I've been the
victim of
A selfish kind
of love
Man In The Mirror, Bad
Gary
liegt, wie ein Stadtchronist schrieb, da, wo die meisten Leute Chicago vermuten
- an der äußersten Südspitze des Michigan-Sees. Freilich, wer heute die knapp
vierzig Kilometer von Inner Chicago nach Gary im Auto oder in der Bahn zurücklegt,
wird kaum noch bemerken, daß er eine Stadt verläßt und eine andere betritt;
und schon gar nicht, daß er die Staatsgrenze von Illinois nach Indiana passiert
hat.
Dennoch
ist Gary nicht einfach ein Auswuchs der wildwuchernden Metropole. Gary wurde
von einem planerischen Gehirn ersonnen und zwischen die Sümpfe, Dünen und Tümpel
der Heidelandschaft am Südufer des großen Sees fix und fertig hingesetzt. Das
war 1906. Der U.S. Steel-Konzern hatte beschlossen, dies sei der ideale
Standort für sein neues Stahlwerk: Mitten im größten Eisenbahnknoten der Welt
gelegen, kam Kohle über die Schiene aus Illinois und Michigan, und kam das
Eisenerz über die Großen Seen aus Minnesota.
Das
einzige, was fehlte, waren die Arbeitskräfte. Um sie herbeizulocken, sollte
Gary eine Musterstadt werden. Und so achtete man darauf, die Fehler, die andere
Gesellschaften bei ihren Neuansiedlungen gemacht hatten, tunlichst zu
vermeiden. Namentlich vermied der Arbeitgeber U.S. Steel, zugleich als landlord,
als Wohnungsvermieter aufzutreten. Daher gab es in Gary keine Mietskasernen.
Die Arbeiter sollten ihre eigenen Häuschen haben. Die Siedlung war nach den
damals modernsten Gesichtspunkten konzipiert, eine funktionalistische
Gartenstadt nach strengem Schachbrettmuster. Direkt am See, gleich hinter den
Hafenanlagen, die Hochöfen und Walzwerke. Dann die Bahngleise. Dahinter das
Geschäftsviertel mit den repräsentativen Gesellschaftseinrichtungen. Und schließlich
uptown, im Süden, die Wohngebiete mit
einem großen Park in der Mitte. Vielleicht ein bißchen fad, aber kein Vergleich
mit der Häßlichkeit anderer Industriestädte im Mittelwesten.
Denn
der Konzern war ehrgeizig:
Zweihunderttausend Menschen sollten hier einmal leben, und um zu zeigen,
was man sich vorgenommen hatte, hießen die beiden Hauptstraßen Broadway und Fifth Avenue. Als Namensgeber der neuen Stadt kam nur der große Boß
in Frage: Elbert H. Gary selbst.
Die
Straßen, die Gary von Norden nach Süden durchziehen, sind östlich des Broadway, ganz patriotisch, nach den Gründungsstaaten
der Union benannt, westlich nach den ersten Präsidenten. Da gibt es die Washington Street, die Adams Street, die Jefferson Street; und auch der siebte Präsident hat seine Straße
bekommen: Andrew Jackson.
Wir
schreiben das Jahr 1958. Gary ist einer der bedeutendsten Stahlstandorte der
USA, aber ganz konnte es die hochgespannten Erwartungen nicht erfüllen: Nach
einem guten halben Jahrhundert hat es erst knapp hundertachtzigtausend
Einwohner, und ist geblieben, was es immer war: eine riesige Werkssiedlung.
In
der Mitte der Jackson Street, in N°
2300 an der Ecke zur 23rd Avenue,
hinterm Football-Platz der Roosevelt High
School, wohnt eine Familie, die heißt selber Jackson. Das ist nun nichts
besonderes. Ein paarhundert Nachbarn dürften auch so heißen. Ungewöhnlicher ist
schon, wie die Familie zu ihrem Namen kam. Denn sie hatten ihn nicht „schon immer“.
Des Vaters Urgroßvater war ein Indianer aus dem Choctaw-Stamm (also ohne Familiennamen), den man während seiner
Dienstzeit als Armeekundschafter Jack gerufen hatte. Von dem hatte eine gewisse
Gina einen Sohn bekommen. Der hieß nun Jack's son; denn auch Gina konnte ihm
keinen Familiennamen vererben. Gina war eine Sklavin.
Ob
diese Story stimmt?
Wie
so vieles in dem Abenteuerroman, den wir hier erzählen wollen, sind die
Tatsachen und die Legenden nicht mehr zu trennen. Hier wie noch oft müssen wir
uns mit der philosophischen Einsicht bescheiden: se non è vero, è ben trovato - wenn's auch vielleicht nicht wahr
ist, so ist es doch trefflich erdacht.
Soviel
wissen wir jetzt: Unsere Jacksons in 2300, Jackson Street, Gary, Ind. sind negroes; African Americans, wie es heute heißen würde.
Das
ist nun in Gary freilich auch nichts besonderes. Gary ist selber das besondere:
Die meisten Leute sind dort im Jahr 1958 Neger, jedenfalls mehr als die Hälfte,
und das war für eine Großstadt im Norden schon ungewöhnlich. Und gar erst dies:
Selbst der Bürgermeister war „schwarz“! War nicht überhaupt Gary die erste
amerikanische Großstadt mit einem schwarzen Bürgermeister?
Das
wiederum hat zu tun mit der Stadtgeschichte, von der wir erzählt haben.
Gary
war eine leere Stadt gewesen, ohne Alteingesessene, die die Neuankömmlinge
scheel ansahen und an den Rand drängten. U.S.
Steel konnten jeden brauchen, der arbeiten wollte, und als Gary seinen großen
Auf-schwung nahm, gab es auch keine lilienweißen Gewerkschaften mehr, die das
Werk „rein“ gehalten hätten. (U.S. Steel war der erste Konzern, der in den
30ern mit der militanten, „farbenblinden“ Industriegewerkschaft CIO eine Tarifverstrag abschloß.) Garys
große Zeit war, nach der langen Depression der Dreißigerjahre, der Kriegs- und
Nachkriegsboom gewesen. Nie wurde je wieder so viel Stahl gebraucht!
Bis
zum Krieg hatten zwei Drittel der schwarzen US-Bevölkerung in den ländlichen
Distrikten der Südstaaten gelebt, zumeist als landlose Tagelöhner, gedrückt und
gedemütigt von der Armut, der Unwissenheit und dem Ku Klux Klan. Mit dem Kriegsboom setzt die große Wanderung nach
Norden (und Westen) ein. In der Rüstungsproduktion werden die Arbeitskräfte
knapp, und auch in den klassischen Industriebranchen müssen die einberufenen Soldaten
nun ersetzt werden. Viele ethnische Minderheiten (übrigens auch viele Frauen)
finden zum erstenmal Zugang zum regulären Arbeitsmarkt.
