Samstag, 7. Mai 2016

Vorwort zur Netzausgabe.



Das größte Comeback aller Zeiten sollte es werden. Der Meister blieb sich treu bis zum Schluss: Das ist es geworden - indem es ausfiel.

Als ich meine Monographie Das Phänomen niederschrieb, hätte ich meine Hand ins Feuer gelegt, dass der Medienauftrieb der Jahre 1993/4 um den Fall, der keiner wurde niemals je könnte überboten werden. Zum Glück habe ich es nicht getan. Millionen Fans, die ein Jahrzehnt lang Höllenqualen litten, weil so wenige Menschen auf der Welt ihren Helden bei seinem wahren Rang erkannten, verschlug es die Sprache, als nach Michael Jacksons unerwartetem Tod am 24. Juni 2009 die Woge der Trauer und Klage hoch über sie hinweg fuhr. Und diesmal lege ich die Hand ins Feuer: Das gibt es nicht ein zweites Mal.

Er war nicht bloß ein Showstar. Er war ein epochales Weltkulturereignis. Ich hatte völlig Recht, als ich damals dieses Buch schrieb. Und müsste ich es heute nochmal schreiben – nicht ein Wort würde ich ändern. Ich würde auch das Jahrzehnt, das zwischen der 2. Ausgabe und seinem Todestag liegt, nicht weiter behandeln. An dem Bild des Künstlers, das ich mir und meinen Lesern gemacht habe, würde es nichts ändern, nicht im Wesentlichen; es könnte es nur verwischen.

Ganz am Schluss meines Lebensberichts habe ich mich dann doch vertan: "The best is still to come!" Das war ein Irrtum, das würde ich heute nicht wieder schreiben. Dass das Gesamtkunstwerk MJ bereits vollendet war, habe ich nicht geahnt.

Und doch gehört das letzte Jahrzehnt irgendwie dazu. Er hat nicht mehr nur auf der Bühne und für die Bühne gelebt. Ich glaube – dass wir uns recht verstehen: ich will gerne glauben -, dass Michael Jackson mit seinen drei Kindern endlich sein Privatleben gefunden hatte. Es heißt, dass er jedes Ansinnen für ein Comeback, jeden Vorschlag für eine neue Tournee immer wieder hartnäckig abgwiegelt hätte - so, als fürchte er sich davor. 


Wieder leben wie früher, unersättlich den eigenen Weltrekorden hinterherjagend, und mit nichts wirklich zufrieden sein - das konnte ihn kaum verlocken. Aber einfach zur Ruhe setzen kann sich einer, der zum Künstler wurde, um der Melancholie zu entrinnen, auch nicht. Da war es ein Wink des Schicksals, dass der Mangel an Barem ihm schließlich keine Wahl ließ. Und natürlich musste es das größte Comeback aller Zeiten werden. Und wäre es geworden, es hat ja schon im Vorfeld wieder alle Rekorde gebrochen.

Aber dann hat ihn die Melancholie eingeholt. Nicht jeder, der an Schlaflosigkeit leidet, ist ein Melancholiker - nur zwei von dreien. Doch jeder Melancholiker leidet an Schlaflosigkeit.

Propofol!

Ein stärkeres Zeug gibt es nicht. Trotzdem wird es wohl, das glaube ich fest, ein unvorhersehbarer Unfall gewesen sein. Doch dieses Ende passte so hundertfünfzigprozentig ins Gesamtbild, dass es schwer fällt, an Zufälle zu glauben. Und also wucherten schon am Tag danach die Phantasien des Publikums. Als er lebte, war ich gewiss, dass sich der Mythos Michael Jackson durch nichts mehr überbieten ließe. Er hat mich in diesem Punkt korrigiert.

Vieles im Leben von Michael Joseph Jackson aus Gary, Ind., USA wirkte wie eine kaltschnäuzige Inszenierung. Dieses Mal war das letzte.


Juni 2009





Titelblatt der Erstausgabe (1997)


Der Genius muß schon als Kind
die neue Welt mit andern Gefühlen als andere aufgenommen
und daraus das Gewebe der künftigen Blüten anders gesponnen haben.
Eine Melodie geht durch alle Absätze des Lebensliedes.
Jean Paul

...eine Empfindung, die der Erwachsene so oft
bei Kindern hat: daß sie etwas wissen, was wir nicht wissen
oder nicht mehr wissen, irgend ein magisches Geheimnis.
Egon Friedell

Genie haben heißt nicht, damit leben zu können.
B. Russell






zum Andenken an Buster Keaton




Inhalt


Einleitung
1958-1969
oder Wie der Rhythm&Blues zur Musiksprache der Welt wurde
1969-1972
oder Ein Oldie von siebzehn Jahren
1972-1976
oder The Real Peter Pan
1976-1983
oder Das Bambi der Rockmusik
Ein kulturgeschichtlicher Exkurs
oder Die Suche nach einer verlorenen Zeit
1983-1988

oder Der Fall, der keiner wurde
1988-1994
oder Der Kinderkönig kehrt zurück
1994-1997
oder Der erste Künstler des einundzwanzigsten Jahrhunderts

Einleitung zur Erstausgabe




Er ist der bekannteste Sterbliche unter der Sonne. Er ist auch der meistgeschmähte. Noch keiner hat seine Zeitgenossen so zum Reden gebracht wie Michael Jackson. Dabei ist er kein Machthaber, er ist bloß ein Mann des Showgeschäfts. Was macht ihn denn so wichtig?

Michael Jackson ist der Star par excellence. Der monatelange Medienfeldzug der Jahre 1993-94 brachte zweierlei an den Tag: Das Unterhaltungsgewerbe hat fürs öffentliche Leben eine Bedeutung gewonnen, die vor einer Generation noch unvorstellbar war. Und im Mythos Michael Jackson ist etwas dargestellt, das an den Nerv der Zeit rührt.
Das sind offenbar zwei Seiten einer Medaille.

Doch Sozialwissenschaftler und Kulturkritiker sind sprachlos. Sie sind die einzigen, deren Aufmerksamkeit er bis heute nicht erregen konnte. Eines der auffälligsten Ereignisse der zeitgenössischen Zivilisation überlassen sie kampflos der Klatschpresse. Da gehöre er auch hin, hieß es. Er sei ja doch nur eine - auswechselbare - Erfindung der Medien. Doch vor drei Jahren haben sie sich alle zusammengetan, um ihn zur Strecke zu bringen: Es ist ihnen nicht gelungen. Das spektakuläre, mit seiner gegenwärtigen Welttournee ertrotzte Comeback beweist immerhin dies: Michael Jacksons inzwischen dreißigjährige Weltkarriere war kein mediatischer Zufall. Sie nährt sich aus einer eigenen Kraft. Selten wurde der Einklang eines Privatschicksals mit einer Künstlerlaufbahn so deutlich wie im Fall des kleinen Michael aus Gary, Ind., der sich zum Jacko, dem größten Star aller Zeiten gemacht hat.

In diesem Buch wird zum erstenmal versucht, das Kulturereignis Michael Jackson in einen weiteren Zusammenhang zu stellen. Es ist ein bewegendes Menschenleben, von dem wir berichten, und zugleich eine kleine Geschichte und Ästhetik der modernen Unterhaltungskunst.

Der Roman, der hier erzählt wird, ist aber auch - das sichtbarste Zeichen für einen tiefen gesellschaftlichen Umbruch. Wie immer man es wertet: Michael Jacksons Weltkarriere ist ein Phänomen eigener Ordnung.



1. Wo, bitte, geht's nach Motown?



I've been the victim of
A selfish kind of love
Man In The Mirror, Bad

Gary liegt, wie ein Stadtchronist schrieb, da, wo die meisten Leute Chicago vermuten - an der äußersten Südspitze des Michigan-Sees. Freilich, wer heute die knapp vierzig Kilometer von Inner Chicago nach Gary im Auto oder in der Bahn zurücklegt, wird kaum noch bemerken, daß er eine Stadt verläßt und eine andere betritt; und schon gar nicht, daß er die Staatsgrenze von Illinois nach Indiana passiert hat.

Dennoch ist Gary nicht einfach ein Auswuchs der wildwuchernden Metropole. Gary wurde von einem planerischen Gehirn ersonnen und zwischen die Sümpfe, Dünen und Tümpel der Heidelandschaft am Südufer des großen Sees fix und fertig hingesetzt. Das war 1906. Der U.S. Steel-Konzern hatte beschlossen, dies sei der ideale Standort für sein neues Stahlwerk: Mitten im größten Eisenbahnknoten der Welt gelegen, kam Kohle über die Schiene aus Illinois und Michigan, und kam das Eisenerz über die Großen Seen aus Minnesota.

Das einzige, was fehlte, waren die Arbeitskräfte. Um sie herbeizulocken, sollte Gary eine Musterstadt werden. Und so achtete man darauf, die Fehler, die andere Gesellschaften bei ihren Neuansiedlungen gemacht hatten, tunlichst zu vermeiden. Namentlich vermied der Arbeitgeber U.S. Steel, zugleich als landlord, als Wohnungsvermieter aufzutreten. Daher gab es in Gary keine Mietskasernen. Die Arbeiter sollten ihre eigenen Häuschen haben. Die Siedlung war nach den damals modernsten Gesichtspunkten konzipiert, eine funktionalistische Gartenstadt nach strengem Schachbrettmuster. Direkt am See, gleich hinter den Hafenanlagen, die Hochöfen und Walzwerke. Dann die Bahngleise. Dahinter das Geschäftsviertel mit den repräsentativen Gesellschaftseinrichtungen. Und schließlich uptown, im Süden, die Wohngebiete mit einem großen Park in der Mitte. Vielleicht ein bißchen fad, aber kein Vergleich mit der Häßlichkeit anderer Industriestädte im Mittelwesten.

Denn der Konzern war ehrgeizig:  Zweihunderttausend Menschen sollten hier einmal leben, und um zu zeigen, was man sich vorgenommen hatte, hießen die beiden Hauptstraßen Broadway und Fifth Avenue. Als Namensgeber der neuen Stadt kam nur der große Boß in Frage: Elbert H. Gary selbst.

Die Straßen, die Gary von Norden nach Süden durchziehen, sind östlich des Broadway, ganz patriotisch, nach den Gründungsstaaten der Union benannt, westlich nach den ersten Präsidenten. Da gibt es die Washington Street, die Adams Street, die Jefferson Street; und auch der siebte Präsident hat seine Straße bekommen: Andrew Jackson.
Wir schreiben das Jahr 1958. Gary ist einer der bedeutendsten Stahlstandorte der USA, aber ganz konnte es die hochgespannten Erwartungen nicht erfüllen: Nach einem guten halben Jahrhundert hat es erst knapp hundertachtzigtausend Einwohner, und ist geblieben, was es immer war: eine riesige Werkssiedlung.

In der Mitte der Jackson Street, in N° 2300 an der Ecke zur 23rd Avenue, hinterm Football-Platz der Roosevelt High School, wohnt eine Familie, die heißt selber Jackson. Das ist nun nichts besonderes. Ein paarhundert Nachbarn dürften auch so heißen. Ungewöhnlicher ist schon, wie die Familie zu ihrem Namen kam. Denn sie hatten ihn nicht „schon immer“. Des Vaters Urgroßvater war ein Indianer aus dem Choctaw-Stamm (also ohne Familiennamen), den man während seiner Dienstzeit als Armeekundschafter Jack gerufen hatte. Von dem hatte eine gewisse Gina einen Sohn bekommen.  Der hieß nun Jack's son; denn auch Gina konnte ihm keinen Familiennamen vererben. Gina war eine Sklavin.

Ob diese Story stimmt?

Wie so vieles in dem Abenteuerroman, den wir hier erzählen wollen, sind die Tatsachen und die Legenden nicht mehr zu trennen. Hier wie noch oft müssen wir uns mit der philosophischen Einsicht bescheiden: se non è vero, è ben trovato - wenn's auch vielleicht nicht wahr ist, so ist es doch trefflich erdacht.

Soviel wissen wir jetzt: Unsere Jacksons in 2300, Jackson Street, Gary, Ind. sind negroes; African Americans, wie es heute heißen würde.

Das ist nun in Gary freilich auch nichts besonderes. Gary ist selber das besondere: Die meisten Leute sind dort im Jahr 1958 Neger, jedenfalls mehr als die Hälfte, und das war für eine Großstadt im Norden schon ungewöhnlich. Und gar erst dies: Selbst der Bürgermeister war „schwarz“! War nicht überhaupt Gary die erste amerikanische Großstadt mit einem schwarzen Bürgermeister?

Das wiederum hat zu tun mit der Stadtgeschichte, von der wir erzählt haben.
Gary war eine leere Stadt gewesen, ohne Alteingesessene, die die Neuankömmlinge scheel ansahen und an den Rand drängten. U.S. Steel konnten jeden brauchen, der arbeiten wollte, und als Gary seinen großen Auf-schwung nahm, gab es auch keine lilienweißen Gewerkschaften mehr, die das Werk „rein“ gehalten hätten. (U.S. Steel war der erste Konzern, der in den 30ern mit der militanten, „farbenblinden“ Industriegewerkschaft CIO eine Tarifverstrag abschloß.) Garys große Zeit war, nach der langen Depression der Dreißigerjahre, der Kriegs- und Nachkriegsboom gewesen. Nie wurde je wieder so viel Stahl gebraucht!

Bis zum Krieg hatten zwei Drittel der schwarzen US-Bevölkerung in den ländlichen Distrikten der Südstaaten gelebt, zumeist als landlose Tagelöhner, gedrückt und gedemütigt von der Armut, der Unwissenheit und dem Ku Klux Klan. Mit dem Kriegsboom setzt die große Wanderung nach Norden (und Westen) ein. In der Rüstungsproduktion werden die Arbeitskräfte knapp, und auch in den klassischen Industriebranchen müssen die einberufenen Soldaten nun ersetzt werden. Viele ethnische Minderheiten (übrigens auch viele Frauen) finden zum erstenmal Zugang zum regulären Arbeitsmarkt. 

Anfang 1950, knapp fünf Jahre nach Kriegsende, bezieht das Ehepaar Joseph und Katherine Jackson das einstöckige Häuschen in 2300, Jackson Street. Es ist ein ganz bescheidenes Haus, zwei kleine Schlafräume, Wohnzimmer, Küche mit Gasherd, Bad. Aber es ist gewiß kein Rattenloch im Schwarzenghetto: Ein solches Ghetto gab es nicht, damals, in Gary, Ind. (Inzwischen ist das anders. Gary ist jetzt selbst nichts andres mehr als ein riesiges Ghetto. Der Niedergang der Stahlindustrie hat die Stadt ruiniert und zum kriminellen Schandfleck von Indiana gemacht.)

