlußstrich
bezieht sich auf Vergan—
genes. Und ein Denkmal seiner selbst weist
auch nicht gerade in die
Zukunft. Was also bleibt nach all dem Image
Rebuilding von der
Jacko-Figur? Die eigentliche Geburtsstunde
des Künstlers — und des
Schauspielers zumal, meinte der dänische
Philosoph und Theatemarr
Sören Kierkegaard — sei seine „Krise“. Wenn
er nämlich aufhört, nur
so zu sein, wie er „von ganz alleine“ ist,
und sich mit voller Absicht
ein zweites Mal zu dem macht, was er werden
soll, weil er es „im
Grunde“ immer war. Mit dem geborenen Künstler
Michael Jackson
ist das allerdings komplizierter. Seine
Verdoppelung zum Ewigen
Knaben Jacko hatte er nur zur Hälfte
gemacht. Zur andem Hälfte war
auch sie ihm ganz von allein passiert. Ganz
„fertig“ war sie jedenfalls
nicht.
Das Kindliche ist eine ständige Versuchung
für die Erwachsenen.
In ihrem geschäftigen Alltag haben sie sich
um ein’ Gutteil der Mög-
lichkeiten gebracht, die sie einmal hatten.
Daher die immer neue Be-
240
geisterung für Wunderkinder aller Art: „Sieh
an, das hättest du sein
können!“ Daß einer aus dem Sentiment fiir
das Kindliche Kapital
schlägt, wäre nun nicht neu gewesen. Aber
Michael Jackson verkör-
pert nicht einfach nur das Kindliche und
basta; das war Peter Pan. Mit
Ghosts ist nun eine
bedeutsame Verschiebung im Sinn der Jacko-Fi-
gur geschehen. Zum „Maestro“ hat er sich
wirklich gemacht. Das ist
einer, der wohl auch selber auftritt, sogar
in der ersten Reihe; der aber
vor allem die andern „in Szene setzt“ —
seine Gespensterfamilie
ebensowohl wie das Publikum. Eine mythische
Gestalt auch er — aber
eine andere als Peter Pan. Der war noch
selbst der Junge, der nicht er-
wachsen wurde und sich ins Nimmerland verdrückte,
wo die Welt ein
Märchen ist. Der Maestro hingegen ist ein Hexer. Das moderne Wort
Hexe stammt von dem althochdeutschen hagazussa, was wahrschein—
lich so viel heißt wie „eine, die auf dem
Zaun reitet“. Der Zaun — das
wäre die Grenze zwischen der sichtbaren und
der unsichtbaren, der
sinnlichen und der übersinnlichen Welt;
oder zwischen Kindheit und
Erwachsenheit. Der Maestro ist ein
Zwischenträger, ein Schmuggler,
ein Schieber. Er ist auf beiden Seiten „ansteckend“,
denn er gehört
beiden an. Nicht halbe—halbe, sondern jeder
voll und ganz. Wenn Er-
wachsensein bedeutet, einen Beruf ergreifen
und es „zu was bringen
in der Welt“, dann war Michael Jackson
erwachsener als irgendwer.
Daß er sich von da aus „wieder“ zum Kind
machte, das er niemals
war, das ist der Witz. Er stellt das
Kindliche dar, wie es in einer er-
wachsenen Welt, gegen eine erwachsene Welt
kämpft und — siegt.
Das sich zum Unternehmer macht, ohne aufzuhören,
ein Spieler zu
sein. Der Maestro ist die Jacko-Figur nach
ihrer Krise. Neu, aber
ganz der alte. Der ewige Knabe, aber ganz
erwachsen.
Auch nach dieser Tournee, die ja einen
Schlußstrich ziehen sollte,
verschwand er wieder in der Versenkung.
Ganz unverständlich war es
diesmal nicht — immerhin war er nun
Familienvater. Aber doch kein
gewöhnlicher. Während der Tournee war
Ehefrau Debbie in Los An-
geles geblieben — sie mußte ja arbeiten
gehn! Söhnchen Prince war
selbstverständlich beim Vater. Wie denn —
auf Tournee, von einem
Hotel ins andere? Diesmal schlug Michael —
jedenfalls in Europa —
ein festes Quartier auf, in Paris, und
dorthin kehrte er buchstäblich
jede Nacht, nach jedem Konzert zurück, um
dem Kleinen die Win-
deln zu wechseln („ungem“, wie er einer
Joumalistin anvertraut).