Anfang
1950, knapp fünf Jahre nach Kriegsende, bezieht das Ehepaar Joseph und
Katherine Jackson das einstöckige Häuschen in 2300, Jackson Street. Es ist ein ganz bescheidenes Haus, zwei
kleine Schlafräume, Wohnzimmer, Küche mit Gasherd, Bad. Aber es ist gewiß kein
Rattenloch im Schwarzenghetto: Ein solches Ghetto gab es nicht, damals, in
Gary, Ind. (Inzwischen ist das anders. Gary ist jetzt selbst nichts andres mehr
als ein riesiges Ghetto. Der Niedergang der Stahlindustrie hat die Stadt ruiniert
und zum kriminellen Schandfleck von Indiana gemacht.)
Joseph
Walter Jackson wurde 1929 in Arkansas gboren. Sein Vater Samuel stammte aus
Mississippi, hatte das College besucht und war High-School-Lehrer. Er wird als
streng und gefühllos geschildert, und anscheinend ist einiges davon an diesem
Sohn hängengeblieben. Joe hatte vier jüngere Geschwister, von denen jedoch
eines, die kleine Verna, mit sieben Jahren an Kinderlähmung starb. Der Vater
war ein gottesfürchtiger und, obwohl er eine seiner Schülerinnen hatte heiraten
„müssen“, ein selbstgerechter Mann, der witterte Satan allerorten, und damit er
seinen Kindern nichts anhaben konnte, hielt er sie - eingeschlossen. Der Älteste
war sein Statthalter. Er mußte für strikten Gehorsam sorgen. Bigotterie ist
Familientradition bei den Jacksons. Als Joseph fünfzehn war, ließen die Eltern
sich scheiden. Joseph ging mit dem Vater nach Oakland, Kalifornien, aber verließ
ihn wieder, als der sich neu verheiratete, und kehrte zu den Geschwistern und
zu seiner Mutter zurück, die sich inzwischen mit ihrem neuen Ehemann in East
Chicago niedergelassen hatte - jener Stadt an der Staatsgrenze, die Gary mit
Chicago verbindet: Wir nähern uns dem ersten Schauplatz unserer Geschichte. Die
Eltern sollten sich bald von ihren neuen Partnern trennen und einander ein
zweitesmal heiraten, aber auch das dauert nicht lange, und sie verbinden sich
wieder anderweitig; aber auch nicht sehr fest...
Es
ist ein Milieu ohne Wurzeln, keine richtige Heimat, unklare Familienverhältnisse,
wenig, woran man sich halten kann (es sei denn Gottes Wort)... Es ist das
schwarze Amerika.
Katherine
Scruse kam ebenfalls im tiefsten Süden zur Welt, ein Jahr nach Joseph Jackson,
in Alabama, wo ihre Eltern auf einem gepachteten Stück Land Baumwolle
pflanzten. Unter ihren Vorfahren war ein weißer Mann gewesen. Aber das macht
nichts. Es macht was, wenn man unter seinen Vorfahren einen Neger hat;
jedenfalls, wenn man das sehen kann, und das kann man fast immer. Dann nämlich
ist man colored, und das hieß damals:
ein Leben lang ganz unten.
Mit
kaum zwei Jahren erkrankte das Mädchen an Kinderlähmung, gegen die die Medizin
seinerzeit machtlos war, doch anders als Joes kleine Schwester überlebte sie,
freilich schwer gezeichnet. Jahrelang ging sie an Krücken, und die steigenden
Arztrechnungen bewogen die Eltern 1934, auf dem Höhepunkt der Großen
Depression, im Norden nach einem sicheren Einkommen zu suchen. Sie landeten in
East Chicago, Vater Albert wurde Dienstmann bei Pullman, aber bald darauf ließen auch Katherines Eltern sich
scheiden. Sie lebte nun allein mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schweser
Hattie. Als sie die High School besuchte, konnte sie endlich die Krücken
beiseitelegen, aber hat bis heute ein leichtes Hinken behalten. Und sie ist
seither scheu, in sich gekehrt und ernst. „Kinder können furchtbar grausam sein“,
sagt sie sp„ter, „aber ich glaube, das hat mich starkgemacht.“ Freilich auch
schicksalsergeben.
Als
sich Joseph Jackson und Katherine Scruse in East Chicago begegnen, ist er wegen
seiner ble-denden Erscheinung einer der begehrtesten Junggesellen in der black community, und es gibt eigentlich
keinen Grund, warum er sich dem zwar hübschen, aber hinkenden und
verschlossenen Mädchen zuwenden sollte. Er ist gerade achtzehn, als er zum
erstenmal heiratet. Nicht Katherine. Doch jene Ehe hält kein Jahr, denn Joseph
nimmt es mit der Treue, wie es heißt, nicht so genau. Ende 1949 heiratet Joseph
Jackson Katherine Scruse, und ein paar Monate darauf ziehen sie nach Gary in
die Jackson Street.
Wir
sind zurück im Jahr 1958. Als am 29. August Michael Joseph, der Held unserer
Geschichte, das Licht der Welt erblickt, hat er schon sechs Geschwister. Die Alteste
ist Maureen Reilette, genannt „Rebbie“, geboren 1950. Ihr folgte ein Jahr
darauf Sigmund Esco, später als „Jackie“ bekannt. 1953 kam Toriano Adaryll – „Tito“
- zur Welt, im folgenden Jahr Jermaine LaJuan. LaToya Yvonne ist das fünfte
Kind, geboren auf den Tag sechs Jahre nach der Ältesten. Ihr folgt 1957 Marlon
David, dessen Zwillingsbruder kurz nach der Geburt stirbt.
Als
Michael ankommt, hat sein Bruder Jermaine gerade eine schwere Nierenentzündung überstanden,
und die Arztrechnungen drücken noch lange aufs Familienbudget. Vater Joe hatte
eine Karriere als Boxer versucht - eine der wenigen Möglichkeiten für einen
Schwarzen, sich aus der tief gedrückten Stellung am untern Ende der
Gesellschaft emporzuarbeiten (eine andere war das Showgeschäft). Aber
angesichts der rasch wachsenden Familie wurde ein sicherer Verdienst nötig, und
Joe fing im Stahlwalzwerk der American
Foundries als Kranführer an. Nach Michael wird 1961 noch Steven Randall „Randy“
geboren, 1966 schließlich Janet Damita. Neun Kinder, das ist eine Menge, und so
muß Joe noch eine zweite Schicht bei Inland
Steel fahren. Es reicht immer noch nicht: Zeitweilig arbeitete Katherine,
als hätte sie mit ihrer Familie nicht genug zu tun, halbtags als Kassiererin
bei der Ladenkette Sears. Wir werden
bald schlimme Sachen über die Familie Jackson zu erzählen haben, darum hier die
Bemerkung: Der harte Einsatz beider Eltern, um die Kinder zu ernähren und die
Familie zusammenzuhalten, war angesichts ihrer eigenen Jugend so selbstverständlich
nicht. Man darf annehmen, daß der Vorsatz, es auf jeden Fall anders zu machen
als die eigenen Eltern, am Anfang jener Familientragödie stand, die den
Hintergrund unserer Geschichte bildet.