Joseph Walter Jackson wurde 1929 in Arkansas gboren. Sein Vater Samuel stammte aus Mississippi, hatte das College besucht und war High-School-Lehrer. Er wird als streng und gefühllos geschildert, und anscheinend ist einiges davon an diesem Sohn hängengeblieben. Joe hatte vier jüngere Geschwister, von denen jedoch eines, die kleine Verna, mit sieben Jahren an Kinderlähmung starb. Der Vater war ein gottesfürchtiger und, obwohl er eine seiner Schülerinnen hatte heiraten „müssen“, ein selbstgerechter Mann, der witterte Satan allerorten, und damit er seinen Kindern nichts anhaben konnte, hielt er sie - eingeschlossen. Der Älteste war sein Statthalter. Er mußte für strikten Gehorsam sorgen. Bigotterie ist Familientradition bei den Jacksons. Als Joseph fünfzehn war, ließen die Eltern sich scheiden. Joseph ging mit dem Vater nach Oakland, Kalifornien, aber verließ ihn wieder, als der sich neu verheiratete, und kehrte zu den Geschwistern und zu seiner Mutter zurück, die sich inzwischen mit ihrem neuen Ehemann in East Chicago niedergelassen hatte - jener Stadt an der Staatsgrenze, die Gary mit Chicago verbindet: Wir nähern uns dem ersten Schauplatz unserer Geschichte. Die Eltern sollten sich bald von ihren neuen Partnern trennen und einander ein zweitesmal heiraten, aber auch das dauert nicht lange, und sie verbinden sich wieder anderweitig; aber auch nicht sehr fest...

Es ist ein Milieu ohne Wurzeln, keine richtige Heimat, unklare Familienverhältnisse, wenig, woran man sich halten kann (es sei denn Gottes Wort)... Es ist das schwarze Amerika. 

Katherine Scruse kam ebenfalls im tiefsten Süden zur Welt, ein Jahr nach Joseph Jackson, in Alabama, wo ihre Eltern auf einem gepachteten Stück Land Baumwolle pflanzten. Unter ihren Vorfahren war ein weißer Mann gewesen. Aber das macht nichts. Es macht was, wenn man unter seinen Vorfahren einen Neger hat; jedenfalls, wenn man das sehen kann, und das kann man fast immer. Dann nämlich ist man colored, und das hieß damals: ein Leben lang ganz unten.

Mit kaum zwei Jahren erkrankte das Mädchen an Kinderlähmung, gegen die die Medizin seinerzeit machtlos war, doch anders als Joes kleine Schwester überlebte sie, freilich schwer gezeichnet. Jahrelang ging sie an Krücken, und die steigenden Arztrechnungen bewogen die Eltern 1934, auf dem Höhepunkt der Großen Depression, im Norden nach einem sicheren Einkommen zu suchen. Sie landeten in East Chicago, Vater Albert wurde Dienstmann bei Pullman, aber bald darauf ließen auch Katherines Eltern sich scheiden. Sie lebte nun allein mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schweser Hattie. Als sie die High School besuchte, konnte sie endlich die Krücken beiseitelegen, aber hat bis heute ein leichtes Hinken behalten. Und sie ist seither scheu, in sich gekehrt und ernst. „Kinder können furchtbar grausam sein“, sagt sie sp„ter, „aber ich glaube, das hat mich starkgemacht.“ Freilich auch schicksalsergeben.

Als sich Joseph Jackson und Katherine Scruse in East Chicago begegnen, ist er wegen seiner ble-denden Erscheinung einer der begehrtesten Junggesellen in der black community, und es gibt eigentlich keinen Grund, warum er sich dem zwar hübschen, aber hinkenden und verschlossenen Mädchen zuwenden sollte. Er ist gerade achtzehn, als er zum erstenmal heiratet. Nicht Katherine. Doch jene Ehe hält kein Jahr, denn Joseph nimmt es mit der Treue, wie es heißt, nicht so genau. Ende 1949 heiratet Joseph Jackson Katherine Scruse, und ein paar Monate darauf ziehen sie nach Gary in die Jackson Street.

Wir sind zurück im Jahr 1958. Als am 29. August Michael Joseph, der Held unserer Geschichte, das Licht der Welt erblickt, hat er schon sechs Geschwister. Die Alteste ist Maureen Reilette, genannt „Rebbie“, geboren 1950. Ihr folgte ein Jahr darauf Sigmund Esco, später als „Jackie“ bekannt. 1953 kam Toriano Adaryll – „Tito“ - zur Welt, im folgenden Jahr Jermaine LaJuan. LaToya Yvonne ist das fünfte Kind, geboren auf den Tag sechs Jahre nach der Ältesten. Ihr folgt 1957 Marlon David, dessen Zwillingsbruder kurz nach der Geburt stirbt.

Als Michael ankommt, hat sein Bruder Jermaine gerade eine schwere Nierenentzündung überstanden, und die Arztrechnungen drücken noch lange aufs Familienbudget. Vater Joe hatte eine Karriere als Boxer versucht - eine der wenigen Möglichkeiten für einen Schwarzen, sich aus der tief gedrückten Stellung am untern Ende der Gesellschaft emporzuarbeiten (eine andere war das Showgeschäft). Aber angesichts der rasch wachsenden Familie wurde ein sicherer Verdienst nötig, und Joe fing im Stahlwalzwerk der American Foundries als Kranführer an. Nach Michael wird 1961 noch Steven Randall „Randy“ geboren, 1966 schließlich Janet Damita. Neun Kinder, das ist eine Menge, und so muß Joe noch eine zweite Schicht bei Inland Steel fahren. Es reicht immer noch nicht: Zeitweilig arbeitete Katherine, als hätte sie mit ihrer Familie nicht genug zu tun, halbtags als Kassiererin bei der Ladenkette Sears. Wir werden bald schlimme Sachen über die Familie Jackson zu erzählen haben, darum hier die Bemerkung: Der harte Einsatz beider Eltern, um die Kinder zu ernähren und die Familie zusammenzuhalten, war angesichts ihrer eigenen Jugend so selbstverständlich nicht. Man darf annehmen, daß der Vorsatz, es auf jeden Fall anders zu machen als die eigenen Eltern, am Anfang jener Familientragödie stand, die den Hintergrund unserer Geschichte bildet.

Zunächst einmal sind Joe und Katherine stets auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, das Familienportefeuille aufzubessern. Die älteren Kinder mähen den Leuten den Rasen im Vorgarten und schaufeln im Winter Schnee. Schließlich kommt Joe auf eine Idee, die direkt in die größte Karriere in der Geschichte des Showgeschäfts führen soll. Mit seinem Bruder Luther und vier Freunden, wohl Arbeitskollegen aus dem Werk, bildet er eine Rhythm-and-Blues-Gruppe - Joe ist an der Gitarre. Nicht sehr originell, das tun damals in Gary eine Menge Leute. Aber The Falcons haben mit ihrem Programm aus Titeln von Chuck Berry und Little Richard sogar einen gewissen Erfolg. Für 20 $ pro Abend treten sie in Clubs und bei Parties auf. Das ist mehr als gar nichts und macht auch noch Spaß. Geübt wird bei Jacksons zuhaus, so eng es dort ist. Michael wird sich später an die häuslichen Proben nicht erinnern können. Die erste Musik, die er gehört habe, sei das gewesen, was seine Mutter sang, wenn sie ihn auf dem Arm hielt; und das waren, neben Wiegenliedern, meist Country-Nummern. Doch die älteren Brüder Jackie, Tito und Jermaine nahmen auf ihre Art Anteil an der Probenarbeit von Vaters Band.

Die folgende Anekdote wurde so oft kolportiert, daß man sie für erfunden halten möchte. Des Vaters Gitarre war im Wohnzimmerschrank verschlossen, unter strengem Verbot, sie anzurühren. Allerdings hatte Joseph die Erziehungsprinzipien seines Vaters übernommen: Auch seine Kinder hatten sich von der Welt fernzuhalten, sei's, um sie vor dem Bösen zu behuten oder sei's nur, wie LaToya später mutmaßen wird, um sie unter Kontrolle zu halten. Jedenfalls langweilten sie sich, denn sie durften kaum vor die Tür, und schließlich vergriffen sie sich an der Gitarre. Tito entwickelte besonderes Talent. Katherine konnte das kaum überhren, doch hatte sie eigene Gründe, ihre Kinder von der Straße fernzuhalten, und sie ließ sie gewähren. Es geschah, was geschehen mußte, eines Tages reißt eine Saite. Keine Möglichkeit, sie rechtzeitig zu ersetzen! Die Jungen haben eine Heidenangst. Mit gutem Grund, wie wir gleich hören werden. Doch als Joe nachhause kommt, schaltet sich diesmal die Mutter ein, bevor die Prügelei wieder losgeht: Die Kinder hätten nicht bloß rumgespielt, sondern richtig geübt, er solle sichs dochmal anhören. Irgendwann muß dann Joe wirklich zugehört haben, denn er befand, die Jungen hätten Talent. Von da an wurde täglich geübt. Und zwar von Anbeginn ganz professionell. Noch während er selbst mit seinen Falcons auftrat, hat Joseph Jackson erkannt, daß es hier nicht mehr um eine paar Extradollar ging. Es ging um eine richtige, große Karriere: Nicht er, sondern seine Söhne hatten das Zeug, es im Showgeschäft zu etwas zu bringen.

Zunächst aber war das Training der Söhne nur eine weitere Belastung. Das kleine Haus war bald mit Musikinstrumenten, Mikrophonen und Verstärkern vollgestopft. Es war eine ernsthafte Investition, von deren Sinn die Hausfrau nicht immer überzeugt war. Bald wurden die drei Älteren von dem kleinen Marlon an den Bongos unterstützt, es kamen auch zwei fremde Jungen dazu fürs Schlagzeug und die Orgel. Michael sah und hörte einstweilen nur zu. Nicht daß es ihm an Talent fehlte - er hatte, kaum daß er laufen konnte, seine Familie erheitert, wenn er in der Küche zum Rhythmus der Waschmaschine tanzte. Aber er war mit seinen drei Jahren wirklich noch etwas klein. Der Sänger der Gruppe war Jermaine, und zu ihm blickte Michael bewundernd auf - nicht nur darum, sondern auch, weil der es war, der ihn to the kindergarten brachte und dessen Sachen er auftrug. Daher eiferte er ihm nach in allem, und besonders im Singen. „Ich habe immer Jermaine nachgemacht. Verglichen mit meiner Baby-Stimme war Jermaine ein ausgewachsener Sänger. Ich liebte seinen Sound. Stimmlich hat er mir den Weg gewiesen.“ Im Herbst 1963, als er eben fünf geworden war, kommt Michael in den Kindergarten der Garnett Elementary School. Dort findet bald ein denkwürdiges Ereignis statt: Der größte Star aller Zeiten hat Bühnen-Premiere. Noch ganz bescheiden: Bei einer Schulfeier singt er accappella, d. h. ohne Begleitung, das Lied Climb Every Mountain - und soll gleich beim erstenmal sein Publikum zu Tränen gerührt haben. Als er wenig später im Kindergarten drei Wünsche aufschreiben muß, wählt er folgende Reihenfolge: „Ich möchte gern ein großer Entertainer werden. Ich wünsche mir Frieden für die Welt und ich möchte später mal ein eigenes Haus haben.“

Es blieb nicht beim Üben. Joe Jacksons Kinderband trat auch auf. Bei Wohltätigkeitsveranstaltungen oder in Einkaufszentren. Als er fünf war, stieß endlich auch der kleine Michael zur Band. Zuerst übernahm er die Bongos von Marlon. Aber immer öfter übernimmt er bei den Proben auch die Singstimme. Sie spielen die aktuellen Soul-Nummern von den Temptations und James Brown. Seinen ersten professionellen Auftritt hat Michael im Sommer 1964 bei einer Werbeveranstaltung für einen Discountladen. „Unser erster gig [Jargonwort für Auftritt] war in einem Einkaufszentrum, The Big Top in Gary, Ind. Es war eine große Eröffnung. Die Leute sind alle gekommen und wollten die neueste Mode kaufen. Wir standen mitten in der Passage und haben gesungen. Ich war etwa sechs. Angefangen habe ich mit fünf“, erinnert sich Michael. Jackie ergänzt: „Das Publikum hat uns verschlungen. Michael hat sie alle umgehauen. Er war der Star. Das haben wir alle schon damals gemerkt.“

Geprobt wird jeden Tag. Michael erzählt: „Damals in Gary haben wir die ganze Zeit geübt. So gegen drei kam ich aus der Schule und dann war im Wohnzimmer schon alles aufgebaut, die drums und so, und wir probten bis in die Nacht, sieben Stunden täglich. Mein Vater hielt uns auf Trab und er hat uns eingetrichtert, daß Übung den Meister macht.“ Dieselben Stücke, immer, immer wieder, bis alles sitzt - das Singen, das Tanzen, die Instrumente. Macht einer Fehler, setzt es Prügel. Auch jeden Tag. Mit dem Gürtel, dem Stock, dem Kleiderbügel, allem Möglichen, auch mit den Fäusten. Blutige Nasen sind häufig, und gelegentlich ist einer der Jungen bewußtlos. Die Geschichten, die Jahrzehnte später in die Öffentlichkeit sickern, klingen wie Auszüge aus einem Gerichtsprotokoll.

Es scheint, als macht es Joe Jackson Freude, seine Kinder zu quälen. Er schlägt sie nicht bloß, er erschreckt und ängstigt sie nur so zum Spaß. Und was das schlimmste ist: Er beschimpft und demütigt sie, wo er kann. „Schläge sind irgendwann mal vorbei, aber verächtliche Worte nisten sich im Kopf ein“, schreibt LaToya später. Der „süße kleine Michael“ ist längst die Hauptattraktion der Jackson 5, da bekommt er noch täglich zu hören, wie häßlich, dumm und ungeschickt er ist...

Er war schon immer ein bißchen anders als seine Geschwister, aufgeweckter, lebhafter, ein Frühentwickler. Jetzt ist er zum Kleinod der Familie und zum Schlüssel zu ihrer Zukunft geworden. Folgerichtig bekommt er auch in Joe Jacksons Prügelordnung eine Vorzugsstellung: Während bei den Proben Marlon, der mit dem Tanzen Mühe hat, am meisten abbekommt, ist ansonsten er die erwählte Zielscheibe. (Doch auch Jackie, als der Älteste, wurde nicht vernachlässigt.) Freilich ist er auch der einzige, der nicht stillhält. Er widerspricht dem Vater, und wenn dann die Schläge hageln, schlägt er zurück, rückt aus und wirft wohl auch mal einen Schuh nach seinem Peiniger. „Deshalb bekam ich mehr ab als alle meine BrÜder zusammen. Ich wehrte mich, und mein Vater schlug mich halbtot“, schreibt er in seiner Autobiographie.