Applehead nennt ihn sein
Vater, wegen seines kullerrunden Kopfs,
24 l
seine Haut wird immer heller, das Haar
auch, und die Augen sind —
grün. „Wenn er schreit, muß ich nur singen
und tanzen, schon hört er
auf.“ An zwei, drei Wochenenden bekommen
sie Besuch von der Ma-
ma. Ganz normales Eamilienleben — na ja,
fast. Und am 3. April ’98
bekommt Applehead dann schließlich eine
Schwester. Sie heißt Kat-
herine — nach Michaels Mutter; und Paris —
nach der Stadt, in der sie
erarbeitet wurde. Bald nach Abschluß der
Tournee kündigt Sony ein
neues Album des King Of Pop an. Aber die Fans wissen, daß nichts
so heiß gegessen wird, wie es gekocht
wurde: Das kann noch Jahre
dauern! Statt sich in die Aufnahmestudios
zu begeben, geht Michael
Jackson erstmal seinen übrigen Geschäften
nach. Er ist auf der Suche
nach geeigneten Standorten für die
Freizeitparks, die er mit Kingdom
Entertainment geplant hatte. Man sieht ihn
in Südkorea, in Polen —
wo ihm eine barocke Klosteranlage angeboten
wird —, in Kanada. Na—
mibia, Brasilien, in Deutschland — wo er
sich für die Harburg im
bayerischen Donauries interessieren soll —,
und schließlich in Süd-
afrika, wo er bei Nelson Mandela eine Woche
gemeinsam mit Li-
sa Marie verbringt; na wenn das nichts zu
bedeuten hat! Aber Debbie
meint nur, sie seien halt immer noch
Ereunde.
Im Mai sieht man Michael Jackson schließlich
auf den Jungfern-
inseln in der Karibik. In seiner Begleitung
der farbige Geschäftsmann
Don Barden. Sie suchen gemeinsam nach
Grundstücken fur eine Ho-
tel- und Freizeitanlage. Kingdom
Entertainment und Prinz Al Walid
gehören anscheinend der Vergangenheit an. Freilich
hatte der Prinz
sein Vermögen bislang mit spekulativen
Transaktionen erworben, mit
Investitionen in industrielle Projekte hat
er weniger Erfahrung. Viel-
leicht lagen die Geschäftsinteressen der
beiden doch weiter auseinan-
der, als sie dachten. Über die Umstände
ihrer Trennung ist aber nichts
durchgesickert; nicht einmal, wie endgültig
sie ist. Taugt Don Barden
besser zum Partner bei Michael Jacksons
Versuch, die Vorherrschaft
des Disney-Konzerns im Reich von Kiddie Kulture
zu brechen? Sein
Vermögen stammt aus dem Glücksspiel. Er
betreibt etliche Kasinos,
unter anderem in Michaels Geburtsort Gary. Jackson-Burden Enter-
prises
Worldwide
verfügen (zu gleichen Anteilen) über ein Kapital
von 3 Milliarden Dollar und haben den
Zweck, Hotels, Vergnügungs—
parks und eben — Spielkasinos zu betreiben.
Na — das Spielen gehört
zwar in die Welt des ewigen Knaben Jacko;
das ist es ja, was ihn „an—
steckend“ macht. Aber daß damit neuerdings
Glücksspiel gemeint
ist, das verschlägt den Fans die Sprache.
242
Die erste Aktion des ungleichen Paars trägt
denn auch wirklich al-
le Züge einer Pokerrunde. Es geht um Majestic Kingdom, einen
Vergnügungspark in Detroit — dem Geburtsort
von Motown. Der
springende Punkt: In den dazugehörigen
Hotels soll ein Spielkasino
eröffnet werden. Der Haken: Die Konzession
für ein Kasino hat der
Bürgermeister von Detroit bereits an die
drei Branchenfiihrer verge-
ben. J.B.E.W.
bieten also den Bewohnern Detroits einen Deal an: Sie
investieren 1,7 Mrd. Dollar in einen
Freizeitpark (und schaffen so ein
paar tausend Arbeitsplätze), wenn jene per
Abstimmung ihren Bür-
germeister dazu verdonnern, die Konzession für
das Kasino draufzu—
legen! Michael Jackson macht zum erstenmal
Wahlkampf. Und zwar
richtig amerikanisch, auf allen Registem.