Zunächst
einmal sind Joe und Katherine stets auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, das
Familienportefeuille aufzubessern. Die älteren Kinder mähen den Leuten den
Rasen im Vorgarten und schaufeln im Winter Schnee. Schließlich kommt Joe auf eine
Idee, die direkt in die größte Karriere in der Geschichte des Showgeschäfts führen
soll. Mit seinem Bruder Luther und vier Freunden, wohl Arbeitskollegen aus dem
Werk, bildet er eine Rhythm-and-Blues-Gruppe
- Joe ist an der Gitarre. Nicht sehr originell, das tun damals in Gary eine
Menge Leute. Aber The Falcons haben
mit ihrem Programm aus Titeln von Chuck Berry und Little Richard sogar einen
gewissen Erfolg. Für 20 $ pro Abend treten sie in Clubs und bei Parties auf.
Das ist mehr als gar nichts und macht auch noch Spaß. Geübt wird bei Jacksons
zuhaus, so eng es dort ist. Michael wird sich später an die häuslichen Proben
nicht erinnern können. Die erste Musik, die er gehört habe, sei das gewesen,
was seine Mutter sang, wenn sie ihn auf dem Arm hielt; und das waren, neben
Wiegenliedern, meist Country-Nummern. Doch die älteren Brüder Jackie, Tito und
Jermaine nahmen auf ihre Art Anteil an der Probenarbeit von Vaters Band.
Die
folgende Anekdote wurde so oft kolportiert, daß man sie für erfunden halten möchte.
Des Vaters Gitarre war im Wohnzimmerschrank verschlossen, unter strengem
Verbot, sie anzurühren. Allerdings hatte Joseph die Erziehungsprinzipien seines
Vaters übernommen: Auch seine Kinder hatten sich von der Welt fernzuhalten,
sei's, um sie vor dem Bösen zu behuten oder sei's nur, wie LaToya später mutmaßen
wird, um sie unter Kontrolle zu halten. Jedenfalls langweilten sie sich, denn
sie durften kaum vor die Tür, und schließlich vergriffen sie sich an der
Gitarre. Tito entwickelte besonderes Talent. Katherine konnte das kaum überhren,
doch hatte sie eigene Gründe, ihre Kinder von der Straße fernzuhalten, und sie
ließ sie gewähren. Es geschah, was geschehen mußte, eines Tages reißt eine
Saite. Keine Möglichkeit, sie rechtzeitig zu ersetzen! Die Jungen haben eine
Heidenangst. Mit gutem Grund, wie wir gleich hören werden. Doch als Joe nachhause
kommt, schaltet sich diesmal die Mutter ein, bevor die Prügelei wieder losgeht:
Die Kinder hätten nicht bloß rumgespielt, sondern richtig geübt, er solle sichs
dochmal anhören. Irgendwann muß dann Joe wirklich zugehört haben, denn er befand,
die Jungen hätten Talent. Von da an wurde täglich geübt. Und zwar von Anbeginn
ganz professionell. Noch während er selbst mit seinen Falcons auftrat, hat Joseph Jackson erkannt, daß es hier nicht mehr
um eine paar Extradollar ging. Es ging um eine richtige, große Karriere: Nicht
er, sondern seine Söhne hatten das Zeug, es im Showgeschäft zu etwas zu
bringen.
Zunächst
aber war das Training der Söhne nur eine weitere Belastung. Das kleine Haus war
bald mit Musikinstrumenten, Mikrophonen und Verstärkern vollgestopft. Es war
eine ernsthafte Investition, von deren Sinn die Hausfrau nicht immer überzeugt
war. Bald wurden die drei Älteren von dem kleinen Marlon an den Bongos unterstützt,
es kamen auch zwei fremde Jungen dazu fürs Schlagzeug und die Orgel. Michael
sah und hörte einstweilen nur zu. Nicht daß es ihm an Talent fehlte - er hatte,
kaum daß er laufen konnte, seine Familie erheitert, wenn er in der Küche zum
Rhythmus der Waschmaschine tanzte. Aber er war mit seinen drei Jahren wirklich
noch etwas klein. Der Sänger der Gruppe war Jermaine, und zu ihm blickte
Michael bewundernd auf - nicht nur darum, sondern auch, weil der es war, der
ihn to the kindergarten brachte und
dessen Sachen er auftrug. Daher eiferte er ihm nach in allem, und besonders im
Singen. „Ich habe immer Jermaine nachgemacht. Verglichen mit meiner Baby-Stimme
war Jermaine ein ausgewachsener Sänger. Ich liebte seinen Sound. Stimmlich hat
er mir den Weg gewiesen.“ Im Herbst 1963, als er eben fünf geworden war, kommt
Michael in den Kindergarten der Garnett
Elementary School. Dort findet bald ein denkwürdiges Ereignis statt: Der
größte Star aller Zeiten hat Bühnen-Premiere. Noch ganz bescheiden: Bei einer
Schulfeier singt er accappella, d. h. ohne Begleitung, das Lied Climb Every Mountain - und soll gleich
beim erstenmal sein Publikum zu Tränen gerührt haben. Als er wenig später im
Kindergarten drei Wünsche aufschreiben muß, wählt er folgende Reihenfolge: „Ich
möchte gern ein großer Entertainer werden. Ich wünsche mir Frieden für die Welt
und ich möchte später mal ein eigenes Haus haben.“
Es
blieb nicht beim Üben. Joe Jacksons Kinderband trat auch auf. Bei Wohltätigkeitsveranstaltungen
oder in Einkaufszentren. Als er fünf war, stieß endlich auch der kleine Michael
zur Band. Zuerst übernahm er die Bongos von Marlon. Aber immer öfter übernimmt
er bei den Proben auch die Singstimme. Sie spielen die aktuellen Soul-Nummern
von den Temptations und James Brown.
Seinen ersten professionellen Auftritt hat Michael im Sommer 1964 bei einer
Werbeveranstaltung für einen Discountladen. „Unser erster gig [Jargonwort für Auftritt] war in einem Einkaufszentrum, The Big Top in Gary, Ind. Es war eine
große Eröffnung. Die Leute sind alle gekommen und wollten die neueste Mode
kaufen. Wir standen mitten in der Passage und haben gesungen. Ich war etwa
sechs. Angefangen habe ich mit fünf“, erinnert sich Michael. Jackie ergänzt: „Das
Publikum hat uns verschlungen. Michael hat sie alle umgehauen. Er war der Star.
Das haben wir alle schon damals gemerkt.“
Geprobt
wird jeden Tag. Michael erzählt: „Damals in Gary haben wir die ganze Zeit geübt.
So gegen drei kam ich aus der Schule und dann war im Wohnzimmer schon alles
aufgebaut, die drums und so, und wir
probten bis in die Nacht, sieben Stunden täglich. Mein Vater hielt uns auf Trab
und er hat uns eingetrichtert, daß Übung den Meister macht.“ Dieselben Stücke,
immer, immer wieder, bis alles sitzt - das Singen, das Tanzen, die Instrumente.
Macht einer Fehler, setzt es Prügel. Auch jeden Tag. Mit dem Gürtel, dem Stock,
dem Kleiderbügel, allem Möglichen, auch mit den Fäusten. Blutige Nasen sind häufig,
und gelegentlich ist einer der Jungen bewußtlos. Die Geschichten, die
Jahrzehnte später in die Öffentlichkeit sickern, klingen wie Auszüge aus einem
Gerichtsprotokoll.