Wo war die Mutter? Später wird keines der Kinder ein gutes Wort für den Vater finden - sofern sie ihn überhaupt erwähnen; wenn Michael ihm heute in der Öffentlichkeit begegnet, sieht er ihn nichtmal an. Aber von der Mutter reden sie alle wie von einer Heiligen. (Nur LaToya hat den Bann schließlich gebrochen.) Hat sie nicht ihre Kinder mit Liebe überschwemmt? Doch es wird auch nicht ein einziges Mal berichtet, wo sie sie geschütz hätte. Nein, wenn sie in Joes Abwesenheit die Proben beaufsichtigte, hat sie ihm hinterher Bericht erstattet; oft mit schmerzhaften Folgen. Joes häuslicher Terror ist bei den Jacksons ein Unthema. Wofür du keine Worte hast, das ist fast, als wär es nicht geschehen. Bei der Mutter haben die Kinder Trost gefunden. Aber keinen Schutz. 
Umso weniger, als Katherine zur Isolation ihrer Kinder das ihre beitrug. 1963 hatte sie sich den Zeugen Jehovas angeschlossen, einer strengen protestantischen Sekte, die ihren Anhängern jeden Kontakt zur Außenwelt untersagt - es sei denn zu Bekehrungszwecken. Alle Feste sind verboten, auch Geburtstage und selbst Weihnachten. Als Michael bei der Grammy-Verleihung 1993 fast heulend erzählte, „das war keine normale Kindheit, ohne die normalen Kinderfreuden, kein Geburtstag, kein Weihnachten“, da klang es fast, als ginge es erstmals auch gegen Katherine...

Joe duldete die Freunde seiner Söhne nicht in seinem Haus, und seit die Band in der Öffentlichkeit auftrat, blieb neben den Proben für Kinderspiel sowieso keine Zeit. Doch Michael bleibt dabei: Er sei niemals zum Kinderstar gedrängt worden – „wie etwa Judy Garland“ -, er habe selber immer nur singen und tanzen wollen, der ‚Zwang‘ sei von innen gekommen. Da ihm aber die ganze andre Welt verschlossen war, blieb wohl auch sonst kein Ausweg. „Auf der Bühne bin ich in Sicherheit. Am liebsten würde ich dort übernachten.“ Escapism gehört bis heute zu Michaels Lieblingsvokabeln.

Talent allein reicht nicht aus für eine Karriere. Aber Üben auch nicht. Man kann noch so gut sein, es hilft nichts, wenn man keine Chance bekommt.

Management ist zu allererst die Kunst, Chancen aufzuspüren. Aber die lagen in Gary, Ind. nicht auf der Straße. Es wurde viel Musik gehört in dieser schwarzen Stadt, aber es gab auch viele Musiker, die sich, wie die Falcons, für ein paar Dollars um einen Auftritt rissen. So ließen die Waves and Ripples, wie sie am Anfang hießen, keine der Talentschauen aus, die damals reichlich veranstaltet wurden, um der schwarzen Jugend die Hoffnung zu erhalten. Gelegentlich werden die Jungen sogar mitten in der Nacht geweckt, um einem späten Besucher vorzuspielen. So wird Joe Jacksons Kindertruppe bald zu einer bekannten Lokalgröße in und um Gary - was übrigens den Druck zu ständiger Perfektion und Erneuerung des Programms nur verstärkte, denn wie anders wollte man stets dasselbe Publikum bei der Stange halten? Die Formation stand inzwischen fest. Vorn rechts Marlon, dahinter Tito mit der Gitarre, links von ihm Jackie, der inzwischen alle überragte, vor ihm links Jermaine an der Baßgitarre, und davor Michael, der sich damals noch mit Jermaine als Leadsänger abwechselt. 

Während die Kinder wie Profis üben, hält sich Joe auf dem Laufenden, was sich im Showgeschäft und in der R&B-Musik so tut. Er zieht durch die Clubs und Theater rund um Chicago und achtet auf alles Neue, was sich in den Auftritt seiner Söhne einbauen ließe. Als Michael acht ist, haben die Jackson Five, wie sie sich inzwischen nennen, ihren ersten größeren Erfolg. Sie gewinnen den städtischen Talentwettbewerb im Memorial Auditorium von Gary. Daheim ist nun nichts mehr zu holen. Als Sprungbrett in die Welt kommt nur das benachbarte Chicago in Frage. Die Metropole des Mittelwestens war das Zentrum einer eigenen Rhythm-and-Blues-Kultur, wenn auch der gepflegte Chicago soul mit seinen lateinischen Anklängen, dem auch Joe Jacksons Falcons huldigten, nie die Bedeutung der Musik aus Detroit oder Memphis gewinnen sollte... Jedenfalls liegen den fünf Jungens die heftigeren funk-Rhythmen mehr, deren Siegeszug durch die schwarze Musik der späten sechziger Jahre untrennbar mit dem Namen James Brown verbunden ist. Joe beharrt nicht auf seinem Geschmack. Hier geht es nicht um Ästhetik, sondern um Erfolg. Die Jackson 5 werden eine Funk-Band.

Vater Joe arbeitet jetzt nur noch halbtags im Walzwerk. In der Hauptsache ist er der Manager seiner Söhne. Mrs. Jackson ist nicht begeistert. Immerhin verschlingen die Rundreisen durch die Talentwettbewerbe jedes Wochenende zusätzlich Geld, und Kinder werden größer. „Es war schwer. Das Geld war knapp. Es war eine Schinderei“, erzählt Michael. „Es bestärkte uns alle in unserem Entschluß, aus diesen Kreisen zu entkommen und dieses Leben so weit wie möglich hinter uns zu lassen.“ Joe verschafft den Jackson 5 regelmäßige Auftritte im Mr. Lucky's, einem Nachtclub in Gary. Die Haushaltskasse ist gerettet. Aber jetzt haben die Kinder nach den täglichen Proben auch noch nächtliche Auftritte: eine ganze Show, fünf Darbietungen pro Abend, sechsmal die Woche. Und eigentlich ist das Publikum der Nachtclubs von Gary nicht die Gesellschaft, in der eine Zeugin Jehovas ihre Kinder sehen möchte. „So treiben sie sich wenigstens nicht mit zwielichtigen Freunden auf der Straáe rum“ - klingt da wenig überzeugend. Die Stripperinnen und angetrunkenen Conférenciers sind nicht einmal eine Kollegenschaft, von der sich was lernen ließe. „Als wir damals diese Club-Shows machten, da war diese Lady, Sie wissen schon, was ich meine, aber ich fand's furchtbar. Ich war um die sechs und sie war so eine Stripperin, und sie zog ihren Schlüpfer aus, und ein Mann kam rauf, und dann fingen sie an zu ... Oh Mann, das war zu funky [anstößiger schwarzer Slangausdruck]. Also ich fand das furchbar.“

Aber dieses Geschäft hat seine eigenen Regeln, und Geld bringt es nur, wenn man sich daran hält. Bei der Nummer Skinny Legs And All kriecht Michael unter die Tische und guckt den Ladies unter die Röcke, sehr komisch, und das johlende Publikum wirft ihm das Geld mit vollen Händen zu. „Meine Taschen waren voller Geld, Zehner, Zwanziger, jede Menge Münzen. Die Leute haben nämlich Geld auf die Bühne geworfen. Da kamen so an die 300 $ zusammen auf der Bühne, und der Manager zahlte uns grad mal 15 $.“
Es kommen bald Auftritte in Chicago dazu. Das bringt mehr Gage und mehr Renommé. Aber feiner ist dieses Milieu auch nicht.

In Chicago gibt es das Royal Theatre, gemeinhin The Regal genannt - und das ist eine der wichtigsten Adressen des chitlin circuit, jener informellen Kette von Showbühnen, die das Rückgrat der schwarzen Unterhaltungsmusik bildeten. Im Regal gab es eine interessante Gepflogenheit. Wer an drei aufeinanderfolgenden Wochenenden den Talentwettbewerb für sich entscheiden konnte, durfte in einer Show auftreten - gegen Bezahlung! Erstmals vor einem Publikum von ein paar Tausend, statt, wie bisher, ein paar Dutzend in den Bars und Clubs - das wäre eine entscheidende Sprosse auf der Leiter zum Erfolg. Die Jackson 5 gewannen dreimal hintereinander, und sie wurden zu der Show von Gladys Knight And The Pips eingeladen, die damals gerade mit I Heard It Through The Grapevine ihren großen Durchbruch hatten. Gladys Knight wird später, neben einigen andern, das Verdienst an der Entdeckung der Jackson 5 für sich reklamieren, und wirklich war sie von der jungen Gruppe so beeindruckt, die da in ihrem Vorprogramm auftrat, daß sie wohl ein paar Vertreter ihrer Plattenfirma herbeiholte. Aber die waren anscheinend weniger hingerissen. Es sollte noch ein Jahr dauern, bis Motown aufmerken würde, bei anderer Gelegenheit.

Der Zugang zum Chitlin Circuit war nun immerhin geschafft. Es folgten Auftritte in Kansas City, Philadelphia, Washington D.C., St. Louis, Cleveland, Boston und Phoenix - zwischen Neuengland und Arizona. Sie eröffneten die Shows solcher Zelebritäten wie Jackie Wilson, den Temptations, den O'Jays und sogar für - James Brown. Das Leben wurde immer strapaziöser. Unter der Woche Schule und Proben, am Wochenende vor und nach den Auftritten endlose nächtliche Überlandfahrten in Joe Jacksons altem, vollgestopften VW-Bus. Genügend Schlaf dürfte keiner bekommen haben, wenn auch die Nächte im rollenden Biwak dem Jüngsten am wenigsten ausgemacht haben sollen.

„Morgens um fünf waren wir [nach einem Auftritt in Detroit] wieder in Gary. Ich hatte im Auto geschlafen, und deshalb war es nicht so schlimm gewesen, am Morgen zur Schule zu gehen. Aber als wir um drei Uhr nachmittags mit den Proben begannen, hatte ich das Gefühl, Bleigewichte mit mir herumzuschleppen.“ Dem kleinen Michael wird in diesen Jahren ein fröhliches und robustes Naturell nachgesagt, und so hatte er wenig Mühe, sich jeder Situation anzupassen; immerhin war er ja der einzige, der sich gegen den furchterregenden Vater je Widersetzlichkeit erlaubt hat.

Der Chitlin Circuit ist der Vorlauf zu einer professionellen Karriere, aber der große Durchbruch ist das noch nicht. Um einem breiten Publikum bekannt zu werden, muß man in die Programme der landesweiten Rundfunksender aufgenommen werden - und dazu muß man bei einem großen Plattenlabel unter Vertrag stehen. Das ist das nächste Ziel, das Joe Jackson ansteuert. Alle Unternehmungen dieser Jahre sind darauf gerichtet. Die Auftritte der Jackson 5 sollen Geld in die Haushaltskasse einspielen, sicher, aber sie sollen vor allem das Interesse der Branche wecken. Ja, und natürlich lernt man nirgends besser schwimmen als im See. Wo anders könnte sich die Kinderband auf die ganz große Karriere vorbereiten, als bei der Ochsentour durch den circuit?

Michael Jackson ist noch heute stolz auf seine Lehrjahre. „Einige Musiker - Springsteen und U2 zum Beispiel - mögen vielleicht sagen, daß sie alles auf der Straße gelernt haben. Ich bin ein Vollblutkünstler. Ich habe wirklich alles auf der Bühne gelernt.“ Vielleicht war ihm nicht ganz klar, wie wahr dieser Satz ist, als er ihn in seine Autobiographie schrieb. Denn alles, was Michael Jackson hat, hat er von der Bühne. In einem gewissen Sinn ist das auch tragisch, aber es ist vor allem das offene Geheimnis eines faszinierenden Künstlerlebens. Die Bühne - das war für den kleinen Michael die nie enden wollende Flut immer neuer Bilder, Spektakel, farbenprächtige Gestalten, richtige Menschen, Sensation, Beifall, ein ständiges Fest. Die Bühne ist das pralle Leben, und sie ist immer offen. Jenseits, d. h. diesseits der Bühne ist das Leben Arbeit, Schinderei, Schmerz, Bedrückung; es ist ohne Freude und hat keinen Ausweg. Der kleine Michael richtet sich ein für ein Leben auf der Bühne. Eine sinnlose Frage, ob er anders gewählt hätte, hätte er wählen können. Es war schlicht das Naheliegende. Die Bühne wollte ihn doch auch - hatte er denn nicht sein Talent?! Ohne die Bühne hätte er sich wirklich nur in seine Phantasie flüchten können. Aber die Welt des Showbiz ist keine Phantasie. Es gibt sie wirklich. Zumal für einen amerikanischen Negerjungen: Nirgends gab es mehr Zukunft, nirgends ließ sich mehr erreichen. Es klingt pathetisch, ist aber kaum übertrieben: Sein Schicksal hat ihn zum Künstler gemacht. Er mußte gar nicht wollen.