So kann man zum Beispiel
hören, J.B.E.W.
verdiene schon deswegen den Vorzug, weil es sich
um „das einzige hundertprozentig schwarze
Unternehmen in der
Branche“handele! Eigenartige Töne aus dem
Mund des „farbenblin—
den“ King Of Pop. Er ist zwar afrikanischer
Abstammung, das ist
wahr; aber schwarz ist nicht einmal Don
Barden — eher hellbraun.
Schwarz ist allerdings die Mehrheit der Wähler
in Detroit. Doch nur
vierzig Prozent der Wähler stimmen am 4.
August für Majestic King-
dom. Michael hat
gepokert und verloren. Auf seinem eigenen Feld
war ihm das nie passiert.
Ende September treten Jackson-Barden noch
einmal gemeinsam
auf — in Las Vegas bei einem Kongreß der Glücksspiel-Branche.
Es
heißt, J.B.E.W.
interessierten sich fiir den Erwerb des Hotel-Komple—
xes Desert
Inn (der immerhin auf 1,5 Mrd. Dollar taxiert wird). Nun
ist das Las Vegas der Neunziger Jahre zwar
nicht mehr das
Mafia-Nest der Fünfziger und Sechziger,
sondern eher ein Amüse-
ment „fiir die ganze Famille“. Doch Heal The World bei Roulette und
Baccara — entpuppt sich der Maestro am Ende
als bloßer Zocker?
Image Building hat im Showgeschäft ja
wirklich den Charakter
einer Pokerpartie. Nachdem monatelang
nichts mehr von ihm zu
hören war, wurde am 19. März ’99 nicht das
amerikanische, sondern
das deutsche Publikum von der Meldung verblüfft,
daß The King Of
Pop schon am folgenden Tag live in einer
Fernsehshow auftreten
würde! Sie heißt — passend zu Michael
Jacksons jüngsten Unterneh-
mungen — Wetten, daß?
Was sollte das werden? Eine Doublette des
Auftritts vor dreieinhalb
Jahren? Das kommt für den größten Star aller Zeiten doch nicht in Frage.
Dagegen — Michael Jackson bei einer Fernseh-Talkrunde,
Jahren? Das kommt für den größten Star aller Zeiten doch nicht in Frage.
Dagegen — Michael Jackson bei einer Fernseh-Talkrunde,
243
das wäre eine Weltpremiere. Das hat
er noch nie gemacht!
Weil er nämlich weiß, daß er es gar nicht
kann. Und weil es auch gar
nicht zu seinem Standing paßt. Entsprechend
verkrampft, mecha-
nisch wie ein Automat, stakst er am
folgenden Abend auf die Bühne.
Und wirklich — er kann‘s nicht. „Das
Jahrtausend geht zu Ende, und
ich dachte, ich kann nicht einfach dasitzen
und nichts tun ...“ Schon
nach drei Sätzen verliert er den Faden, ruft
seine Manager zu Hilfe
(Marcel Avram hatte extra Freigang
bekommen), und gleich rennt er
von der Bühne wie ein verschrecktes Kind,
das seinen Einsatz ver-
patzt hat. „Gespensterauftritt!“ titelt das
ungenannte Blatt. Das ver-
datterte Publikum muß von Dritten erfahren,
worum es überhaupt
geht: Ende Juni sollen unter der
Schirmherrschaft der UNESCO, des
Internationalen Roten Kreuzes und des Nelson Mandela Children’s
Fund — erst in Seoul,
zwei Tage drauf in München — zwei gigantische
Benefiz-Konzerte stattfinden „für die
Kinder der Welt“, an denen al-
les teilnimmt, was in Pop und (na ja)
Klassik Rang und Namen hat.