Es
scheint, als macht es Joe Jackson Freude, seine Kinder zu quälen. Er schlägt
sie nicht bloß, er erschreckt und ängstigt sie nur so zum Spaß. Und was das
schlimmste ist: Er beschimpft und demütigt sie, wo er kann. „Schläge sind
irgendwann mal vorbei, aber verächtliche Worte nisten sich im Kopf ein“,
schreibt LaToya später. Der „süße kleine Michael“ ist längst die
Hauptattraktion der Jackson 5, da
bekommt er noch täglich zu hören, wie häßlich, dumm und ungeschickt er ist...
Er
war schon immer ein bißchen anders als seine Geschwister, aufgeweckter,
lebhafter, ein Frühentwickler. Jetzt ist er zum Kleinod der Familie und zum
Schlüssel zu ihrer Zukunft geworden. Folgerichtig bekommt er auch in Joe
Jacksons Prügelordnung eine Vorzugsstellung: Während bei den Proben Marlon, der
mit dem Tanzen Mühe hat, am meisten abbekommt, ist ansonsten er die erwählte
Zielscheibe. (Doch auch Jackie, als der Älteste, wurde nicht vernachlässigt.)
Freilich ist er auch der einzige, der nicht stillhält. Er widerspricht dem
Vater, und wenn dann die Schläge hageln, schlägt er zurück, rückt aus und wirft
wohl auch mal einen Schuh nach seinem Peiniger. „Deshalb bekam ich mehr ab als
alle meine BrÜder zusammen. Ich wehrte mich, und mein Vater schlug mich halbtot“,
schreibt er in seiner Autobiographie.
Wo
war die Mutter? Später wird keines der Kinder ein gutes Wort für den Vater
finden - sofern sie ihn überhaupt erwähnen; wenn Michael ihm heute in der Öffentlichkeit
begegnet, sieht er ihn nichtmal an. Aber von der Mutter reden sie alle wie von
einer Heiligen. (Nur LaToya hat den Bann schließlich gebrochen.) Hat sie nicht
ihre Kinder mit Liebe überschwemmt? Doch es wird auch nicht ein einziges Mal
berichtet, wo sie sie geschütz hätte. Nein, wenn sie in Joes Abwesenheit die
Proben beaufsichtigte, hat sie ihm hinterher Bericht erstattet; oft mit
schmerzhaften Folgen. Joes häuslicher Terror ist bei den Jacksons ein Unthema.
Wofür du keine Worte hast, das ist fast, als wär es nicht geschehen. Bei der
Mutter haben die Kinder Trost gefunden. Aber keinen Schutz.
Umso
weniger, als Katherine zur Isolation ihrer Kinder das ihre beitrug. 1963 hatte
sie sich den Zeugen Jehovas angeschlossen,
einer strengen protestantischen Sekte, die ihren Anhängern jeden Kontakt zur Außenwelt
untersagt - es sei denn zu Bekehrungszwecken. Alle Feste sind verboten, auch
Geburtstage und selbst Weihnachten. Als Michael bei der Grammy-Verleihung 1993 fast heulend erzählte, „das war keine
normale Kindheit, ohne die normalen Kinderfreuden, kein Geburtstag, kein
Weihnachten“, da klang es fast, als ginge es erstmals auch gegen Katherine...
Joe
duldete die Freunde seiner Söhne nicht in seinem Haus, und seit die Band in der
Öffentlichkeit auftrat, blieb neben den Proben für Kinderspiel sowieso keine Zeit.
Doch Michael bleibt dabei: Er sei niemals zum Kinderstar gedrängt worden – „wie
etwa Judy Garland“ -, er habe selber immer nur singen und tanzen wollen, der ‚Zwang‘
sei von innen gekommen. Da ihm aber die ganze andre Welt verschlossen war,
blieb wohl auch sonst kein Ausweg. „Auf der Bühne bin ich in Sicherheit. Am
liebsten würde ich dort übernachten.“ Escapism
gehört bis heute zu Michaels Lieblingsvokabeln.
Talent
allein reicht nicht aus für eine Karriere. Aber Üben auch nicht. Man kann noch
so gut sein, es hilft nichts, wenn man keine Chance bekommt.
Management
ist zu allererst die Kunst, Chancen aufzuspüren. Aber die lagen in Gary, Ind.
nicht auf der Straße. Es wurde viel Musik gehört in dieser schwarzen Stadt,
aber es gab auch viele Musiker, die sich, wie die Falcons, für ein paar Dollars um einen Auftritt rissen. So ließen
die Waves and Ripples, wie sie am
Anfang hießen, keine der Talentschauen aus, die damals reichlich veranstaltet
wurden, um der schwarzen Jugend die Hoffnung zu erhalten. Gelegentlich werden
die Jungen sogar mitten in der Nacht geweckt, um einem späten Besucher
vorzuspielen. So wird Joe Jacksons Kindertruppe bald zu einer bekannten
Lokalgröße in und um Gary - was übrigens den Druck zu ständiger Perfektion und
Erneuerung des Programms nur verstärkte, denn wie anders wollte man stets
dasselbe Publikum bei der Stange halten? Die Formation stand inzwischen fest.
Vorn rechts Marlon, dahinter Tito mit der Gitarre, links von ihm Jackie, der
inzwischen alle überragte, vor ihm links Jermaine an der Baßgitarre, und davor
Michael, der sich damals noch mit Jermaine als Leadsänger abwechselt.
Während
die Kinder wie Profis üben, hält sich Joe auf dem Laufenden, was sich im
Showgeschäft und in der R&B-Musik
so tut. Er zieht durch die Clubs und Theater rund um Chicago und achtet auf
alles Neue, was sich in den Auftritt seiner Söhne einbauen ließe. Als Michael
acht ist, haben die Jackson Five, wie
sie sich inzwischen nennen, ihren ersten größeren Erfolg. Sie gewinnen den städtischen
Talentwettbewerb im Memorial Auditorium
von Gary. Daheim ist nun nichts mehr zu holen. Als Sprungbrett in die Welt
kommt nur das benachbarte Chicago in Frage. Die Metropole des Mittelwestens war
das Zentrum einer eigenen Rhythm-and-Blues-Kultur,
wenn auch der gepflegte Chicago soul
mit seinen lateinischen Anklängen, dem auch Joe Jacksons Falcons huldigten, nie die Bedeutung der Musik aus Detroit oder
Memphis gewinnen sollte... Jedenfalls liegen den fünf Jungens die heftigeren funk-Rhythmen mehr, deren Siegeszug
durch die schwarze Musik der späten sechziger Jahre untrennbar mit dem Namen
James Brown verbunden ist. Joe beharrt nicht auf seinem Geschmack. Hier geht es
nicht um Ästhetik, sondern um Erfolg. Die Jackson
5 werden eine Funk-Band.