„Die meiste Zeit trieb ich mich allein hinter der Bühne herum.“ Während die Brüder im oberen Stockwerk aßen und schwatzten (und der Vater, wie gemunkelt wird, den Frauen nachstieg), stand der kleine Michael hinter den Vorhängen und sah den größten schwarzen Showstars seiner Zeit zu. „Ich verfolgte buchstäblich jeden Schritt, jede Bewegung, jede Drehung, jede Wendung, jede Veränderung der Mimik, jede Gefühlsregung, jedes Scheinwerferflackern. Das war meine Schule und mein Hobby. Die beste Ausbildung der Welt ist es, den Meistern bei der Arbeit zuzusehen. Man kann niemand das beibringen, was ich gelernt habe, indem ich dastand und nur zuschaute.“

Und nicht immer beließ er's beim Zuschauen. So schüchtern er schon damals gegen Fremde war, manchmal rafft er sich zusammen und spricht eines seiner Idole an. Er will wissen, was es ist, das einen Entertainer zum Star macht. Etta James, damals eine der ganz großen Nummern in der Soulmusik, erinnert sich: „Es muß um 1968 rum gewesen sein und ich trat im Apollo auf. Ja, da seh ich rüber in die Seiten [der Bühne] und da ist dieser Kleine und gafft mich an. Gafft nur. Ich scheuch ihn weg. Er macht mich nervös. Nächste Show ist der Kleine wieder da, gafft weiter. Jetzt bin ich sauer. Ich sag ihm, er soll sich zum Teufel scheren. Nach der Show bin ich in meiner Garderobe, und da kommt er schon wieder! Nerviges Bübchen. Schüchtern, aber nervig. Sagt, er ist Michael Jackson und ob ich ihn und seine Brüder bei ihrer Eröffnungsnummer gesehen hätte? Nee. Nie von gehört. Sagt auch, es tut ihm leid, mich zu belästigen, aber ihm gefällt, wie ich singe, und will wissen, wie ich es mache, die Zuhörer so durchzurütteln. Bin ich natürlich geschmeichelt und plauder so ein paar Geschäftsgeheimnisse aus. Na, das Bubi hört zu, als würde ich ihm die Safekombination von Fort Knox verrate! Man hörte die Rädchen in seinem Gehirn arbeiten.“

Michael Jackson hat von Kindesbeinen an unter Kunst nie etwas anderes verstanden als: die Menschen begeistern. Vieles, was dem gebildeten Europäer an ihm so hoffnungslos naiv erscheint, hat hier seine Wurzel. Ist es aber naiv? Immerhin ist es nicht jedem gegeben, andere zu begeistern. Die bloße Meisterschaft im Handwerks tut's nicht. Was ist es dann? Das eben ist das Geheimnis eines jeden Künstlers, und manchem - wohl den bedeutenderen - bleibt es zeitlebens selbst ein Rätsel. Das macht den Künstler zum Mythos - und das, was er tut, zur Kunst.

Einer, der zu seiner Zeit wie kein anderer verstand, sein Publikum zu begeistern, war James Brown. Er hat der schwarzen Musik wiederholt richtungweisende Impulse gegeben. Vor allem ihm und Ray Charles hat der Rhythm and Blues jene kräftige Zufuhr von Gospel zu verdanken, aus dem Mitte der sechziger Jahre die Soul-Musik hervorgegangen ist. Er war es auch, der Anfang der siebziger den funk zum vorherrschenden Stilmerkmal schwarzer Musik machte. In den Variété-Theatern des Chitlin Circuit ist James Brown dem kleinen Michael immer wieder begegnet, und es konnte nicht ausbleiben, daß seine beeindruckende Gestalt ihn auch persönlich geprägt hat. Als Michael ihn zum erstenmal auf der Bühne sah, war der Enddreißiger bereits eine lebende Legende. Elternlos im tiefsten Süden in bitterer Armut aufgewachsen, war er schon mit fünfzehn im Gefängnis gelandet und hatte sich zuerst durch Boxen bei den weißen Herren rehabilitiert, um endlich seinen Ausweg aus der schwarzen Misere als Musiker zu suchen. „Ich mußte JAMES BROWN werden, um überhaupt etwas zu sein“, begründet er die rastlose Arbeit an seinem Mythos.

Als „der am härtesten arbeitende Mann im Showgeschäft“ hatte er es nicht nur zu Ruhm, sondern auch zu Reichtum gebracht, er war, was kein anderer Schwarzer - weder in dieser Branche noch in einer andern - von sich sagen konnte: Er war sein eigner Herr geworden. Wir werden noch von ihm zu reden haben.

An dieser Stelle interessiert uns, was den kleinen Michael am meisten an ihm gefesselt hat: „Bevor er auftauchte, war ein Sänger ein Sänger und ein Tänzer ein Tänzer. Ein Sänger mochte tanzen können und ein Tänzer mochte singen können, aber wenn man nicht gerade Fred Astaire und Gene Kelly war [die aber gehörten zum weißen Hollywood, d. Verf.], konnte man das eine wahrscheinlich besser als das andere, vor allem bei einem Live-Auftritt. Aber er widerlegte diese Regel. Kein Scheinwerferspot konnte mit ihm Schritt halten, wenn er über die Bühne fegte - man konnte ihm nur mit Flutlicht beikommen“, schwärmt er noch mit dreißig in seiner Autobiographie. „So gut wollte ich auch werden.“

Brown hatte Joe Jackson Mitte der Sechziger bei den Falcons kennengelernt und in Gary auch seine Kinderband erlebt. Joe hatte ihn gebeten, die Kinder in seine Show einzubauen - um ihnen den letzten Schliff zu geben, aber natürlich auch, um an regelmäßige Einkünfte zu kommen. Brown mußte damals, wie er erzählt, ablehnen, weil er gerade mit seiner Plattenfirma im Zwist lag und um das Ende seiner Karriere bangte, „also hielt ich es für einen ungeeigneten Zeitpunkt, die Gehaltsliste weiter zu verlängern. Ich nahm sie aber in eine meiner Shows in Gary, und sie waren phantastisch, vor allem Michael“. Ein Jahr drauf begegneten sie sich in Chicago im Regal, wo Brown den Jackson 5 erlaubte, während der Pause in seiner Show aufzutreten, ein paar Monate später sogar als reguläre Nummer. Nach dem Auftritt der Jackson 5 stand Michael, wie immer, in den Kulissen und „gaffte“:

„Er ist so magisch! Ich war bei ihm hinter der Bühne, als ich so sechs oder sieben war, ich saß da und sah ihm zu. Er kriegt jedes Publikum dahin, wo er will. Sie wurden ganz verrückt, und er ganz wild. Er kommt wirklich ganz aus sich heraus.“ Michael merkt sich jede Pose, jeden Laut, jede Geste und jeden Sprung, und hinterher probiert er sie selber aus. Auf den ersten Filmaufnahmen, die Motown von den Jackson 5 und dem neunjährigen Michael gemacht hat, ist gut zu sehen: Er kann es schon.

Es sind wohl mehr James Browns athletisch-artistischen Leistungen, die Michael beeindrucken; und natürlich sein fanatischer Perfektionismus, die unerschöpfliche Artbeitswut und die eiserne Disziplin. In ästhetisch-stilistischer Hinsicht ist es aber ein anderer: Jackie Wilson. Der hatte in seiner Jugend ebenfalls geboxt, aber nicht als Schwer-, sondern als Weltergewicht, und das macht den ganzen Unterschied. Wilson zeichnete sich, bei aller Wildheit und Kraft, durch Grazie, Eleganz und Geschmeidigkeit aus. Vor allem sein Gesang unterschied ihn von James Brown. Während jener ohne weiteres einräumt, daß er eigentlich nur brüllt, „aber in der richtigen Tonart“, konnte Wilson (nach Rowohlts Rock-Lexikon) „seine ungemein flexible Stimme vom schmiegsamen Soul-Gewisper bis zum ekstatisch-opernhaften Rock-Crescendo hinaufschrauben“. Michael Jackson mit Dreißig: „Er konnte ein trauriges Lied wie Lonely Teardrops singen und gleichzeitig das Publikum durch seinen Tanz so hinreißen, daß niemand in der Lage war, sich traurig oder einsam zu fühlen.“ Und er schließt: „Vielleicht habe ich von Jackie Wilson mehr gelernt als von irgendeinem andern.“ Der Beweis ist eine - allerdigs erst 1986 veröffentlichte - eigne Einspielung von Lonely Teardrops, wo der kleine Michael zeigt, daß er's so gut kann wie sein Vorbild.

Es war noch eine Feuerprobe zu bestehen, gewissermaßen der Ritterschlag, durch den eine Amateurgruppe endgültig in den Kreis der Professionellen aufstieg: die Amateur-Nacht im Apollo. Im New-Yorker Stadtteil Harlem gelegen, war das Apollo die Krone des Chitlin Circuit. „Das Apollo war etwas besonderes: es war der Prüfstein für schwarze Entertainer“, versichert James Brown, der dort seine größten Triumphe gefeiert hat. „Die größten Künstler im schwarzen Showbusiness waren da aufgetreten, und es war das böseste Publikum der Welt.“ Jeden Mittwoch fand ein Amateur-Wettbewerb statt, und wer den gewann, der hatte es geschafft. Der Sänger Luther Vandross, der selbst im Apollo dreimal durchgefallen war, bestätigt: „Die Menge im Apollo ist die unbarmherzigste der Welt. Man reißt sich das Gedärm aus dem Leib, aber wenn du die für dich gewinnen kannst, dann weißt du, daß du das Zeug zu diesem Geschäft hast.“ Die Jackson 5 traten erstmals in einer schwülen Sommernacht im August 1967 im Apollo auf. Sie waren direkt zur Endausscheidung eingeladen worden, ohne die Vorrunden durchmachen zu müssen. Natürlich gewannen sie an diesem Abend und erhielten - eine Rarität im Apollo - sogar Standing Ovations. „Meine Brüder und ich hatten sozusagen das Abitur mit Auszeichnung bestanden, und nun hofften wir auf einen Doktorgrad.“ Der Doktorgrad, das war der Vertrag mit einer Plattenfirma; freilich nicht mit irgendeiner...

Aber noch ist es nicht so weit. Langsam wird die Zeit knapp. Mr. und Mrs. Jackson träumen schon lange davon, das öde Gary im kalten Norden zu verlassen und sich im sonnigen Kalifornien niederzulassen, wo Joe ein paar Jugendjahre verbracht hatte. Ihre Fahrkarte war Michael: Solange er klein und süß war, solange sich die Jackson 5 als Kinderband präsentieren konnten, war ein Überraschungserfolg möglich; danach wohl nur noch eine mühselige Durchschnittskarriere. Aber Motown läßt nichts von sich hören. Joe hatte natürlich längst ein Demo-Band eingeschickt, aber es war nach Wochen kommentarlos zurückgekommen. Da mußte er nehmen, was er kriegen konnte. In Gary hatte Gordon Keith, ein songschreibender Stahlarbeiter, der wie so viele seiner Kollegen eine Schwäche für Rhythm and Blues hatte, ein kleines Aufnahmestudio eingerichtet und ein Plattenlabel gegründet, dessen Name Steeltown eine Anspielung auf das Vorbild war, dem der ehrgeizige Mr. Keith nacheiferte. Er gab Joe ein Tonband mit ein paar Songs, die er selbst geschrieben hatte. Es machte den Jungen wenig Spaß, ganz unbekannte Stücke zu proben, wo sie doch gewohnt waren, mit den Erfolgshits des Tages zu glänzen. Aber natürlich war die erste eigene Platte ein großes Ereignis und eine - vielleicht einmalige - Chance. Big Boy, die erste Schallplatte der Jackson 5 kam im Frühjahr 1968 heraus. Heute ist eine ganze Reihe remasterter CD-Ausgaben auf dem Markt, deren beklagenswerte Klangqualität eine Ahnung von Mr. Keith's Aufnahmestudio gibt. Die Stimmen von Michael und Jermaine gehen vor dem stampfenden Baß beinahe unter, aber man erkennt immerhin an der rauhen „schwarzen“ Stimme des Neunjährigen, daß man ihn damals noch nicht auf das Kopfregister festgelegt hatte, mit dem er später Furore macht; das geschah erst bei Motown. Die Platte geht über die lokalen Radiostationen und wird sogar ein kleiner Hit im Großraum Chicago. Erstmals finden die Kinder, die bisher von den Mitschülern gehänselt wurden, weil sie sich, statt zu spielen, in einen lächerlichen Karrieretraum verloren hatten, auch den Respekt der Gleichaltrigen.

Jetzt konnte der Durchbruch eigentlich nicht mehr lange auf sich warten lassen. Mr. und Mrs. Jackson ordneten an, daß die Telefongespräche zuhaus nicht länger als fünf Minuten dauern durften, für den Fall, daß Motown anrufen würde - oder wenigstens ein namhafter Promoter. Immerhin hatten James Browns Leute den Jackson 5 zum Juni `68 ein Engagement im Apollo verschafft, doch seine Erinnerungen zeigen, an was für einem dünnen Faden ihre Karriere noch hing. Joe hatte Geld fürs Hotel und für die Betreuung der Jungen nach New York geschickt, „denn sie waren ja noch Kinder“. Aber Browns Leibwächter, der sich um alles kümmern sollte, hatte das Geld durchgebracht, und als die Kinder eintrafen, war nichts mehr da – „nichtmal eine Unterkunft und kein Geld für die Verpflegung“. Browns Keyboarder und langjähriger Freund Bobby Byrd nahm sie mit zu sich nachhaus, wo sie von seiner Frau, der Sängerin Vicky Anderson umsorgt wurden. Am nächsten Morgen bauten sie sich um Bobbys Klavier auf und sangen ihren Gastgebern ein improvisiertes Danklied, thank you for this and thank you for that, und es endete mit einem mehrstimmigen And we all thank you. Brown kann sich noch Jahrzehnte danach die Rührung nicht verkneifen: 

„So waren die Jackson-Kids. Da hatte man ihr ganzes Geld verbraten, und sie stellten sich hin und dankten noch für das, was man ihnen schließlich gab. Sie hatten ausgezeichnete Manieren - es hieß immer Yessir und No, Ma'am und so weiter. Man sah, sie hatten eine gute Erziehung gehabt und waren an eine strenge Disziplin gewöhnt.“ Na, James Brown, der gar keine Familie gehabt und dennoch reichlich Prügel bezogen hatte, mag vielleicht für einige Dinge doch nicht den rechten Blick haben. Aber die Anekdote zeigt, wie wenig damals nötig gewesen wäre, die größte Karriere des Show Business scheitern zu lassen, bevor sie noch begonnen hatte. Es war zwar nichts Zufall. Aber es war auch nichts zwangsläufig.

Aller guten Dinge sind drei. James Brown, Jackie Wilson - das waren Michaels große Vorbilder. Doch „im Sommer des Jahres 1968 lernten wir die Musik einer Familienband kennen, die unseren Sound und unser Leben verändern sollte“ : Sly and the Family Stone. Sie sind nicht wirklich eine Familie, wenn auch wohl zwei oder drei verwandt sind. Sie sind nichteinmal alle schwarz, aber sie machen, wenn man so sagen darf, eine Musik von einer ganz eigenen Schwärze. „Sly Stone, James Brown, das sind die Leute, die mit der Funk-Musik angefangen haben.“ Man kann sich kaum einen größeren Kontrast zu dem Arbeitstier James Brown vorstellen: Sylvester Stewart, wie er bürgerlich heißt, war ein genialischer Tausendsassa, der in der Hippie-Kultur von San Francisco angefangen und als erster psychedelische Klänge in die Soul-Musik getragen hat. Es klang alles wild und frei improvisiert, als hätten sie vorher nicht abgesprochen, was sie spielen wollten. Aber irgendwie paßte es dann doch zusammen. Sie waren die Musiksensation des Jahres `68 und machten im Jahr darauf beim Woodstock-Festival großen Eindruck. Freilich stieg ihnen das zu Kopf, und sie glaubten nicht, daß Showbiz außer Genie auch viel Arbeit ist. Michael hat in sehr jungen Jahren mitbekommen, wie sich manches große Talent durch leichtfertigen Gebrauch von Rauschgift und Alkohol zugrunde gerichtet hat. Der fast hysterische Drogen-Haß des großen Jacko hat zu tun mit dem traurigen Schicksal von Leuten wie Sylvester Stewart: Heute, da James Brown sein soundsovieltes Comeback hat, ist The Family Stone nur noch Erinnerung.