Eine Art We Are The World, aber diesmal international statt ameriko-
afrikanisch; und live statt bloß im Studio.
afrikanisch; und live statt bloß im Studio.
Daß er in Gottschalks Plauderrunde keine fünf
Minuten durchhal-
ten würde, wußte er vorher. Und genau das
war die Botschaft, die
beim Zuschauer ankommen sollte! Denn nun
fragt es sich: Warum
hat er sich diese Qual dann überhaupt
angetan? Tja — weil es ihm so
sehr am Herzen lag… Wäre es nicht um eine Benefiz-Veranstaltung
gegangen, hätte dieser PR-Stunt nicht
funktioniert. (Und wäre nicht
bei Gottschalks voriger Sendung wieder
Gerhard Schröder — nun als
Kanzler — aufgetreten, wäre Michael Jackson
auch gar nicht gekom-
men.) War also alles nur inszeniert? Nein,
es ist das alte Paradox. Es
ist alles echt; so echt, daß erstmals auch
unser ungenanntes Blatt statt
der gewohnten Häme sowas wie Anteilnahme
durchscheinen läßt.
Aber so echt, wie es ist, wird es auch zur
Show gestellt. Thomas Gott-
schalk, zum zweitenmal gefoppt, zeigt
dennoch Mitgefühl: „Er ist
ein menschenscheuer Kerl. Er kann nicht
anders. Er hat auch keine
Arroganz oder irgendwelche Allüren. Aber
ich habe gemerkt, daß er
in Panik gerät, wenn er reden muß. Er hat
mich flehend angeschaut
und hat dann zwei seiner Leute auf die Bühne
geholt. Seine Sprache
ist seine Musik.“ Das ungenannte Blatt
sekundiert: „Die Massen be-
herrscht er — vor Einzelnen hat er Angst.
Es gibt keinen scheueren
Menschen als ihn. Wenn wir ihn dann auf der
Bühne sehen, haben wir
einen ganz anderen Menschen vor uns. Da weiß
er sich auszudrücken
244
wie kein zweiter.“ Das Absurde daran: Um zu
erscheinen, wie er
ist, braucht der größte Star aller Zeiten
einen Theater-Coup. Tags
drauf ist er, erstmals seit Jahren, wieder
auf Seite eins der Boulevard-
blätter: Ob er denn „in diesem Zustand“ überhaupt
noch auftreten
kann?! Und so ist dem Münchner Konzert die
Aufmerksamkeit des
Publikums jedenfalls sicher
Vier Wochen später eine weitere Etappe im
Image Rebuilding:
Michael Jackson gibt ein Interview —
ausgerechnet der Londoner Yel-
low
Press!
Zwar nicht gerade der Sun, sondern
ihrem Erzrivalen
Daily
Mirror,
mit dem er eben erst einen jahrealten Rechtsstreit
wegen seiner angeblichen Gesichtsnarben
beigelegt hatte. Bemer-
kenswert auch der Ort der Unterredung:
Londons Nobelkaufhaus
Harrod
’s.
Und wer sitzt dabei? Harrod’s Eigentümer, der ägyptische
Milliardär Mohammed El Fayed; der Welt
besser bekannt als Vater
von Dodi, der gemeinsam mit Prinzessin
Diana verunglückt war. Wir
erfahren von Michaels langjähriger
Freundschaft mit Diana, daß er
El Fayed seit zwanzig Jahren kennt, daß er
neuerdings Fußballfan ist
und daß er es gern sähe, wenn seine Kinder
mal ins Showgeschäft
gingen, weil er ihnen dann was beibringen könne,
und daß er ihnen
noch nie seine eigene Musik vorgespielt
hat. Bis dahin nichts Aufre-
gendes. Dann spricht er erstmals von seiner
Schwermut. „Wär’s
nicht wegen der Kinder — ich hätte längst
das Handtuch geworfen
und mich umgebracht“. Und nun kommt er auf
sein neues Album,
das schon zur Hälfte fertig sei. Es soll
das Beste werden, was er je ge-
macht hat, na klar. Denn, so sagt er beiläufig,
„ich glaube nicht, daß
ich danach nochmal eins machen werde“. Was
denn, er dankt ab?!