Vater
Joe arbeitet jetzt nur noch halbtags im Walzwerk. In der Hauptsache ist er der
Manager seiner Söhne. Mrs. Jackson ist nicht begeistert. Immerhin verschlingen
die Rundreisen durch die Talentwettbewerbe jedes Wochenende zusätzlich Geld,
und Kinder werden größer. „Es war schwer. Das Geld war knapp. Es war eine
Schinderei“, erzählt Michael. „Es bestärkte uns alle in unserem Entschluß, aus
diesen Kreisen zu entkommen und dieses Leben so weit wie möglich hinter uns zu
lassen.“ Joe verschafft den Jackson 5 regelmäßige Auftritte im Mr. Lucky's, einem Nachtclub in Gary.
Die Haushaltskasse ist gerettet. Aber jetzt haben die Kinder nach den täglichen
Proben auch noch nächtliche Auftritte: eine ganze Show, fünf Darbietungen pro
Abend, sechsmal die Woche. Und eigentlich ist das Publikum der Nachtclubs von
Gary nicht die Gesellschaft, in der eine Zeugin Jehovas ihre Kinder sehen möchte.
„So treiben sie sich wenigstens nicht mit zwielichtigen Freunden auf der Straáe
rum“ - klingt da wenig überzeugend. Die Stripperinnen und angetrunkenen Conférenciers
sind nicht einmal eine Kollegenschaft, von der sich was lernen ließe. „Als wir
damals diese Club-Shows machten, da war diese Lady, Sie wissen schon, was ich
meine, aber ich fand's furchtbar. Ich war um die sechs und sie war so eine
Stripperin, und sie zog ihren Schlüpfer aus, und ein Mann kam rauf, und dann
fingen sie an zu ... Oh Mann, das war zu funky
[anstößiger schwarzer Slangausdruck]. Also ich fand das furchbar.“
Aber
dieses Geschäft hat seine eigenen Regeln, und Geld bringt es nur, wenn man sich
daran hält. Bei der Nummer Skinny Legs
And All kriecht Michael unter die Tische und guckt den Ladies unter die Röcke,
sehr komisch, und das johlende Publikum wirft ihm das Geld mit vollen Händen
zu. „Meine Taschen waren voller Geld, Zehner, Zwanziger, jede Menge Münzen. Die
Leute haben nämlich Geld auf die Bühne geworfen. Da kamen so an die 300 $
zusammen auf der Bühne, und der Manager zahlte uns grad mal 15 $.“
Es
kommen bald Auftritte in Chicago dazu. Das bringt mehr Gage und mehr Renommé.
Aber feiner ist dieses Milieu auch nicht.
In
Chicago gibt es das Royal Theatre,
gemeinhin The Regal genannt - und das
ist eine der wichtigsten Adressen des chitlin
circuit, jener informellen Kette von Showbühnen, die das Rückgrat der
schwarzen Unterhaltungsmusik bildeten. Im Regal
gab es eine interessante Gepflogenheit. Wer an drei aufeinanderfolgenden
Wochenenden den Talentwettbewerb für sich entscheiden konnte, durfte in einer
Show auftreten - gegen Bezahlung! Erstmals vor einem Publikum von ein paar
Tausend, statt, wie bisher, ein paar Dutzend in den Bars und Clubs - das wäre
eine entscheidende Sprosse auf der Leiter zum Erfolg. Die Jackson 5 gewannen
dreimal hintereinander, und sie wurden zu der Show von Gladys Knight And The Pips eingeladen, die damals gerade mit I Heard It Through The Grapevine ihren
großen Durchbruch hatten. Gladys Knight wird später, neben einigen andern, das
Verdienst an der Entdeckung der Jackson 5 für sich reklamieren, und wirklich
war sie von der jungen Gruppe so beeindruckt, die da in ihrem Vorprogramm
auftrat, daß sie wohl ein paar Vertreter ihrer Plattenfirma herbeiholte. Aber
die waren anscheinend weniger hingerissen. Es sollte noch ein Jahr dauern, bis Motown aufmerken würde, bei anderer
Gelegenheit.
Der
Zugang zum Chitlin Circuit war nun immerhin geschafft. Es folgten Auftritte in
Kansas City, Philadelphia, Washington D.C., St. Louis, Cleveland, Boston und
Phoenix - zwischen Neuengland und Arizona. Sie eröffneten die Shows solcher
Zelebritäten wie Jackie Wilson, den Temptations,
den O'Jays und sogar für - James
Brown. Das Leben wurde immer strapaziöser. Unter der Woche Schule und Proben,
am Wochenende vor und nach den Auftritten endlose nächtliche Überlandfahrten in
Joe Jacksons altem, vollgestopften VW-Bus. Genügend Schlaf dürfte keiner
bekommen haben, wenn auch die Nächte im rollenden Biwak dem Jüngsten am wenigsten
ausgemacht haben sollen.
„Morgens
um fünf waren wir [nach einem Auftritt in Detroit] wieder in Gary. Ich hatte im
Auto geschlafen, und deshalb war es nicht so schlimm gewesen, am Morgen zur
Schule zu gehen. Aber als wir um drei Uhr nachmittags mit den Proben begannen,
hatte ich das Gefühl, Bleigewichte mit mir herumzuschleppen.“ Dem kleinen
Michael wird in diesen Jahren ein fröhliches und robustes Naturell nachgesagt,
und so hatte er wenig Mühe, sich jeder Situation anzupassen; immerhin war er ja
der einzige, der sich gegen den furchterregenden Vater je Widersetzlichkeit
erlaubt hat.
Der
Chitlin Circuit ist der Vorlauf zu einer professionellen Karriere, aber der große
Durchbruch ist das noch nicht. Um einem breiten Publikum bekannt zu werden, muß
man in die Programme der landesweiten Rundfunksender aufgenommen werden - und
dazu muß man bei einem großen Plattenlabel unter Vertrag stehen. Das ist das nächste
Ziel, das Joe Jackson ansteuert. Alle Unternehmungen dieser Jahre sind darauf
gerichtet. Die Auftritte der Jackson 5 sollen Geld in die Haushaltskasse einspielen,
sicher, aber sie sollen vor allem das Interesse der Branche wecken. Ja, und natürlich
lernt man nirgends besser schwimmen als im See. Wo anders könnte sich die
Kinderband auf die ganz große Karriere vorbereiten, als bei der Ochsentour
durch den circuit?
Michael
Jackson ist noch heute stolz auf seine Lehrjahre. „Einige Musiker - Springsteen
und U2 zum Beispiel - mögen
vielleicht sagen, daß sie alles auf der Straße gelernt haben. Ich bin ein
Vollblutkünstler. Ich habe wirklich alles auf der Bühne gelernt.“ Vielleicht
war ihm nicht ganz klar, wie wahr dieser Satz ist, als er ihn in seine
Autobiographie schrieb. Denn alles, was Michael Jackson hat, hat er von der Bühne.