Damals freilich sind die Jackson-Jungens von ihnen hingerissen wie alle andern. Wegweisend wurde Sly vor allem durch seine Beziehung zur (weißen) Rock-Szene. Er hatte nie, wie die andern Schwarzen, auf dem Chitlin Circuit gespielt. Sein Publikum war von vornherein „vielfarbig“ (während Jimi Hendrix, bei vergleichbarer Herkunft, eigentlich immer ein „weißer“ Star geblieben ist). Hier stoßen wir auf ein Schlüsselwort, das uns in der Karriere von Michael Jackson immer wieder begegnen wird: crossover - der Einbruch des „schwarzen“ Geschmacks in das weiße Publikum. Während James Brown stets die Philosophie vertrat: Warum sollten die Weißen meine Musik anhören, wenn ich das machte, was die weißen Musiker auch können? Sie hören mich an, wenn ich das mache, was nur ich kann... - genierte sich Sly keinen Moment, jenseits der Rassenlinie einen Sound zu suchen, der allen gefallen konnte. ‚Crossover‘ kann beides sein. Freilich keines allein: Der bleibende Erfolg der „tiefschwarzen“ Klänge bei den weißen Hörern beruht auf der ständigen Vermittlungstätigkeit der „Farbenblinden“; aber diese hätten nichts zu vermitteln, wenn nicht jene immer wieder ihre kräftigen Akzente setzten. 

Crossover war das Zauberwort jener Plattenfirma, auf deren Anruf Joe Jackson immer ungeduldiger wartete - wie man sieht, nicht nur aus kommerziellen, sondern auch aus stilistischen Gründen. Es war das Label, wo die Musik der Jackson 5 „hingehrte“. Aber wann würde Motown das auch einsehen?

Stattdessen kam, unerwartet, ein ganz anderer An-ruf, der die Chance zum großen Durchbruch sein konnte! Unter den Besuchern jenes sommerlichen Auftritts im Apollo hatte ein Talentspäher für die populäre New-Yorker TV-Show von David Frost gesessen, und der sorgte dafür, daß sich der Produzent in Gary meldete. „Wir würden im Fernsehen auftreten! Das war die größte Sensation unseres Lebens. Ich erzählte es allen in der Schule, und wer mir nicht glaubte, dem erzählte ich es zweimal.“ In den folgenden Tagen war eine fieberhafte Vorbereitung für den Fernsehauftritt angesagt. Immer wieder Kostümproben, und dann die schwierige Frage: Was sollten sie auswählen aus dem inzwischen reichen Repertoire?

Da macht der Vater die schreckliche Mitteilung: Die Fahrt nach New York ist abgesagt. Michael schildert den Augenblick melodramatisch: „Ich war den Tränen nahe. Wir waren so kurz vor dem Durchbruch gewesen. Wie konnte man uns das antun? Ich zitterte am ganzen Leib.“ Doch nein, nicht das Fernsehen hatte abgesagt, sondern - Joe selbst. „Erneut starrten wir ihn an, unfähig, etwas zu sagen. – ‚Motown hat angerufen.‘ 

- Ein Schauder lief mir über den Rücken.“


2. Black & white.


oder 
Wie der Rhythm&Blues zur Musiksprache der Welt wurde

Michael sagt immer, die Musik, die er macht, ist für jedermann.
Aber die Musikindustrie würde es trotzdem Rhythm and Blues nennen
 - weil er ein Schwarzer ist.
Katherine Jackson

Musik hat keine Hautfarbe.
 Michael Jackson

Der kleine Randy, der noch nicht mitdurfte, stand in seinem Klassenzimmer und fuhr mit dem Finger über den Globus. Wo lag das sagenhafte Motown? Er fand es nicht. Motown, Motor town - das ist Detroit, die Stadt, aus der jedes zweite amerikanische Auto kam. Nirgends sonst gab es ein so großes schwarzes Industrieproletariat, während andererseits die - knappe - weiße Bevölkerungsmehrheit weitgehend aus Neueinwanderern bestand, aus aller Herren Länder bunt zusammengemischt. Das waren günstige Bedingungen für die Entfaltung einer selbständigen schwarzen Kulturszene, und so wurde Detroit in den fünfziger Jahren zu einer Hauptstadt des Rhythm&Blues. 

Es war die städtische, nördliche Hauptstadt. Die südliche, ländliche war Memphis am Mississippi, Elvis Presleys zweite Heimat. Beide Musikzentren konkurrierten miteinander, und die unterschiedlichen Lebensumstände hatten an beiden Stellen einen jeweils eigenen Klang hervorgebracht. Für Memphis stand die Plattenfirma Stax. Sie war Motowns großer Gegenspieler. Jedenfalls, was den Ruhm anlangt. Denn geschäftlich beherrschte Detroit das Feld. Motown war eine schwarze Legende geworden, und dort zog es Joe Jackson hin. Motown war die Garantie für eine ganz große Karriere.

So saßen Joe und die Jungens also wieder in ihrem VW-Bus und quälten sich über endlose Landstraßen von den Stränden des Michigan-Sees zum Ufer des Detroit-River. Die Ochsentour durch den Chitlin Circuit sei ihm wie eine Runde Monopoly vorgekommen, erinnert sich Michael später. Der Sieg im Apollo, das war die Parkstraße. „Jetzt waren wir auf dem Weg zur Schloßallee - zu Motown.“

Wie hatte es schließlich doch noch geklappt? Später waren mehrere Versionen darüber im Umlauf, wer die Jackson 5 für Motown entdeckt habe. Die offizielle, von der Firma selbst verbreitete Variante war, daß Diana Ross, Motowns Superstar jener Tage, die Jungens bei einem Auftritt im Wahlkampf für Garys schwarzen Bürgermeister Richard Hatcher erlebt und ihre Neuentdeckung sogleich an ihren Boß Berry Gordy gemeldet habe. - Die Ansprüche von Gladys Knight haben wir schon erwähnt. Nach einer dritten Lesart hat Joe Jackson während eines Auftritts im Chicagoer Regal Bobby Taylor angesprochen, den Kopf der Vancouvers, und der habe ihm zugesagt, bei Motown ein Wort einzulegen. Diese Version hat den Vorzug, von den Jacksons bestätigt zu werden. Bobby Taylor hat Wort gehalten. Am 23. Juli 1968 trafen die Jackson 5 in Motowns legendärem Aufnahmestudio Hitsville, USA ein - 2648, West Grand Boulevard. Es ist heute ein Museum, aber damals kam es den Jackson-Brüdern etwas heruntergekommen vor. Sie waren enttäuscht. Der Empfang war geschäftsmäßig. Es wimmelten viele Leute durch die Gänge, Joe Jacksons Kinderband war nur eine von vielen Gruppen, die zum Vorspielen gekommen waren. Aber immerhin, man kannte ihren Namen, sie wurden erwartet, und im Studio waren die Instrumente und Mikrophone schon für sie aufgebaut, und sogar eine Filmkamera. Der große Boß selber war nämlich - nicht da. Ihr Auftritt wurde aufgezeichnet, und so kommt es, daß man heute bei jeder besseren Michael-Jackson-Retrospektive in schwarz-weiß bewundern kann, wie gut der noch nicht ganz Zehnjährige seine... James-Brown-Schritte geübt hatte. 
Als ihr Programm vorüber war, gabs keinen Beifall, keinen Kommentar, nur ein höfliches „Danke, daß ihr gekommen seid“. Das wars auch schon. Die Jungen waren perplex. Wie waren sie gewesen? Gut? Aufgeregt - und unprofessionell? Bislang hatten sie noch stets vor einem hingerissenen Publikum gespielt, das über den Professionalismus dieser Kinder nur staunen konnte. Doch bei Motown verblüfften sie niemand. Professionalität wurde dort vorausgesetzt - sonst hätte man sie ja gar nicht eingeladen. Und jetzt schickte man sie wortlos fort! ‚Man werde von sich hören lassen‘... Aufgelöst zwischen Hoffnung und Zweifel machten sie sich auf den Heimweg.
Was sie nicht wußten: Nur ein paar Stunden nach ihrem Auftritt hatte Berry Gordy sich die Filmaufnahmen angesehen und seinen Produktionsleiter Ralph Seltzer angewiesen, die Verträge für die Kinderband auszuarbeiten.

Denn die wichtigen Dinge bei Motown bestimmte der Boß allein. Berry Gordy stammt aus dem schwarzen Mittelstand. Sein Vater, der in den dreißiger Jahren aus Georgia nach Detroit gezogen war, betrieb mehrere Geschäfte. Auch der 1929 als Jüngster von acht Kindern geborene Berry hatte von Jugend auf einen Sinn fürs Geschäft; aber nicht gerade für die langweiligen Gemischtwarenläden seines Vaters. Er wollte höher hinaus. Er interessierte sich früh für Musik und hatte mit einem selbstgeschriebenen Song immerhin einen lokalen Talentwettbewerb gewonnen. Und natürlich versuchte er sich auch im Boxen. Aber seine 1,60 m Länge reichten wohl doch nicht zum Champion. Als er neunzehn war, trat er sogar zum Golden-Glove-Contest der Amateure an, mußte aber mit zugeschwollenem Auge zusehen, wie ein erst sechzehnjähriger Freund die Trophäe gewann. Der Freund hieß Jackie Wilson.

1953 hat Berry Gordy mit ein paar hundert Dollar, die er vom Vater geliehen hatte, sein erstes Geschäft eröffnet, einen Schallplattenladen. Aber den Kunden muß sein Angebot nicht gefallen haben. Er hatte sich für Charlie Parker und Thelonius Monk begeistert, doch der Bebop galt bei der Masse des schwarzen Publikums als versnobt. Nach zwei Jahren war Berry pleite und fing bei Ford am Fließband an. Aber er schrieb weiter Songs, und 1957 hatte sein Freund Jackie Wilson mit Reet Petite seinen ersten großen Erfolg; auch Lonely Teardrops stammt von Gordy. Im selben Jahr machte er die Bekanntschaft von William „Smokie“ Robinson und dessen Band, wurde ihr Manager und machte sie als The Miracles in und um Detroit bekannt. Er produzierte auch gleich eine Platte mit ihnen, die von einer New Yorker Firma vertrieben wurde und ganz gut ankam. Der frischgebackene Producer und seine Musiker bekamen dafür einen Scheck über - sage und schreibe $ 3,19.

Das sollte ihm eine Lehre sein!

Kaum daß man sich mit der Geschichte der schwarzen Musik beschaftigt, stößt man gleich auf das Stichwort control. Der Erfolg der schwarzen Musik über die Rassenschranken hinaus, auch beim weißen Publikum - das war eine Sache. Aber der Erfolg der schwarzen Musiker? Das war was anderes. Sie hatten in aller Regel nichts von ihrem Ruhm, oder doch nur soviel, wie die Firmen abgeben mochten. Und die Firmen waren stets in weißen Händen. Sie zahlten den schwarzen Musikern nur einen Bruchteil dessen, was weiße Interpreten bekamen. Es nutzte nichts, zur Konkurrenz zu gehen. Die machten es ebenso. Ja, auch die „schwarzen“ Rundfunkstationen gehörten Weißen. Die bezahlten ihre schwarzen Disc-Jockeys (ohne die es keine Einschaltquoten gab) so schlecht, daß viele sich schmieren lieen, um diese oder jene Platte über den Äther zu schicken - payola nannte man das. Da mußten die schwarzen Musiker auch noch dafür zahlen, daß die Platten, für die sie nichts bekamen, wenigstens gespielt wurden! Das ganze Show Business, der Mainstream, wo man wirklich Geld verdienen konnte, d. h. alles, was über den Chitlin Circuit hinausging, befand sich fest in weißer Hand. Ein Schwarzer, der beim breiten Publikum Erfolg hatte - und solche gab es ja, wie Louis Armstrong oder Nat „King“ Cole -, wurde zum Leibeigenen seines (weißen) Managements, fast wie zu Zeiten der Sklaverei. Sie mußten sich ihnen schließlich auch künstlerisch unterwerfen. Und wer sich einmal mit dem Mainstream der Pop-Musik eingelassen hatte, kam nicht wieder davon los. Also wurde es Zeit, daß die schwarzen Künstler die control über ihre Karrieren in die eignen Hände nahmen!

Auch in diesem Punkt war James Brown der Pionier. Er hat bis heute ein unbezähmbares Temperament, das sich nirgends ein-, geschweige denn unterordnen kann. Auch bot seine wilde und, nun ja, etwas grobe Musik - die sich, seiner eigenen Herkunft treu, am Geschmack des ärmsten Teils der schwarzen Landbevölkerung im Süden orientierte - kaum Aussicht auf Erfolg beim Mainstream-Publikum. So war keine der großen amerikanischen Firmen je scharf darauf, ihn in ihre Botmäßigkeit zu locken. Da mußte er eben „alles alleine machen“. Bei einem schier unglaublichen Arbeitspensum - über 300 Konzerte im Jahr, praktisch jeden Tag eines! - hatte er sich sozusagen mit Gewalt ins große Geschäft gezwungen. Er war alles zugleich - Sänger, Tänzer, Manager, Songschreiber, Arrangeur, Produzent, Impresario, Konzernchef... Damit hat er im Laufe der Jahre Millionen verdient, kaufte Rundfunk- und Fernsehstationen, einen Musikverlag, besaß eine Künstleragentur und eine Restaurantkette - und hat zwischendurch auch immer wieder mal alles verloren. Und dabei blieb er stets sein eigner Herr. Der amerikanische Traum wie im Bilderbuch - aber ganz in schwarz.

Doch auch James Brown hatte gelegentlich Anlaß, sich über selbstherrliche Eingriffe der (europäischen) Plattenfirma Polydor in seine Arrangements zu beklagen: Die „verstanden eben nichts von schwarzer Musik“! Berry Gordy, mehr Geschäftsmann als Kampfmaschine, wählte von vornherein einen andern Weg. Im Januar 1959 lieh er sich nochmal $ 800 von seinem Vater und gründete seinen eigenen Plattenverlag. Firmensitz wurde jenes Einfamilienhaus, das die Jackson-Jungens so enttäuscht hatte. Motown Records Corporation war das Firmendach, Tamla hieß das erste Plattenlabel, zu dem im Lauf der Jahre noch andere hinzukamen.  Motowns erster Star wurde Smokey Robinson mit seinen Miracles.