Nein, nein, Soundtracks für Filme werde er
machen und so, und viel-
leicht noch mal was mit seinen Brüdern.
Aber ein richtiges Soloal-
bum wohl nicht mehr: „Die Jahrtausendwende
ist die passende Zeit,
die Richtung zu wechseln!“ Also doch noch
eine Sensation. Und
gleich die nächste: „Ich möchte ins
Filmgeschaft einsteigen. Mo-
hammed und ich wollen eine Produktionsfirma
gründen und ein paar
Filme zusammen machen. Das wird toll.“ Der
Reporter fügt an: So-
gleich brechen die beiden Milliardäre in brüllendes
Gelächter aus
über all das Ungemach und die gebrochenen
Knochen, die sie in Hol-
lywood erwarten.
Na, noch ist das „letzte“ Album nicht
erschienen. Man wird se-
hen. Jedenfalls hat sich seine
Geschäftsverbindung mit Don Barden
erledigt. Uff, das war knapp, Michael. Aber
einen potenten Partner
245
braucht er, wenn er endlich Ernst macht:
richtiges Kino! Er hat seine
Talente noch lange nicht ausgeschöpft, Ghosts hat es demonstriert.
Und Kiddie Kulture bleibt der Markt der
Zukunft — gerade eben hat
die neueste Folge von Krieg der Sterne den bisherigen Rekordhalter
Jurassic
Park
als erfolgreichsten Film aller Zeiten überrundet. Doch
will er in Hollywood Control gewinnen, reicht Talent allein nicht aus.
Da geht’s um ganz andere Summen als im
Musikgeschäft. Dream-
Works hat vier Jahre
gebraucht, um sich gegen Disney durchzusetzen
(und hat es ausgerechnet mit
Zeichentrickfilmen geschafft). Aber da-
hinter stand die geballte Finanzkraft von
Spielberg, Geffen und Kat-
zenberger! Allein hätte Michael Jackson
keine Chance. Und Kino
macht man ganz oder gar nicht. Es ist wahr,
für neue Alben bleibt
dann kein Platz.
Daß auch sonst für ihn die Zeit gekommen
ist, die Richtung zu
wechseln, zeigte eine Klatschmeldung, die
knapp weitere vier Wo-
chen später durch die Blätter ging: Michael
Jackson verliert zum er-
stenmal einen Plagiatsprozeß! Der
italienische Schmusesänger Al
Bano hatte ihn verklagt. Michaels Will You Be There sei eine Kopie
seiner Schnulze I Cigni Di Balaka. Die Zivilklage ging acht Jahre
lang durch alle Instanzen und wurde im
Januar 98 endgültig abge-
wiesen. Die Folge war immerhin, daß
unterdessen Will You Be There
in Italien nicht gespielt und das Album Dangerous nicht verkauft
werden durfte — und auf HIStory fehlt das Stück. Aber nach
seiner
kostspieligen Niederlage im Zivilverfahren
bemühte Al Bano das
Strafgericht, und da hat er nun in der
ersten Instanz recht bekommen.
Rund dreißig Noten des einen Liedes fänden
sich tatsächlich in dem
anderen wieder. Allerdings wurde Michael
Jackson lediglich zur
Zahlung der Gerichtskosten verurteilt —
sage und schreibe 4.000 DM.
Die Presse hat das Urteil „salomonisch“
genannt. Schwer vorzu-
stellen, daß sich Michael Jackson die
Platten von Al Bano anhört, um
sie auszuschlachten. Sicher, es passiert,
daß beim Pizzabäcker im
Hintergrund ein Liedchen dudelt, und Jahre
später fällt es einem ein
und man denkt, man habe es gerade selbst
erfunden. Nur, Michael
Jackson geht in keine Pizzerien.
Vorkommende Ähnlichkeiten diirf-
ten daher rein zufällig sein.