In einem gewissen Sinn ist das auch tragisch, aber es ist vor allem das offene
Geheimnis eines faszinierenden Künstlerlebens. Die Bühne - das war für den
kleinen Michael die nie enden wollende Flut immer neuer Bilder, Spektakel,
farbenprächtige Gestalten, richtige Menschen, Sensation, Beifall, ein ständiges
Fest. Die Bühne ist das pralle Leben, und sie ist immer offen. Jenseits, d. h.
diesseits der Bühne ist das Leben Arbeit, Schinderei, Schmerz, Bedrückung; es
ist ohne Freude und hat keinen Ausweg. Der kleine Michael richtet sich ein für
ein Leben auf der Bühne. Eine sinnlose Frage, ob er anders gewählt hätte, hätte
er wählen können. Es war schlicht das Naheliegende. Die Bühne wollte ihn doch
auch - hatte er denn nicht sein Talent?! Ohne die Bühne hätte er sich wirklich
nur in seine Phantasie flüchten können. Aber die Welt des Showbiz ist keine
Phantasie. Es gibt sie wirklich. Zumal für einen amerikanischen Negerjungen: Nirgends
gab es mehr Zukunft, nirgends ließ sich mehr erreichen. Es klingt pathetisch,
ist aber kaum übertrieben: Sein Schicksal hat ihn zum Künstler gemacht. Er mußte
gar nicht wollen.
„Die
meiste Zeit trieb ich mich allein hinter der Bühne herum.“ Während die Brüder
im oberen Stockwerk aßen und schwatzten (und der Vater, wie gemunkelt wird, den
Frauen nachstieg), stand der kleine Michael hinter den Vorhängen und sah den
größten schwarzen Showstars seiner Zeit zu. „Ich verfolgte buchstäblich jeden
Schritt, jede Bewegung, jede Drehung, jede Wendung, jede Veränderung der Mimik,
jede Gefühlsregung, jedes Scheinwerferflackern. Das war meine Schule und mein
Hobby. Die beste Ausbildung der Welt ist es, den Meistern bei der Arbeit
zuzusehen. Man kann niemand das beibringen, was ich gelernt habe, indem ich
dastand und nur zuschaute.“
Und
nicht immer beließ er's beim Zuschauen. So schüchtern er schon damals gegen
Fremde war, manchmal rafft er sich zusammen und spricht eines seiner Idole an.
Er will wissen, was es ist, das einen Entertainer zum Star macht. Etta James, damals
eine der ganz großen Nummern in der Soulmusik, erinnert sich: „Es muß um 1968
rum gewesen sein und ich trat im Apollo auf. Ja, da seh ich rüber in die Seiten
[der Bühne] und da ist dieser Kleine und gafft mich an. Gafft nur. Ich scheuch
ihn weg. Er macht mich nervös. Nächste Show ist der Kleine wieder da, gafft
weiter. Jetzt bin ich sauer. Ich sag ihm, er soll sich zum Teufel scheren. Nach
der Show bin ich in meiner Garderobe, und da kommt er schon wieder! Nerviges Bübchen.
Schüchtern, aber nervig. Sagt, er ist Michael Jackson und ob ich ihn und seine
Brüder bei ihrer Eröffnungsnummer gesehen hätte? Nee. Nie von gehört. Sagt
auch, es tut ihm leid, mich zu belästigen, aber ihm gefällt, wie ich singe, und
will wissen, wie ich es mache, die Zuhörer so durchzurütteln. Bin ich natürlich
geschmeichelt und plauder so ein paar Geschäftsgeheimnisse aus. Na, das Bubi hört
zu, als würde ich ihm die Safekombination von Fort Knox verrate! Man hörte die
Rädchen in seinem Gehirn arbeiten.“
Michael
Jackson hat von Kindesbeinen an unter Kunst nie etwas anderes verstanden als:
die Menschen begeistern. Vieles, was dem gebildeten Europäer an ihm so
hoffnungslos naiv erscheint, hat hier seine Wurzel. Ist es aber naiv? Immerhin
ist es nicht jedem gegeben, andere zu begeistern. Die bloße Meisterschaft im
Handwerks tut's nicht. Was ist es dann? Das eben ist das Geheimnis eines jeden
Künstlers, und manchem - wohl den bedeutenderen - bleibt es zeitlebens selbst
ein Rätsel. Das macht den Künstler zum Mythos - und das, was er tut, zur Kunst.
Einer,
der zu seiner Zeit wie kein anderer verstand, sein Publikum zu begeistern, war
James Brown. Er hat der schwarzen Musik wiederholt richtungweisende Impulse
gegeben. Vor allem ihm und Ray Charles hat der Rhythm and Blues jene kräftige Zufuhr von Gospel zu verdanken, aus dem Mitte der sechziger Jahre die Soul-Musik hervorgegangen ist. Er war es
auch, der Anfang der siebziger den funk
zum vorherrschenden Stilmerkmal schwarzer Musik machte. In den Variété-Theatern
des Chitlin Circuit ist James Brown dem kleinen Michael immer wieder begegnet,
und es konnte nicht ausbleiben, daß seine beeindruckende Gestalt ihn auch persönlich
geprägt hat. Als Michael ihn zum erstenmal auf der Bühne sah, war der Enddreißiger
bereits eine lebende Legende. Elternlos im tiefsten Süden in bitterer Armut
aufgewachsen, war er schon mit fünfzehn im Gefängnis gelandet und hatte sich
zuerst durch Boxen bei den weißen Herren rehabilitiert, um endlich seinen
Ausweg aus der schwarzen Misere als Musiker zu suchen. „Ich mußte JAMES BROWN werden, um überhaupt etwas
zu sein“, begründet er die rastlose Arbeit an seinem Mythos.
Als
„der am härtesten arbeitende Mann im Showgeschäft“ hatte er es nicht nur zu
Ruhm, sondern auch zu Reichtum gebracht, er war, was kein anderer Schwarzer -
weder in dieser Branche noch in einer andern - von sich sagen konnte: Er war
sein eigner Herr geworden. Wir werden noch von ihm zu reden haben.
An
dieser Stelle interessiert uns, was den kleinen Michael am meisten an ihm
gefesselt hat: „Bevor er auftauchte, war ein Sänger ein Sänger und ein Tänzer
ein Tänzer. Ein Sänger mochte tanzen können und ein Tänzer mochte singen können,
aber wenn man nicht gerade Fred Astaire und Gene Kelly war [die aber gehörten
zum weißen Hollywood, d. Verf.], konnte man das eine wahrscheinlich besser als
das andere, vor allem bei einem Live-Auftritt. Aber er widerlegte diese Regel.
Kein Scheinwerferspot konnte mit ihm Schritt halten, wenn er über die Bühne
fegte - man konnte ihm nur mit Flutlicht beikommen“, schwärmt er noch mit dreißig
in seiner Autobiographie. „So gut wollte ich auch werden.“
Brown
hatte Joe Jackson Mitte der Sechziger bei den Falcons kennengelernt und in Gary auch seine Kinderband erlebt. Joe
hatte ihn gebeten, die Kinder in seine Show einzubauen - um ihnen den letzten
Schliff zu geben, aber natürlich auch, um an regelmäßige Einkünfte zu kommen.
Brown mußte damals, wie er erzählt, ablehnen, weil er gerade mit seiner
Plattenfirma im Zwist lag und um das Ende seiner Karriere bangte, „also hielt
ich es für einen ungeeigneten Zeitpunkt, die Gehaltsliste weiter zu verlängern.