Berry Gordys Unternehmensphilosophie war klar. Das Marktsegment der schwarzen Plattenkäufer war zu schmal, um auf Dauer seine geschäftliche Unabhängigkeit zu sichern. Schon früher hatte es Plattenlabels in schwarzer Hand gegeben. Aber sobald ihre Musik Erfolg hatte, wurden sie von einer größeren und natürlich weißen Gesellschaft geschluckt. Man mußte auf eigene Rechnung in den Markt des Mainstream eindringen, wollte man seine Unabhängigkeit wahren. Schwarze Musik so produzieren, daß sie für die Masse der Weißen anhörbar wird - das war Motowns Geschäftspolitik. Es wurde auch ein Kunstprogramm. Ja, es wurde sogar zu einer kulturpolitischen Losung; zu einem Moment im Emanzipationskampf der nordamerikanischen Neger (so hieß das damals).

Über das Verhältnis von schwarzer und weißer Musik wird viel herumgeheimnißt. Über U-Musik wird noch seltener ohne Eigeninteresse geschrieben als über eine andere Kunstsparte - es ist ja auch mehr Geld im Spiel. Mystifikationen aller Art bieten Stoff für literarische Kontroversen und fördern den Umsatz. Und über allem, wo sich die sogenannte Rassenfrage einmischt, liegt eine Dunstglocke.

Es gibt eine handgreifliche und unzweideutige Unterscheidung von weißer und schwarzer Musik. Das sind die Billboard charts. Die Zeitschrift Billboard wendet sich an den kommerziellen Teil der Unterhaltungsindustrie. Sie handelt vom Geschäft. Händler und Werbeleute müssen wissen, was sich wie und wo verkauft, und also stellt Billboard seit den vierziger Jahren wöchentlich eine Bestseller-Liste zusammen. Die Plazierung ergibt sich aus einem im Lauf der Jahre immer weiter verfeinerten System, wo die Verkaufszahlen mit den Sendezeiten im Radio verrechnet werden; wobei natürlich auch Reichweiten und Einschaltquoten zu berücksichtigen sind. Nun bevorzugen das weiße und das schwarze Publikum der Vereinigten Staaten jeweils andere Programme - damals wie heute. So lag es im Interesse der Geschäftswelt, schwarze und weiße Sender gesondert zu erfassen, und es entstanden neben den allgemeinen, d. h. „weißen“ Pop charts die sogenannten Black charts. Was „schwarze“ und was „weiße“ Musik ist, kann man daran ablesen, daß ein Stück auf der einen Liste ganz oben, auf der andern ganz unten steht. Dabei mag die Hautfarbe der Interpreten für das Publikum eine Rolle spielen, aber nicht für die Plazierungen in den Billboard Charts. Seit Jahren ist es üblich, daß sechs bis sieben der Top Ten-Pop-Titel von Schwarzen stammen, und bei den Top Ten der Black Charts finden sich auch weiße Interpreten (letzthin allerdings seltener). Immer wieder mal konnte ein Stück auch von der einen auf die andre Liste überspringen und war in beiden ganz oben. Dann sprach man von crossover. Dieses heute in vielfältiger Bedeutung gebrauchte Schlagwort hatte ursprünglich nur diesen Sinn.

Praktisch war aber immer nur die eine Richtung gemeint: von schwarz nach weiß; selten umgekehrt. Gibt es womöglich doch einen hörbaren Unterschied in der Musik?! Mit Sicherheit gibt es einen im Geschmack der jeweiligen Hörerschaft. Schwarze und weiße Hörer erwarten offenbar je etwas anderes, wenn sie eine Schallplatte auflegen, das Radio anschalten oder ins Konzert gehen.

Unter Anthropologen und Kulturhistorikern wird gerätselt, ob die Musik ursprünglich aus dem Tanz oder aus der Nachahmung des Vogelgesangs entstanden sei. Vergleicht man europäische und afrikanische Musik, möchte man meinen: in Europa aus dem Vogelgesang, in Afrika aus dem Tanz. Auch die entwickelten, die ‚Kunstformen’ afrikanischer Musik verleugnen nie ihre kultisch-rituellen Wurzeln im Gemeinschaftstanz; denn immer ist es der Rhythmus, der herrscht. Mit der Kunstmusik Europas ist das nicht so einfach. Seit sich im 18. Jahrhundert die italienische Sonatenform, die aus dem Kirchengesang stammt, gegen die französische Suitenform durchgesetzt hatte, die vom höfischen Gesellschaftstanz herkam, wurde in Europa die Melodie zum beherrschenden Moment der Musik. Mit der Wiener Klassik verdrängt die deutsche Musik die italienische aus ihrer Vormachtstellung (abgesehen von der Oper). 

Mit dem Zeitalter der Romantik wird schließlich das Lied zum Inbegriff und Grundmuster der europäischen Musik. Das hat weitreichende Folgen für deren Grundcharakter; und schließlich auch für den Grad ihrer Hörbarkeit, d. h. Popularität. 
Das Nebeneinander oder Übereinander von menschlicher Stimme und instrumenteller Begleitung wirft harmonische Probleme auf und fordert zu thematisch-motivischer Arbeit heraus. Fragen der Konstruktion ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Es ist aber, mit Theodor W. Adorno zu reden, das „Ausdruckslose der Konstruktion“, das den Boden bereitet für die Trennung zwischen Kunst und Publikum in der Bildungsmusik des 20. Jahrhunderts - und auch für die Verselbständigung der Musikkritik als Erwerbszweig. Der Ausdruckscharakter der Kunst tritt jetzt ganz auf die Seite des Interpreten. Ausdruck ist ein zwischenmenschliches Ereignis, hier und jetzt. Will man es als geronnene Form konservieren, wird es leicht zur Karikatur (das künstlerische Grundproblem des Filmschauspielers). Und wenn sich gar ein Komponist daranmacht, Ausdruck thematisch zu „konstruieren“, kommt doch immer nur pompöser Kitsch zustande. Man mag sagen, gerade die Spannung zwischen der konstruktiven Idee des „schreibenden“® und dem Ausdruck des „darbietenden“ Künstlers habe die europäische Kunstmusik lebendig gehalten. Andererseits läßt sich über geschriebene Musik aber auch mehr - schreiben. Formanalyse wird zum Hätschelkind der Musikologie, und die kann man zur Not auch mit Fleiß betreiben; ohne ästhetische Intuition. Kritik seither auch. Es beginnt eine Art ‚Vertextung’ der europäischen Musik. (Lieben Sie Bach?) Es kann daher kaum überraschen, daß der kritischen Zunft die „weiße“ Musik als Musik schlechthin vorkommt: Sie sind vom selben Stamm. Und schließlich konnte eine Musik aufkommen, die für Kritiker gedacht ist, nicht für Hörer...

Warum dieser Ausflug in die europäische Kunst-Musik, wo es um schwarze U-Musik geht? Das, was der „schwarzen“ Musik in den Billboard-Charts als Mainstream-Pop gegenübersteht, nein - gegenüberstand, ist nämlich nicht aus einer einheimischen, traditionellen amerikanischen Volksmusik hervorgegangen, sondern aus Hollywood. Der große Aufschwung der durch Radio und Schallplatte verbreiteten Tanz- und Unterhaltungsmusik seit den zwanziger Jahren verdankt sich - auf beiden Seiten des Atlantiks - dem Siegeszug des Kinos. Dessen Musik stammt nicht aus der Volkstradition, sondern aus der Trivialisierung der europäischen Kunstmusik, wie sie auf dem New Yorker Broadway geschah. Noch heute haben „ernste“ amerikanische Komponisten ihren Brotberuf in Hollywood, um nebenher, als künstlerisches Steckenpferd, „richtige Musik“ schreiben zu können - für die sie kein Publikum fänden. Natürlich fanden in die Filmkompositionen alsbald, je nach Genre, reichlich Jazz- und Country-Elemente Eingang, aber doch nur als Kolorit in einem sonst weißen Klangtableau. Das war es, wogegen die „schwarze“ Musik Amerikas konkurrieren mußte.

Ist nun wenigstens diese schwarze Musik Volksmusik?
Womöglich afrikanische Volksmusik?!

Über die afrikanischen Wurzeln der schwarzamerikanischen Musik sind die Meinungen geteilt. Gerade unter Leuten, die etwas davon verstehen müßten. Michael Jackson erinnert sich an seinen ersten Besuch in Afrika, als er vierzehn war: „All right! I've got the rhythm! Das ist's! Da komme ich her. Der Ursprung. Da gibt es eine Verbindung, weil da die Wurzeln von allem Rhythmus liegen. Da ist mein Zuhaus.“ Man merke es schon daran, wie sich die Kinder bewegen; selbst die Babies wiegen sich im Takt der Trommel...

Ganz anders James Brown, der Godfather Of Soul: „Mit der afrikanischen Musik und mir ist es komisch. Ich wußte nicht einmal, daß es sie gab. Als mir Afrika bewußt wurde und ich beschlossen hatte zu sehen, wo meine Wurzeln sind, dachte ich, ich würde erfahren, woher ich das alles hatte. Aber als ich nach Afrika kam, erkannte ich nichts, was ich von dort hätte haben können.“

Natürlich spielte der Kult um die afrikanischen Wurzeln seine Rolle beim Erwachen eines schwarzen Selbstgefühls im Amerika der sechziger Jahre. Es ist aber viel Mythisches dabei. Die Einzigartigkeit der Situation der Schwarzen in den USA kommt doch daher, daß ihren Vorfahren, als sie in Amerika an Land gingen, außer ihrer Hautfarbe gar nichts geblieben war, das sie aus Afrika hätten mitbringen können. Sie waren als Volksgruppe in einer so umfassenden Weise enteignet worden, wie man ein einzelnes Individuum gar nicht enteignen kann. Sie hatten nicht nur ihre Heimat und ihren Besitz verloren. Man nahm ihnen auch ihre Namen, ihren sozialen Zusammenhang. Sie verloren ihre Sprachen, ihre Riten, ihre Zeichen, ihre Manieren, ihre Mythen. Selbst die elementarste Verwandtschaftsbeziehung, die zwischen Eltern und Kindern, wurde regelmäßig und absichtsvoll zerrissen. Kein Stamm, keine Sippe, keine Vaterschaft - und auch Mutterschaft hing immer an einem seidenen Faden. An deren Stelle traten der Aufseher, ein alttestamentarisch furchterregendes Christentum und ein rudimentärer englischer Wortschatz, der grademal zur Verständigung über das Nächstliegende taugte. Subtilere Dinge konnte man nicht mehr aussprechen; allenfalls singen...

Die afrikanische Musik aber war Tanz, und der ist an die Kultgemeinschaften der Dörfer und Stämme gebunden. Schwer vorstellbar, wie sie in der Sklaverei hätten überdauern sollen - wenn sich nicht einmal die afrikanischen Sprachen hatten halten können! Auf den Baumwollplantagen wurden Menschen aus verschiedenen Landstrichen, aus unterschiedlichen Völkern, aus lokal isolierten Kulturen zu einem künstlichen Kollektiv zusammengepreßt. Aber gerade als Kollektiv waren sie enteignet.

Alle persönlichen Unterschiede der Herkunft, des Verdienstes, der Sitte, des Mutes und der Klugheit waren hier ausgelöscht. Gemeinsam war die Hautfarbe. Darüberhinaus gab es lediglich - die Körperbeschaffenheit des einen und des andern. Über acht bis zehn Generationen war die einzige Chance zur Individuation, die den schwarzen Amerikanern offenstand, der Typus des Uncle Tom - der gegen seinen weißen Massa unterwürfige Neger, der, wo er kann, heimlich eine schützenden Hand über seine fella niggas hält, wie in Harriet Beecher-Stowes Erfolgs-roman „Onkel Toms Hütte“; ein Typus, der in der (auch in Europa populären) TV-Serie Roots allzu überzeugend von Lou Gosset Jr. dargestellt wird. Der Typus des selbstbewußten Rebellen hingegen, der dort in der Rolle des Kunta Kinté verkörpert ist, lebte in der Wirklichkeit nicht lange - und schon gar nicht bekam er die Chance, sich fortzupflanzen; weder physisch noch moralisch.

‚Über kein Thema wird in Amerika mehr gelogen als über das Rassenproblem’ - Roots ist ein Beispiel dafür. Nicht aus bösem Willen, sondern wegen der praktischen Erfordernisse Hollywoods: Als eine farbenkräftige, schreckliche, hochdramatische Geschichte wird im Zeitraffertempo in Szene gesetzt, was in Wahrheit ein ödes Jammertal war ohne Trost, ohne Ende, ohne Ausweg. Der Drang zur Selbstbehauptung ist zwar unausrottbar, aber unter den Negersklaven mußte er sich verkleiden - in der Maske des Clowns. Der lebte (wie sein ferner Verwandter, der Narr an den Fürstenhöfen Europas, der Prolet unter den Intellektuellen) grad gefährlich genug, und oft mußte er sich in die Musik flüchten, um seine Spuren zu verwischen. Die kindisch-alberne, singende und tanzende Clownerie ist der Tarnanzug, unter dem die schwarze Aufsässigkeit gegen das Herrenmenschentum überleben konnte. Das Clowneske ist nicht der geringste Beitrag, den die schwarzamerikanische Musik zum Entstehen der Unterhaltungsindustrie geleistet hat. Und, wenn ich vorgreifen darf, zur Weltkultur des 20. Jahrhunderts: Der Engländer Charles Chaplin wurde in Amerika zum (ersten) Weltstar. Ganz als wäre es selbstverständlich, betrachtet sich der schwarze Amerikaner Michael Jackson heut als sein Erbe.