Aber gerade darum sollten bei Michael
Jackson die Alarmglocken
geschrillt haben. Al Bano hätte nie
geklagt, wäre Will You Be There
nicht ein Hit geworden — denn er hätte es
nie gehört. Die erste Vor-
aussetzung für einen Hit ist eine einfache
und dabei einprägsame Me-
246
lodie. Die Tonleiter besteht aber nur aus
zwölf Tönen. Irgendwann
sind die Möglichkeiten erschöpft. Als dem
deutschen Schlager-
produzenten Ralf Siegel unlängst
vorgeworfen wurde, er habe (für
Sürpris) sein eigenes Lied
kopiert, konterte er trocken: „Wenn man
im Lauf der Jahre 1.500 Lieder geschrieben
hat, kann es schon vor-
kommen, daß sich das eine mal ein bißchen
wie das andere anhört.“
Die Gefahr der Wiederholung liegt im Wesen
der Branche begründet.
Die Techno-Welle hat aus der Not eine
Tugend gemacht und ernährt
sich aus der Hinterlassenschaft der Disco-Ära.
Wie wär es übrigens, wenn Will You Be There ganz von Al Bano
stammte? Es wäre trotzdem nicht dasselbe
Lied. Weil er es nicht vor-
tragen kann wie Michael Jackson, gewiß.
Aber vor allem, weil er
nicht Michael Jackson ist, sondern eben Al
Bano. In den performing
arts ist ja nicht schon
das Lied das Werk, sondern erst der ganze act
mit allem Drum und Dran. Und darum spielt
die Aktualität, die Neu-
heit eine größere Rolle als in jeder
anderen Kunstform. An sich ist
Neuheit keine ästhetische Qualität und hat
mit dem künstlerischen
Wert gar nichts zu tun — das meinen nur die
Snobs, die auf den unte-
ren Etagen des Kulturbetriebs nicht weniger
zahlreich sind als auf
den oberen. Jedoch — der Künstler muß sich
erneuern, um zu „blei-
ben, was er ist“. Und in diesem Sinn ist
der Showkünstler noch etwas
„mehr Künstler“ als seine Kollegen aus dem
klassischen Fach. Am
allermeisten Michael Jackson.
Filmstar wollte er schon immer werden. Mit
Mut und Phantasie,
von denen er genügend hat, wird er die
passenden Rollen wohl fin-
den; es muß ja nicht Peter Pan sein. Manche
Figur der Weltliteratur —
oder wenigstens der deutschen — drängt sich
formlich auf, von E.T.A.
Hoffmanns Student Anselmus und Eichendorffs Taugenichts bis zu
Grimmelshausens Simplicius und Wolframs Parzival:
lauter Knaben,
die „erwachsen“ wurden, ohne, ach, daran zu
reifen. Aber es ist wahr,
es ist inzwischen zu wenig, daß er sie nur
spielt. Er muß sie auch in
Szene setzen. Ein Maestro, der nicht nur
auf, sondern auch hinter der
Bühne „ansteckt“. Ein Impresario, ein
Unternehmer, ein Hexer im
großen Stil. Die Idee vom Künstler als
einem marktbeherrschenden
Industriellen hat schon Richard Wagner
beseelt — weil sie die roman-
tischste von allen ist.
Der Weg dorthin wird steinig werden; aber
das war der Weg zum
größten Star aller Zeiten auch. Zur Probe
aufs Exempel ward das
Doppelkonzert in Seoul und München. Ort und
Zeit waren absichts-
247
voll gewählt. Am 25. Juni jährt sich zum fünfzigsten
Mal die Zwei-
teilung Koreas, und Deutschland hat seine
Spaltung vor gerade zehn
Jahren überwunden: nicht nur eine Wohltätigkeitsveranstaltung,
son-
dern auch eine Art politischer
Demonstration.
Ein Ereignis im Vorfeld ließ Schlimmes
ahnen. Michael Jackson
wird am 2. Juni bei Luciano Pavarotti zu
Hause in Modena erwartet —
zu dem immer wieder angekündigten, immer
wieder verschobenen
Duett We Are The World. Doch während des
Konzerts wieder die Ab-
sage: Michaels Söhnchen sei erkrankt. Das
Publikum murrt. Pava-
rotti: Può
morire, „er könnte sterben“! Folgt tags drauf in der Yellow
Press der ganzen Welt jene geschmacklose
Story von dem weinenden
Vater und seinem „sterbenden“ Kind — das
nach einigen Tagen schon
wieder recht munter war. Solche Geschichten
sind geeignet, auch ei-
ne innige Freundschaft zu beschädigen… Doch hieß es von beiden
Seiten, an Pavarottis Auftritt in München
solle sich nichts ändern.