Ich nahm sie aber in eine meiner Shows in Gary, und sie waren phantastisch, vor
allem Michael“. Ein Jahr drauf begegneten sie sich in Chicago im Regal, wo Brown den Jackson 5 erlaubte,
während der Pause in seiner Show aufzutreten, ein paar Monate später sogar als
reguläre Nummer. Nach dem Auftritt der Jackson 5 stand Michael, wie immer, in
den Kulissen und „gaffte“:
„Er
ist so magisch! Ich war bei ihm hinter der Bühne, als ich so sechs oder sieben
war, ich saß da und sah ihm zu. Er kriegt jedes Publikum dahin, wo er will. Sie
wurden ganz verrückt, und er ganz wild. Er kommt wirklich ganz aus sich heraus.“
Michael merkt sich jede Pose, jeden Laut, jede Geste und jeden Sprung, und
hinterher probiert er sie selber aus. Auf den ersten Filmaufnahmen, die Motown von den Jackson 5 und dem neunjährigen
Michael gemacht hat, ist gut zu sehen: Er kann es schon.
Es
sind wohl mehr James Browns athletisch-artistischen Leistungen, die Michael
beeindrucken; und natürlich sein fanatischer Perfektionismus, die unerschöpfliche
Artbeitswut und die eiserne Disziplin. In ästhetisch-stilistischer Hinsicht ist
es aber ein anderer: Jackie Wilson. Der hatte in seiner Jugend ebenfalls
geboxt, aber nicht als Schwer-, sondern als Weltergewicht, und das macht den
ganzen Unterschied. Wilson zeichnete sich, bei aller Wildheit und Kraft, durch
Grazie, Eleganz und Geschmeidigkeit aus. Vor allem sein Gesang unterschied ihn
von James Brown. Während jener ohne weiteres einräumt, daß er eigentlich nur
brüllt, „aber in der richtigen Tonart“, konnte Wilson (nach Rowohlts Rock-Lexikon) „seine ungemein
flexible Stimme vom schmiegsamen Soul-Gewisper bis zum ekstatisch-opernhaften
Rock-Crescendo hinaufschrauben“. Michael Jackson mit Dreißig: „Er konnte ein
trauriges Lied wie Lonely Teardrops
singen und gleichzeitig das Publikum durch seinen Tanz so hinreißen, daß
niemand in der Lage war, sich traurig oder einsam zu fühlen.“ Und er schließt: „Vielleicht
habe ich von Jackie Wilson mehr gelernt als von irgendeinem andern.“ Der Beweis
ist eine - allerdigs erst 1986 veröffentlichte - eigne Einspielung von Lonely Teardrops, wo der kleine Michael
zeigt, daß er's so gut kann wie sein Vorbild.
Es
war noch eine Feuerprobe zu bestehen, gewissermaßen der Ritterschlag, durch den
eine Amateurgruppe endgültig in den Kreis der Professionellen aufstieg: die
Amateur-Nacht im Apollo. Im
New-Yorker Stadtteil Harlem gelegen, war das Apollo die Krone des Chitlin
Circuit. „Das Apollo war etwas besonderes: es war der Prüfstein für schwarze
Entertainer“, versichert James Brown, der dort seine größten Triumphe gefeiert
hat. „Die größten Künstler im schwarzen Showbusiness waren da aufgetreten, und
es war das böseste Publikum der Welt.“ Jeden Mittwoch fand ein
Amateur-Wettbewerb statt, und wer den gewann, der hatte es geschafft. Der Sänger
Luther Vandross, der selbst im Apollo dreimal durchgefallen war, bestätigt: „Die
Menge im Apollo ist die unbarmherzigste der Welt. Man reißt sich das Gedärm aus
dem Leib, aber wenn du die für dich gewinnen kannst, dann weißt du, daß du das
Zeug zu diesem Geschäft hast.“ Die Jackson 5 traten erstmals in einer schwülen
Sommernacht im August 1967 im Apollo auf. Sie waren direkt zur Endausscheidung
eingeladen worden, ohne die Vorrunden durchmachen zu müssen. Natürlich gewannen
sie an diesem Abend und erhielten - eine Rarität im Apollo - sogar Standing
Ovations. „Meine Brüder und ich hatten sozusagen das Abitur mit Auszeichnung
bestanden, und nun hofften wir auf einen Doktorgrad.“ Der Doktorgrad, das war der
Vertrag mit einer Plattenfirma; freilich nicht mit irgendeiner...
Aber
noch ist es nicht so weit. Langsam wird die Zeit knapp. Mr. und Mrs. Jackson träumen
schon lange davon, das öde Gary im kalten Norden zu verlassen und sich im
sonnigen Kalifornien niederzulassen, wo Joe ein paar Jugendjahre verbracht hatte.
Ihre Fahrkarte war Michael: Solange er klein und süß war, solange sich die
Jackson 5 als Kinderband präsentieren konnten, war ein Überraschungserfolg möglich;
danach wohl nur noch eine mühselige Durchschnittskarriere. Aber Motown läßt nichts von sich hören. Joe
hatte natürlich längst ein Demo-Band eingeschickt, aber es war nach Wochen
kommentarlos zurückgekommen. Da mußte er nehmen, was er kriegen konnte. In Gary
hatte Gordon Keith, ein songschreibender Stahlarbeiter, der wie so viele seiner
Kollegen eine Schwäche für Rhythm and Blues hatte, ein kleines Aufnahmestudio
eingerichtet und ein Plattenlabel gegründet, dessen Name Steeltown eine Anspielung auf das Vorbild war, dem der ehrgeizige
Mr. Keith nacheiferte. Er gab Joe ein Tonband mit ein paar Songs, die er selbst
geschrieben hatte. Es machte den Jungen wenig Spaß, ganz unbekannte Stücke zu
proben, wo sie doch gewohnt waren, mit den Erfolgshits des Tages zu glänzen.
Aber natürlich war die erste eigene Platte ein großes Ereignis und eine -
vielleicht einmalige - Chance. Big Boy,
die erste Schallplatte der Jackson 5 kam im Frühjahr 1968 heraus. Heute ist
eine ganze Reihe remasterter CD-Ausgaben auf dem Markt, deren beklagenswerte
Klangqualität eine Ahnung von Mr. Keith's Aufnahmestudio gibt. Die Stimmen von
Michael und Jermaine gehen vor dem stampfenden Baß beinahe unter, aber man
erkennt immerhin an der rauhen „schwarzen“ Stimme des Neunjährigen, daß man ihn
damals noch nicht auf das Kopfregister festgelegt hatte, mit dem er später
Furore macht; das geschah erst bei Motown. Die Platte geht über die lokalen
Radiostationen und wird sogar ein kleiner Hit im Großraum Chicago. Erstmals
finden die Kinder, die bisher von den Mitschülern gehänselt wurden, weil sie
sich, statt zu spielen, in einen lächerlichen Karrieretraum verloren hatten,
auch den Respekt der Gleichaltrigen.