Nein, es ist kaum vorstellbar und ist auch nie im Detail dargelegt worden, daß die schwarzen Sklaven originäre musikalische „Elemente“ aus Westafrika nach Amerika mitgebracht hätten. Es fällt im Gegenteil auf, daß die Melodik der schwarzamerikanischen Musik, von den frühesten Dokumenten des Jazz bis heute, aus dem Fundus europäischer Marsch- und Volksmusik schöpft. Wer Melodie sagt, sagt immer auch Harmonik. Stets werden als die harmonische Besonderheit schwarz-amerikanischer Musik die blue notes des Jazz genannt, d. h. der regelmäßige Gebrauch der verminderten Terz (statt z.B. von C zu E - von C zu Es) und der verminderten Septime (statt von C zu A - von C zu As) auch in den Dur-Tonarten, so daß der Unterschied zwischen Dur und Moll verschwimmt. Die Blue notes werden üblicherweise daraus erklärt, daß in Westafrika pentatonische Tonsysteme üblich gewesen seien, und nicht, wie im europäischen Oktavsystem üblich, auch die drei Halbtonschritte. Bei dem Bemühen der Negersklaven, die in Amerika vorgefundenen europäischen Melodien nachzusingen, seien harmonische Unsicherheiten aufgetreten; die Blue notes seien das Resultat eines Konflikts zwischen afrikanischer und europäischer Kultur. Nun, die Erfahrung macht gegen allzu plausibel klingende Erklärungen mißtrauisch; sie stimmen selten. Doch wie dem auch sei - die Blue notes wären in diesem Fall keine afrikanische Eigenart, die nach Amerika importiert wurde, sondern der unbeholfene Versuch eines Volks, dem buchstäblich alles genommen worden war, sich wenigstens die Brosamen anzueignen, die die weiße Herrschaft von ihren Tischen fallen ließ. (Die flattet fifth, verminderte Quinte, ist übrigens ein Manierismus, der erst in der Bebop-Ära in den Jazz eingeführt wurde.)

Ebenso einleuchtend (und mit der obigen Deutung nicht im Widerspruch) wäre die Annahme, daß das „Schweben“ der Musik zwischen den Tongeschlechtern Dur und Moll und die dadurch hervorgerufene elegische Grundstimmung dem Lebensgefühl der Negersklaven entsprach. Der Unterschied zwischen „schwarzer“ (amerikanischer) und „weißer“ Musik läßt sich kaum an einzelnen Bestandteilen dingfest machen, die man benennen und herauslösen könnte. Er liegt wohl mehr in einer unterschiedlichen Einstellung zur Musik, einer unterschiedlichen Erwartung an die Musik. Die aber macht sich nie entweder-oder, sondern immer nur mehr oder weniger geltend. Während der Schwerpunkt der europäisch-weißen Musik auf der Melodie und der guten Form liegt, liegt er bei der schwarz-amerikanischen Musik auf dem Rhythmus und dem Ausdruck.

Freilich sind Melodie und Rhythmus nicht zwei verschiedene Zutaten, von denen man mal mehr, mal weniger nehmen kann, wie es grad gefällt. Wollte man Melodie und Rhythmus je für sich definieren, ohne Bezug aufeinander, geriete man in bodenlose Spitzfindigkeiten. Die Musik ist immer nur eine; aber sie hat verschiedene „Seiten“. Melodie und Rhythmus sind gewissermaßen zwei Pole, zwischen denen die Musik „verläuft“ wie ein elektrischer Strom: Es herrscht Spannung. Besser gesagt, der Rhythmus baut die Spannung auf, die Melodie löst sie wieder. Das ist grob und schematisch, und wenn man es allzu wörtlich nimmt und ins Detail geht, wird es manchmal falsch. Aber ästhetische Sachverhalte lassen sich nicht in Worte fassen, es sei denn, man nimmt sie bildlich...

Der Rhythmus ist nur in der Zeit. Er muß gespielt werden. Ist die Musik aus, ist er weg. Er ist eine Abfolge von verdichteter und verdünnter Zeit. Mit der Melodie ist das anders. Sie ist zwar auch ein Nacheinander (von Tönen), aber sie ist zugleich Form, und also ein bißchen „im Raum“. Man erkennt es an der Notation. Die Melodie läßt sich auf dem Papier als sichtbare Linie nachzeichnen - und nachdenken. Menschen, die mit dem absoluten Ohr begabt sind, können sie gleichsam „vom Blatt hören“. Man kann sich noch lange an sie erinnern, nachdem sie verklungen ist - und kann sie später wiedererkennen. Den Rhythmus aber muß die Phantasie des Musikanten jedesmal neu hinzugeben. Er ist immer an den gebunden, der gerade spielt, und läßt sich in der Notation nur andeuten - wenn etwa Jazz-Rhythmen durch sog. Synkopen wiedergegeben werden. Noch unlängst glaubte man sogar, die mittelalterliche europäische Musik sei stets monodisch-psalmodierend vorgetragen worden, weil in der Neumen-Notation nicht einmal der Taktstrich vorkommt. Dabei ist der auch nur ein vager Anhaltspunkt, der dazu taugt, daß - man sich über ihn hinwegsetzt. „Rhythmus ist Verstoß gegen den Takt“, schrieb der entwurzelte Russe Igor Strawinski, und kam damit der „schwarzen“ Musik überraschend nahe. (Allerdings meinte er auch, die Musik drücke „gar nichts“ aus - was sehr konstruktiv gedacht war.)

Als Grundtatsache der schwarz-amerikanischen Rhythmik gilt der swing. Allerdings: In Afrika gibt es keinen Swing. Auch nicht in der frühen New-Orleans- und Ragtime-Musik; deren Rhythmen waren eindeutig und entsprachen dem Takt: die Schwerpunkte lagen, ganz europäisch-konventionell, auf den „starken“ Taktteilen 1 und 3. (Im Dixieland lag sie auf 2 und 4, aber das ist kaum was anderes.) Es bedurfte der kommerziellen Verselbständigung der schwarzen Unterhaltungsmusik, damit sich der Unterschied zwischen expressiver Rhythmik und förmlichem Taktschlagen zum Gegensatz verschärfen konnte. Der Swing entstand daraus, daß sich (im Jazz) die Melodie-Stimme (Klarinette, Saxophon, Trompete...) erlaubt, einen andern Rhythmus zu singen, als der Begleitbaß vorschlug: er 1 und 3, sie 2 und 4, off beat. Freilich, „was Swing ist, läßt sich nicht aufzeichnen. Man kann nicht einmal sagen, was es ist“, schrieb der deutsche Jazz-Historiker Joachim E. Behrendt. Man kann allenfalls erzählen, wo es herkam. Aber seither hat er sich zum beherrschenden Moment nicht nur des schwarzen Rhythm and Blues, sondern auch der „weißen“ Rockmusik entwickelt (sofern sie diesen Namen noch verdient). Der Swing ist die Elementarform jener „Polyrhythmik“, die später zum Kennzeichen des Funk-Soul werden und ihren Meister in Michael Jackson finden soll.

Übrigens: „Rhythm and Blues“ ist kein Stilbegriff, sondern eine Vermarktungskategorie. Bis 1945 hatte Billboard seine Black Charts unter dem Namen The Harlem Hit Parade veröffentlicht, dann änderte das Blatt den Titel, dem Sprachgebrauch der Schwarzen folgend, in Race Music ab - was allerdings bald als diskriminierend empfunden wurde, und so hieß die Rubrik seit 1949: Rhythm and Blues. Das ist alles.

Rhythmisch betont war die schwarze Musik immerhin, und daß vieles vom Blues herkam, stimmt auch. Nun folgt zwar der Blues-Song einem strengen Formschema, aber stilistisch ganz so eindeutig, wie man heute, nach seiner puristischen Verengung auf ein (meist weißes) Liebhaber-Publikum glauben machen will - ganz so eindeutig ist er nicht. Und er war früher auch nicht viel schwärzer als heute. Der Blues hat seinen Namen nicht von den Blue notes. Wie jene, kommt er von feelin' blue, womit jene eigenartig schwermütige Stimmung gemeint ist, wenn einen plötzlich die Frage nach dem Sinn des Daseins erwischt; wenn man um sich sieht und auf einmal nur noch Fremde erblickt; wenn alles festgefahren scheint... Im Blues ist immer irgendwas kaputt. Eine Gemütsverfassung, die bei den Armen öfter vorkommt als bei den Reichen und Schönen. Zwar gab und gibt es im Süden der USA auch eine Menge poor whites. Aber die Schwarzen waren alle arm. Bei den Weißen war einiges, bei den Schwarzen war eigentlich alles kaputt. Every Day I Have The Blues, hieß B.B. Kings erster großer Plattenerfolg. Und so galt die Sorte von Liedern, in denen sich das feelin' blue Ausdruck und Erleichterung verschaffte, eben auch als „typisch“ schwarz. Aber exklusiv schwarz war sie nicht. Ein Gutteil der „weißen“ Country- und Westernmusik könnte man ebensogut als Blues einordnen, sowohl der Form als dem stimmungsmäßigen Gehalt nach. Das Etikett C&W ist so wenig ein Stilbegriff wie R&B, sondern auch nur eine Vermarktungskategorie, eingeführt 1949 von Billboard als Name für das Konsumverhalten des weißen Landproletariats in den Südstaaten. Und natürlich hören nicht nur Weiße C&W: „Meine Mutter wuchs in Alabama auf, und in diesem Teil des Landes war es für Schwarze ebenso normal, mit Country&Western-Musik aus dem Radio großzuwerden, wie mit Kirchenliedern“, schreibt Michael Jackson.

Im Blues herrscht eine gedrückte Stimmung. Der Bluessänger präsentiert sich als Einzelgänger, ein Glück- und Heimatloser. Immer ist er irgendwie Opfer, und meistens klagt er. Nobody loves me, nobody seems to care, sang B.B. King in besagtem Stück, keiner liebt mich, keiner schert sich um mich. Der ursprüngliche country blues wurde in den dreißiger Jahren von der Landstraße in die Cafés der Schwarzenviertel der nördlichen Großstädte hineingetragen und wandelte sich da zum city blues, der auch anders klang, schneller, härter, aggressiver; und tanzbarer. Hier wird der Blues zur „schwarzen“ Kunst. Er ist der fruchtbare Boden, aus dem sich der ewig totgesagte Jazz immer wieder regeneriert. Der Jazz selbst war aber stets eine Kunst von Eliten für Eliten, schwarze und weiße. Und eine kommerzielle Kunst: nur für ein gut zahlendes Publikum. Der städtische Blues war zugleich auch ein sprudelnder Quell für die Unterhaltungsmusik der einfachen Leute. Auch eine kommerzielle Kunst - nur nicht so teuer ! Jede neue, lebenskräftige Form wird durch zu lange Nutzung verschlissen, dann wird sie flach und schal. Aber nicht, weil sie „kommerzialisiert“ wurde - das sagen nur die, die selbst keinen Erfolg hatten. Hier ist überall von Unterhaltungskunst die Rede, und die ist kommerziell, von Anbeginn. Sie ist nicht echt oder unecht, sondern gut oder schlecht. (Bloß für Applaus und gute Worte tun's die Berliner Philharmoniker übrigens auch nicht.)

Der Blues ist nur eine, nämlich die profane und „sündige“ Quelle der schwarzen Unterhaltungsmusik. Die andere ist der Gospel, die geistliche Quelle. Gospel, das ist The Good Spell, die Frohe Botschaft. Das einzige, was in der schwarzen Welt nicht kaputt war. Unnötig zu sagen, daß auch die christlichen Kirchenlieder nicht aus Afrika mitgebracht wurden. In den Nachbarschaften der Südstaaten lebten Schwarze und Weiße, bei aller Segregation, doch näher beieinander, als heute in den nördlichen Metropolen, wo die Innenstädte schwarz, die Vororte weiß sind. Die neuen religiösen Erweckungsbewegungen, die seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts durchs Volk gingen, waren bei der Hautfarbe nicht wählerisch - Hauptsache, es kamen viele. In den Kirchlein und Andachtsräumen des ländlichen Südens wurden, diesseits von schwarz und weiß, so ziemlich dieselben Spirituals gesungen. Allerdings wurden sie, je nach Zusammensetzung der Gemeinden, verschieden intoniert, zumal seit den dreißiger Jahren, als bewußt Jazz-Klänge in die schwarzen Gebetssäle hineingetragen wurden - und so Gospel im engeren Sinn entstand.

Nicht nur die musikalischen Formen des Gospel, sondern auch seine Interpreten fanden Eingang in die Unterhaltungsmusik. Schon der Blues zeigt Elemente des - als typisch afrikanisch geltenden - call-and-response-Schemas: In einem (viertaktigen) ersten Teil wird eine Frage formuliert; in den folgenden vier Takten wird sie wiederholt. Im ebenfalls viertaktigen Schluß gibt der Sänger sich endlich selbst eine Antwort. Dies Schema ist im Gospel vereinfacht und akzentuiert. Der Vorsänger (Prediger) redet die Gemeinde an, die Gemeinde antwortet im Chor - und die klassische Strophenform des europäischen Volkslieds ist „neu erfunden“. (Der Refrain heißt in der amerikanischen Unterhaltungsmusik seither chorus - wie auch der melodiöse Solovortrag im Jazz.) Vom Blues kommen die Themen - das Rassenthema, der Geschlechterkampf, die Not; und das Instrumentarium: Baß, Bläser, Schlagzeug - und vor allem die Gitarre! Aus dem Gospel kommt die spezifische Verbindung von ekstatischer Rhythmik mit einer Melodik, die mehr an der Musik als am Wort orientiert ist. Es ist kein Zufall, daß die größten R&B-Interpreten, von Little Richard über Ray Charles bis James Brown und Stevie Wonder, vom Gospelgesang herkommen - und übrigens auch Elvis Presley. Unterstrichen wird die größere Bedeutung der Melodie durch den Einsatz der Orgel (Harmonium). Das alles bringt einen neuen Gestus in die profane Musik der Schwarzen: Der depressive, jammernde Ton des Blues wird vom hoffnungsfrohen Klang des Evangeliums abgelöst. Das feelin' blue vereinzelt, die gemeinsame Erwartung des Erlösers vereinigt die Menschen. Der Gospel drängt zum Tanz, und die Tanzmusik kann den Gospel besser gebrauchen als den Blues.

Das, was Billboard seit 1949 (demselben Jahr, als die Plattenfirma Chess Records entstand, um den Chicago Blues zu vermarkten) als Rhythm and Blues klassifizierte war einfach diejenige Unterhaltungsmusik, die die Schwarzen hörten, und gewöhnlich stammte sie von schwarzen Musikern... Darin flossen Elemente von Blues und Gospel zusammen. Das melodische Material wurde von überall hergeholt - meistens aber aus dem „weißen“ Pop. Letzteres ist ebenfalls kein Stilbegriff, sondern bezeichnet wahllos alle „populäre“, d. h. Unterhaltungsmusik - im Unterschied zur „ernsten“ Musik. Da aber nur ein gutes Zehntel des amerikanischen Publikums „schwarz“, und die andern (mehr oder weniger) „weiß“ sind, herrscht im Mainstream eben weißer Geschmack vor. Oder besser, herrschte. Denn was wir in diesem Buch (unter anderm) erzählen, ist die Geschichte, wie sich der schwarze Geschmack in der Unterhaltungsmusik durchgesetzt hat - erst in Amerika, dann auf der ganzen Welt.