Nicht nur ein Konzert, sondem auch eine
Demonstration. Eine po-
litische, aber auch eine für Michael
Jackson. Zum erstenmal wurden
die Infrastrukturen der lokalen Fan-Clubs
ins Kalkül der Firma
Jackson-Avram aktiv einbezogen. Rund um den
Erdball, von New
York bis Sidney, organisierten sie die
Anreise der Fans, um dem King
Of Pop bei seiner Ankunft in seinem Münchner
Hotel den gebühren-
den Empfang zu bereiten. Im Gegenzug wurde
ihnen — auch ein
Novum — ein regelrechtes Animationsprogramm
beschert. Für die
Musik sorgt der Bayerische Rundfunk, für
die Imitatoren-Show sor-
gen die Clubs — der jüngste Tänzer ist gerademal
vier. Als der Meister
dann abends viertel nach sieben mit seinen
beiden Kindern direkt aus
Seoul vorm Bayerischen Hof eintrifft,
bricht die Hölle los.
Das Konzert am Samstag wird zu einem
Marathon. Ab 15 Uhr
wechseln sich Alt-Rocker wie Status Quo und die Scorpions mit Rin-
go Starr und Alan Parsons, Teenie-Idole wie
Boyzone und Sasha
Schmitz mit Pop-Barden wie Zucchero und
Helmut Lotti auf der
Bühne ab. Nicht zu vergessen: Justus Frantz
und die Philharmonie
der Nationen. Ein Ereignis
eigner Art ist der Auftritt der Kelly-Fami-
lie. Erst vom
vieltausendfachen Buh der Hardcore-Jacko-Fans be-
grüßt, fällt dann auch noch das Playback
aus und sie müssen „un-
plugged“ improvisieren. Aber sie retten die
Situation und bringen mit
We
Are The World
die Arena zum Kochen. Ach, gegen diesen Dauer-
brenner würde es What More Can I Give, „Was kann ich mehr noch
geben?“, nicht leicht haben — wenn es auch
von Michael und Pava-
248
rotti gemeinsam aus der Taufe gehoben wird!
Wieder tritt Michael
Jackson gegen seinen eigenen Rekord an.
Nach vier Stunden endlich Pause. Das
Publikum findet Zeit, sich
zu fragen, wo es eigentlich ist. Ein
All-Star-Konzert quer durch die
Generationen? Eine Hilfsaktion für
notleidende Kinder, von Kosovo
bis Nordkorea? Oder eine politische
Demonstration für Friede, Freu-
de und das Gute im Menschen? Die Vielfalt
der Titel, unter denen die
Veranstaltung läuft, trägt nichts zur Klärung
bei: The Power af Hu-
manity, „Abenteuer
Menschlichkeit“, What More Can I Give…
Am
meisten durchgesetzt hat sich am Ende: „Michael
Jackson & Friends“.
Ist es das: die offizielle Huldigung des
Internationalen Showge-
schäfts an den König der Zunft?
Dann geht es erst richtig los. Viertel nach acht, das ZDF überträgt
live, dreiundzwanzig andere Länder sind
zugeschaltet. Was wir bei
„Wetten, daß“ nicht erfuhren: Thomas
Gottschalk führt selbst durchs
Programm, er darf den Gastgeber persönlich
auf die Bühne rufen
(Orkan im Stadion!) und rückt in die
Weltliga der Showmaster auf.
Andrea Bocelli, Peter Maffay, Roberto Alagna, Vanessa Mae,
André Rieu, Udo Jürgens mit Mario Adorf, Spirit of the Dance — “für
jeden Geschmack etwas“, aber ständig von
Pannen begleitet. Die Be-
schallung ist schauderhaft, die Videotafeln
sind viel zu klein, die na-
gelneue Bühnentechnik klappt auch noch
nicht, und Gottschalks Mo-
deration ist im Stadion gar nicht zu vernehmen
— so werden die Um-
baupausen quälend lang.