Jetzt
konnte der Durchbruch eigentlich nicht mehr lange auf sich warten lassen. Mr.
und Mrs. Jackson ordneten an, daß die Telefongespräche zuhaus nicht länger als
fünf Minuten dauern durften, für den Fall, daß Motown anrufen würde - oder
wenigstens ein namhafter Promoter. Immerhin hatten James Browns Leute den
Jackson 5 zum Juni `68 ein Engagement im Apollo verschafft, doch seine Erinnerungen
zeigen, an was für einem dünnen Faden ihre Karriere noch hing. Joe hatte Geld fürs
Hotel und für die Betreuung der Jungen nach New York geschickt, „denn sie waren
ja noch Kinder“. Aber Browns Leibwächter, der sich um alles kümmern sollte,
hatte das Geld durchgebracht, und als die Kinder eintrafen, war nichts mehr da –
„nichtmal eine Unterkunft und kein Geld für die Verpflegung“. Browns Keyboarder
und langjähriger Freund Bobby Byrd nahm sie mit zu sich nachhaus, wo sie von
seiner Frau, der Sängerin Vicky Anderson umsorgt wurden. Am nächsten Morgen
bauten sie sich um Bobbys Klavier auf und sangen ihren Gastgebern ein
improvisiertes Danklied, thank you for
this and thank you for that, und es endete mit einem mehrstimmigen And we all thank you. Brown kann sich
noch Jahrzehnte danach die Rührung nicht verkneifen:
„So waren die
Jackson-Kids. Da hatte man ihr ganzes Geld verbraten, und sie stellten sich hin
und dankten noch für das, was man ihnen schließlich gab. Sie hatten
ausgezeichnete Manieren - es hieß immer Yessir
und No, Ma'am und so weiter. Man sah,
sie hatten eine gute Erziehung gehabt und waren an eine strenge Disziplin gewöhnt.“
Na, James Brown, der gar keine Familie gehabt und dennoch reichlich Prügel
bezogen hatte, mag vielleicht für einige Dinge doch nicht den rechten Blick
haben. Aber die Anekdote zeigt, wie wenig damals nötig gewesen wäre, die größte
Karriere des Show Business scheitern zu lassen, bevor sie noch begonnen hatte.
Es war zwar nichts Zufall. Aber es war auch nichts zwangsläufig.
Aller
guten Dinge sind drei. James Brown, Jackie Wilson - das waren Michaels große
Vorbilder. Doch „im Sommer des Jahres 1968 lernten wir die Musik einer
Familienband kennen, die unseren Sound und unser Leben verändern sollte“ : Sly and the Family Stone. Sie sind nicht
wirklich eine Familie, wenn auch wohl zwei oder drei verwandt sind. Sie sind
nichteinmal alle schwarz, aber sie machen, wenn man so sagen darf, eine Musik
von einer ganz eigenen Schwärze. „Sly Stone, James Brown, das sind die Leute,
die mit der Funk-Musik angefangen haben.“ Man kann sich kaum einen größeren
Kontrast zu dem Arbeitstier James Brown vorstellen: Sylvester Stewart, wie er bürgerlich
heißt, war ein genialischer Tausendsassa, der in der Hippie-Kultur von San
Francisco angefangen und als erster psychedelische Klänge in die Soul-Musik
getragen hat. Es klang alles wild und frei improvisiert, als hätten sie vorher
nicht abgesprochen, was sie spielen wollten. Aber irgendwie paßte es dann doch
zusammen. Sie waren die Musiksensation des Jahres `68 und machten im Jahr
darauf beim Woodstock-Festival großen Eindruck. Freilich stieg ihnen das zu
Kopf, und sie glaubten nicht, daß Showbiz außer Genie auch viel Arbeit ist.
Michael hat in sehr jungen Jahren mitbekommen, wie sich manches große Talent
durch leichtfertigen Gebrauch von Rauschgift und Alkohol zugrunde gerichtet
hat. Der fast hysterische Drogen-Haß des großen Jacko hat zu tun mit dem
traurigen Schicksal von Leuten wie Sylvester Stewart: Heute, da James Brown
sein soundsovieltes Comeback hat, ist The
Family Stone nur noch Erinnerung.
Damals
freilich sind die Jackson-Jungens von ihnen hingerissen wie alle andern.
Wegweisend wurde Sly vor allem durch seine Beziehung zur (weißen) Rock-Szene.
Er hatte nie, wie die andern Schwarzen, auf dem Chitlin Circuit gespielt. Sein
Publikum war von vornherein „vielfarbig“ (während Jimi Hendrix, bei
vergleichbarer Herkunft, eigentlich immer ein „weißer“ Star geblieben ist).
Hier stoßen wir auf ein Schlüsselwort, das uns in der Karriere von Michael Jackson
immer wieder begegnen wird: crossover
- der Einbruch des „schwarzen“ Geschmacks in das weiße Publikum. Während James
Brown stets die Philosophie vertrat: Warum sollten die Weißen meine Musik anhören,
wenn ich das machte, was die weißen Musiker auch können? Sie hören mich an,
wenn ich das mache, was nur ich kann... - genierte sich Sly keinen Moment,
jenseits der Rassenlinie einen Sound zu suchen, der allen gefallen konnte. ‚Crossover‘
kann beides sein. Freilich keines allein: Der bleibende Erfolg der „tiefschwarzen“
Klänge bei den weißen Hörern beruht auf der ständigen Vermittlungstätigkeit der
„Farbenblinden“; aber diese hätten nichts zu vermitteln, wenn nicht jene immer
wieder ihre kräftigen Akzente setzten.
Crossover
war das Zauberwort jener Plattenfirma, auf deren Anruf Joe Jackson immer
ungeduldiger wartete - wie man sieht, nicht nur aus kommerziellen, sondern auch
aus stilistischen Gründen. Es war das Label, wo die Musik der Jackson 5 „hingehrte“.
Aber wann würde Motown das auch
einsehen?
Stattdessen
kam, unerwartet, ein ganz anderer An-ruf, der die Chance zum großen Durchbruch
sein konnte! Unter den Besuchern jenes sommerlichen Auftritts im Apollo hatte
ein Talentspäher für die populäre New-Yorker TV-Show von David Frost gesessen,
und der sorgte dafür, daß sich der Produzent in Gary meldete. „Wir würden im
Fernsehen auftreten! Das war die größte Sensation unseres Lebens. Ich erzählte
es allen in der Schule, und wer mir nicht glaubte, dem erzählte ich es zweimal.“
In den folgenden Tagen war eine fieberhafte Vorbereitung für den
Fernsehauftritt angesagt. Immer wieder Kostümproben, und dann die schwierige
Frage: Was sollten sie auswählen aus dem inzwischen reichen Repertoire?
Da
macht der Vater die schreckliche Mitteilung: Die Fahrt nach New York ist
abgesagt. Michael schildert den Augenblick melodramatisch: „Ich war den Tränen
nahe. Wir waren so kurz vor dem Durchbruch gewesen. Wie konnte man uns das
antun? Ich zitterte am ganzen Leib.“ Doch nein, nicht das Fernsehen hatte
abgesagt, sondern - Joe selbst. „Erneut starrten wir ihn an, unfähig, etwas zu
sagen. – ‚Motown hat angerufen.‘
- Ein Schauder lief mir über den Rücken.“