Es geht, wie gesagt, um die unterschiedliche Verteilung von Melodik und Form hier, und Rhythmik und Ausdruck da. Der große Kritiker und Wegbereiter der zeitgenössischen („ernsten“) Musik Hans Heinz Stuckenschmidt hat schon in den fünfziger Jahren von der „rhythmischen Verkümmerung in der Tonkunst der weißhäutigen Rassen“ gesprochen (und hat sich mehr für Strawinski als für Schönberg interessiert). Jedoch „am Anfang war der Rhythmus“, entdeckte vor über hundert Jahren der Dirigent Hans von Bülow (und lief von Wagner zu Brahms über). Nein, es geht hier natürlich nicht um eine Wertung, gar um die Umkehrung des konventionellen Urteils über ‚hohe’ weiße und ‚ordinäre’ schwarze Musik. Hier interessiert uns vielmehr das Phänomen, daß es die schwarze Musik war, deren Rhythmik und Ausdrucksqualität zur Musiksprache der Völker der Welt geworden ist, während die konstruktive weiße Musik, trotz allen - gelegentlich forcierten - Ausdrucksbemühens sogar den Kontakt zu ihrem angestammten Publikum verloren hat.

Die Expressivität der schwarzamerikanischen Musik hat sicher damit zu tun, daß den afrikanischen Sklaven nach dem Verlust ihrer Muttersprachen als einziges Mittel zur Darstellung seelischer und geistiger, d. h. nicht-handgreiflicher Bedeutungen nur Gesang und Tanz geblieben waren. Ein vorzügliches Mittel, muß man sagen, und sie haben es gut gepflegt. Andererseits war es bis in dieses Jahrhundert hinein normal, daß ein Schwarzer nicht lesen, geschweige denn schreiben konnte. Es wird kaum wundernehmen, wenn die kurze Zeit seither nicht ausgereicht hat, unter den African Americans denselben Sprach- und Wörterkult heranzuzüchten, auf den sich Old Europe so viel zugute hält. Die Musik nimmt in der schwarzen Kultur auch weiterhin mehr Platz ein als unter den Weißen. (Die sprachlastige zeitgenössische Rap-Welle erscheint so in einem andern, sozusagen „weißen“ Licht.)

Die Zukunft der Musik liege in den „Negerliedern“, prophezeite Antonin Dvorak vor hundert Jahren, am Ende seines Amerika-Aufenthalts. Dies böhmische Naturtalent hatte ein feines Ohr fürs Tänzerische. Dabei ging es ihm nicht um den Ausdruck an sich, sondern um den Rhythmus als dasjenige Moment, das in der Musik die Spannung aufbaut: das, was den Hörer ergreift - nicht als Zerstreuung, sondern als eine Unruhe, die ihn (buchstäblich) auf die Beine bringt.

Man darf sich wohl fragen, ob sich der abendländisch-weiße Kult um die Wörter und die logisch verknüpften Sätze nicht um die Jahrtausendwende zu Tode gesiegt hat, und ob nicht die Anschaulichkeit im ‚Begriff’ ist, eine neue Macht über den Geist der Menschen zu gewinnen. Doch so weit sind wir hier noch nicht. Das kommt zum Schluß. An dieser Stelle reden wir vom Anteil der Musik am Aufstieg des nigga zum African American, der in den sechziger Jahren begann. Wir sind wieder bei Berry Gordy und Motown.

Motowns Programm war es, die schwarze Unterhaltungsmusik in Amerika zum herrschenden Geschmack zu machen - den Mainstream „einzuschwärzen“. Wenn es zu diesem Zweck nötig wurde, die schwarze Musik ein klein wenig zu „weißen“, dann war das für Berry Gordy keine Gewissensfrage. Die Musik, die so entstand, wurde von Motown als The Sound Of Young America propagiert - mit durchschlagendem Erfolg. So kamen von den hundert erfolgreichsten Hit-Singles des Jahres 1966 bereits sechsunddreißig aus Berry Gordys Hitfactory ! Viele der bedeutendsten acts des R&B wurden von Motown aufgebaut oder waren mit der Firma verbunden. Nach dem schon genannten Smokey Robinson sollten Stars wie Stevie Wonder, Marvin Gaye, Marv Johnson, Gladys Knight, Mary Wells und Diana Ross, sowie die Gruppen The Temptations, die Top Four, die Isley Brothers, The Supremes kommen...

Was war das Erfolgsrezept der Schlagerfabrik? Ein Mann von der Konkurrenzfirma Stax beschreibt es, halb anerkennend, halb verärgert, so: „Es gab da diese Redensart unter Schwarzen, daß die Weißen es einfach nie lernen würden, zum Takt der schwarzen Musik zu klatschen. Was Motown machte, war ganz gerissen. Sie schlugen den weißen Kids den Beat einfach lautstark um die Ohren. Das hörte sich für uns bei Stax zwar nicht mehr nach Soul an, aber Mann - es verkaufte sich!“ Tatsächlich steckt die Besonderheit des Motown-Sounds im Arrangement. Da war einerseits der reichliche Einsatz von Melodie-Instrumenten, wie es der Mainstream-Hörer aus Hollywoods Filmsinfonien gewöhnt war. Dazu ein unüberhörbarer Baß, der dem weißen Ohr etwas gab, woran es sich halten konnte. Aber bei alldem ging der funk nicht einfach verloren: Die Singstimmen wurden in den orchestralen Gesamtklang eingewoben, traten nur gelegentlich ganz hervor, so daß ein Gewebe vieler Linien entstand, die sich kreuzten, stritten und wohl auch verbanden. Über einem hämmernden Beat „schwebte es“...

Als die Jackson 5 zu Motown kamen, hatte sich die amerikanische Unterhaltungsmusik gegenüber der Zeit der Harlem Hit Parade schon sehr verändert. Es war eine erste schwarze Welle durch den Publikumsgeschmack gerollt, die aber nicht ohne Folgen für die schwarze Musik selbst geblieben war. Was 1949 „Rhythm and Blues“ getauft wurde, war in zwei Teile zerfallen - in weißen Rock'n'Roll und schwarzen Soul. 1954 fiel dem New Yorker Label Atlantic erstmals auf, daß die weißen High-School-Kids im Süden neuerdings lieber nach den (von ihr produzierten) R&B-Platten tanzten, statt - wie früher - nach C&W. Es gab offenbar einen wachsenden weißen Markt für schwarze Musik. Doch nie würde ein schwarzer Künstler zum ganz großen Star des Mainstream-Publikums werden! Wenn es aber gelänge, den R&B äußerlich zu „entschwärzen“, mußte sich damit viel Geld machen lassen... So soll es gekommen sein, daß der (weiße) New Yorker Disc-Jockey Alan Freed seine R&B-Platten den (weißen) Radiohörern unter dem neuen Etikett „Rock'n'Roll“ angepriesen hat. Und so kam es auch, daß ein Sänger mit einer schwarzen Stimme und einem weißen Gesicht beiderseits des Atlantik zum ersten Weltstar der Unterhaltungsmusik aufsteigen konnte. Die Rede ist von Elvis Presley.

Der Rock'n'Roll hat die Welt erobert, aber er hat sich dabei wirklich entschwärzt. Dahinter steckt eine interessante Verflechtung gesellschaftlicher und technologischer Entwicklungen. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, erst recht aber seit Ende des Koreakriegs war eine Unruhe unter der amerikanischen Jugend ausgebrochen, die sich bald auch - nicht zuletzt durch Rock'n'Roll und Bebop - auf Europa übertragen sollte. Sie machte die Jugend als eine besondere Käuferschicht interessant und machte sie zu einem Marktfaktor. Denn gerade hatte der Wechsel von Schellack zu Vinyl der Plattenindustrie erlaubt, anstelle der schweren, zerbrechlichen 78er die leichten, haltbaren 45er-Singles auf den Markt zu bringen, die außerdem noch billiger waren – Taschengeld-verträglich! Heute bedeutet Massenkultur, trotz Vergreisung des Westens, ganz selbstverständlich Jugendkultur. Doch das ist erst seit dem Rock'n'Roll so.

An diesem Punkt beginnt sich der Rock'n'Roll vom Rhythm&Blues zu unterscheiden. R&B war schwarz, aber altersunabhängig. Ihn hörten Greise und Kinder. Rock'n'Roll war rassenneutral, aber generationsspezifisch. „Die Teenagersicht der Dinge, die schon immer der Kern des Rock'n'Roll-Ethos war“ - so der R&B-Historiker Nelson George -, sei in Text und Musik gleichermaßen h”rbar. Freilich konnten sich auf Dauer nur die jungen Weißen leisten, sich zu allererst als Teenager zu fühlen. Die jungen Schwarzen dagegen blieben vor allen Dingen - Nigger. Rock'n'Roll war keine neue musikalische Richtung, sondern ein neuer Lebensstil. Und der war - Chuck Berry und Little Richard zum Trotz - so weiß wie Elvis Presley und Jerry Lee Lewis.

Auch musikalisch verdankt der Rock'n'Roll seinen Siegeszug einer technischen Neuerung. Und zwar der elektrischen Gitarre, die 1953 auf den Markt kam. „Der elektrische Baß veränderte für immer die Beziehung zwischen der Rhythmusgruppe, den Bläsern und den anderen Melodieinstrumenten“, schreibt Nelson George und zitiert Quincy Jones: Der E-Baß „änderte wirklich den Sound der Musik, weil er so viel Raum beanspruchte. Sein Klang war so dominierend im Vergleich zum herkömmlichen Baß, er konnte einfach nicht die gleiche Funktion haben. Vor dem Aufkommen des elektrischen Baß und der elektrischen Gitarre diente die Rhythmusgruppe nur zur Unterstützung der Bläser und des Klaviers. Aber nachdem sie auftraten, mußte sich ‚oben’ alles ein bißchen in den Hintergrund verziehen. Die Rhythmusgruppen wurden zu Stars. Alles wegen der technischen Entwicklung.“ Mit dem R&B war die Tanzmusik schnell geworden. Jetzt wurde sie ohrenbetäubend laut. Der Geschmack der Jugend beginnt, in der Massenkultur den Ton anzugeben.

Während anfang der Sechziger der Rock'n'Roll mehr und mehr zu einer weißen Angelegenheit wurde, scheint zugleich das schwarze Publikum den Gefallen am Blues verloren zu haben. Übrigens auch am typischen Instrument des Blues, der Gitarre. Fast möchte man sagen, die charakteristische Blues-Stimmung habe bei den Rockern Zuflucht gefunden. Sicher ist, daß seine resignierte und wehleidige Grundhaltung gar nicht mehr passen wollte zu dem neuen schwarzen Selbstbewußtsein, das sich in Amerika seit dem blutigen Aufstand von 1965 in Watts, dem Negerghetto von Los Angeles, ausgebreitet hatte. Die Stimmung der Schwarzen wurde selbstbewußt, dynamisch und optimistisch. Sie kam jener andern Quelle des R&B, der Frohen Botschaft des Gospel, wieder näher. (Daß die Weinerlichkeit des Blues seither die weiße Hörerschaft ergriffen hat, steht auf einem andern Blatt.) Bereits 1954 hatte Ray Charles den Blues-Text I got A Woman zur Melodie der Gospel-Hymne My Jesus Is All The World I Need gesungen, womit er ein Tabu gebrochen und die frommen Eiferer gegen sich aufgebracht hatte. Das gilt als die Geburtsstunde des Soul.

Als die Jackson 5 bei Motown anfangen, ist Soul längst zum zeitgemäßeren Synonym für R&B geworden. Ein Stilbegriff ist es immer noch nicht. Im Soul tritt der melodische Charakter des Chorus gegenüber dem rhythmisch akzentuierten Couplet noch stärker hervor und der Kontrast zwischen den anspannenden und den entspannenden Passagen wird verschärft; aber das ist alles relativ... Ob ein Stück in den Plattenregalen unter Soul/R&B oder unter Rock und Pop einsortiert wird, hängt darum im Zweifelsfall doch eher von der Hautfarbe der Musiker ab - und von der Subkultur, aus der sie kommen. Aber der Zweifel ist in diesem Fall die Regel. Als beispielsweise Michael Jackson 1984 wegen des überwältigenden Erfolgs von Thriller einen ganzen armvoll Grammy-Awards erhalten mußte, waren die Titel Beat it als Soul, Billie Jean als Pop und Thriller als Rock klassifiziert worden. Man hätte es ebensogut andersrum drehen können...

Natürlich wurde Motowns synkretistische Vermengung von weißem und schwarzem Geschmack auch angefeindet. Von der Konkurrenz sowieso. Von den Musikkritikern auch, den die leben vom Kultivieren des feinen Unterschieds. Vor allem aber von den Ideologen der black consciousness.

Als Motowan Galionsfigur Diana Ross und ihre Supremes zu Crossover-Superstars geworden waren, interessierte sich die Werbebranche für sie; man ließ sie für Weißbrot Reklame machen – und prompt hatte The Sound Of Young America den Spottnamen Whitebread soul weg. Man warf ihnen vor, die so teuer erkämpfte schwarze Identität zu verraten. Doch über kein Thema wird ja in Amerika so viel gelogen wie über die Rassenfrage – in allen Lagern. Wen einer zu schwarzer Eigenständigkeit und schwarzem Selbstvertrauen beigetragen hat, dann wohl Berry Gordy, indem er den ersten schwarzen Wirtschaftkonzern schuf. Nicht nur James Brown, auch Louis Farrakhan von den Black Muslims versteht unter Black Power zu allererst: „Bildung und Eigentum“. Und Crossover verkauft auch nicht die schwarze Seele. Im Gegenteil, ohne die Pionierarbeit von Crossover-Stars wie Louis Armstrong, Nat King Cole, Harry Belafonte und auch Diana Ross hätten weder James Brown noch der Reggae oder gar der heutige Gangsta-Rap beim weißen Publikum je eine Chance bekommen und könnten sich am Markt nicht halten. (Freilich – ohne  Puristen wie Stax und James Brown hätten sie nicht, was sie ‚vermitteln’ könnten…)

Doch entscheidend ist: Ohne den Sound of Young America wäre das schwarze Idiom nicht zur Musiksprache der Welt geworden. Ohne Motown hätte nie ein Schwarzer zum größten Star aller Zeiten werden können. So richtig schwarz ist er dabei allerdings nicht geblieben: keine Kunst ohne Ironie...