Und doch tat das der Stimmung — immer
zwischen Karneval und
Weihestunde - keinen Abbruch. Warum? Daran ließ
das Publikum
keinen Zweifel: „We Want Michael!“
Die Süddeutsche
Zeitung brachte es auf den Punkt: „Bis dahin ein
Konzert, das weder aufregte noch
begeisterte. Ohne Höhepunkte,
harmlos, nett, für die ganze Familie!“
Dann, nach über drei Stunden,
endlich der
Auftritt. „Sensationell gut“, urteilt ein schon oft zitiertes,
aber nie genanntes Blatt. Doch das ist
nicht alles: „Sobald er die Büh-
ne betrat, waren die vergangenen acht
Stunden vergessen. Hatten nie
stattgefunden“, meint die Süddeutsche. „Das Konzert fing jetzt
erst
an.“
Daß seine Kunst an einem Wendepunkt steht,
konnte man sehen.
Nie trat das Bemühen um eine szenische
Dramatisierung der Musik
so deutlich hervor — Bild- und Tonkunst in
einem, wie er es immer
wollte. Ob er die sachlichen Bedingungen
für seine Ambitionen zu-
249
sammenbringt, bleibt aber abzuwarten.
Marcel Avram, eben erst aus
der Haft entlassen, hat eine Schlappe
erlitten. Nur die „Ansteckungs-
kraft“ von Michael Jacksons showmanship ließ über die vielen Pan-
nen hinwegsehen. Dabei wurde dem Publikum
der ärgste technische
Patzer gar nicht recht bewußt: Michaels
Absturz im Earth Song, wo-
bei ihm das schreckliche Wort mit f entfuhr — man hörte erst am näch-
sten Tag davon, als er das Krankenhaus
schon wieder verlassen hatte.
Die allergrößte Panne war jedoch nicht
technischer Natur: Pava-
rotti kam doch nicht, aber das Publikum
ertrug es mit Gleichmut.
Schon am Vortag habe er in Oslo ein Konzert
vor dem Königspaar
wegen Heiserkeit abbrechen müssen, hieß es
offiziell. Inoffiziell wird
gemunkelt, er fürchte die deutschen
Finanzbehörden und wolle nicht
auf den Spuren von Marcel Avram wandeln.
Oder gibt es da etwa ei-
ne Rivalität zwischen den Stars: „Wer ist
der größere Wohltäter?“
Die Süddeutsche
deutet sowas an: „Vor dem Superstar Michael
Jackson waren alle anderen Stars gleich.“
Pavarotti mag das geahnt
haben. Das Duett werde „auf jeden Fall
nachgeholt“, verkündet sei-
ne Sprecherin. Aber wohl erst bei einer
Gelegenheit, wo beide auf
gleicher Höhe stehen.
Ein durchschlagender Erfolg war das
Doppelereignis in München
und Seoul aber als humanitäre Hilfsaktion.
Sechseinviertel Millionen
Geräte waren eingeschaltet, und während der Übertragung gingen
beim ZDF über drei Millionen DM Spenden
ein. Alles zusammen —
Spenden, Senderechte, Eintrittskarten — dürfte
„ein zweistelliger
Millionenbetrag“ zusammengekomrnen sein,
teilt das Rote Kreuz
mit.
Und so ist denn Michael Jacksons Testlauf
als internationaler Im-
presario gerade nochmal gutgegangen. Das „endgültige“
Album ist
in Amerika für den 9. November angekündigt.
An dem Tag jährt sich
zum zehntenmal der Fall der Berliner Mauer.
In Europa erscheint es
aber schon zwei Tage früher. Das wäre der
Jahrestag der Oktoberre-
volution. Wer seine Termine so
bedeutungsschwanger wählt, denkt
sicher nicht daran, abzudanken. Die Jahrtausendwende
wird er gleich
zweimal feiern: zuerst mit einem Konzert in
Sidney und dann, zwan-
zig Stunden später, noch einmal auf Hawaii.
Nach einem Abschied
sieht das nicht aus. What more can give? war wohl nur eine rhetori-
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