Samstag, 7. Mai 2016

6. Jacko!

oder 
Das Bambi der Rockmusik


Naiv muß jedes Genie sein, oder es ist keins.
Friedrich Schiller
Alles, was das Genie
als Genie tut, geschieht unbewußt.
Goethe an Schiller

Der Triumphzug von Thriller fand nicht in einem Durchmarsch statt, sondern konvulsivisch, in drei aufeinanderfolgenden Wellen. Ein erster Hinweis darauf, daß es mehr war als ein momentaner Zufallstreffer. Als eben die Verkaufszahlen des Albums zurückgehen wollten, platzte ein Ereignis herein, das, wenn es nach Michael Jackson gegangen wäre, gar nicht stattgefunden hätte. Am 16. Mai 1983 schalten 47 Millionen Amerikaner das Programm von NBC ein: Motown 25, Yesterday, Today, and Forever; eine Galavorsellung zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum von Berry Gordys Plattenfirma. Alle Motown-Stars treten auf und singen noch einmal ihre alten Hits - Stevie Wonder, Diana Ross und The Supremes, Smokey Robinson, Marvin Gaye, The Temptations, The Four Tops, Gladys Knight and The Pips, Mary Wells - die Crème der schwarzen Musik Amerikas. Und natürlich The Jackson5.

Natürlich? Nicht so ganz. Michael wollte nicht. Ausgerechnet jetzt sollte er nochmal den kleinen Michael von den Jackson5 mimen? Die Familie drängte. Jermaine, dessen Solistenkarriere bei Motown nicht gehalten hatte, was sie versprach, war gerade zu Arista Records gewechselt und brauchte dringend einen Promo-Schub. Die andern Brüder würden ohne Michael sang- und klanglos in der Versenkung verschwinden, das war klar. Und Joe Jackson war, wie immer, pleite. Doch Michael hatte bei dieser Wiedersehensfeier nichts zu gewinnen. Nicht er würde sich in Motowns vergangenem Ruhm sonnen, sondern Motown würde an seinem jüngsten Erfolg mitzehren. Berry Gordy rückte ihm persönlich auf den Leib. Schließlich stellte Michael eine Bedingung, von der er dachte, Gordy müsse sie ausschlagen. Er verlangte n„mlich, Billie Jean vortragen zu drfen. Alle andern sangen nur die alten Motown-Titel und nicht eins von ihren neuen Stücken. Doch Gordy biß in den sauren Apfel: Besser so als gar nicht. Michael mußte zähneknirschend zusagen. Nun probte er also mit den Jackson5 - die seit Jermaines Rückkehr zu sechst auftraten - einen Medley ihrer alten Lieder.

Es wurde ein Riesenerfolg. Und dann folgte sein Soloauftritt. Die Billie-Jean-Darbietung bei Motown 25 ist das wichtigste Datum in seiner Karriere. Er riß das Publikum von den Sthlen, und die Fernsehaufzeichnung verschlägt noch heute den Atem.

Sein Aussehen hatte sich weiter verändert. Die Nase war noch schmaler geworden. Er selbst aber auch, denn seit jener Zeit ernährt er sich (wenn überhaupt) nur noch vegetarisch. Aus der üppigen Afro-Krause waren mithilfe von Wet-Gel lockige Strähnen geworden. Er trug eine lange, paillettenbesetzte Jacke und unter zu kurzen Hosen weiße Glitzersocken - man soll ihm auf die Füße sehen; seither eines seiner Abzeichen, wie auch der einzelne linke Handschuh. Und schließlich läßt er sich aus den Kulissen einen schwarzen Fedora-Hut reichen; „so einen, wie ihn Spione tragen“. Er wird sich nie mehr von ihm trennen.

Nein, nebensächlich sind Fragen der Garderobe in dieser Branche nicht. Sie gehören zum Image. Michael hatte schon bei Motown immer Mützen und Hüte tragen wollen, aber er durfte nicht. Sie paßten nicht in das Image, das man für ihn ausgetüftelt hatte.

Doch was die Leute bei Motown 25 von den Stühlen gerissen hat, waren nicht Textilien. Es war sein Tanz. Er war ganz anders. Bislang hatte er Tänze dargeboten, wie sie im Showbiz üblich waren, wenn auch mit originellen Varianten. Jetzt brachte er die Ästhetik des breakdance auf die Bühne - das, was schwarze Schulkinder auf den Straßen und Pausenhöfen tanzen. Dabei geht es um Geschicklichkeit und Wagnis - mit einem Hang zum Grotesken. Er ist nicht „gelungene Form“, sondern Ausdruck einer Lebenshaltung. Bei Motown 25 hat Michael Jackson seine eigene Art gefunden. Sein Tanz ist aggressiv, graziös und komisch in einem. Seine Quintessenz ist der moonwalk, den er an diesem Tag zum erstenmal gezeigt hat. Der war es, der den Leuten den Atem verschlug.

Michael Jackson hat nie behauptet, den Moonwalk erfunden zu haben. Er hat sogar die Namen der drei Jungen genannt, von denen er sich das Grundmuster hat beibringen lassen. Ursprünglich war der Moonwalk eine seitliche Kreisbewegung. Er hat ihn umgewandelt in jenen paradoxen Schritt, bei dem er vorwärts geht und rückwärts gleitet. Er ist mehr als alles andere sein Markenzeichen geblieben - wegen der Symbolik. Es war der Geburtsakt der Jacko-Figur.

Bis dahin war Thriller lediglich ein unerhörter Verkaufserfolg. Doch am Tag danach brach Michaelmania aus. Des Morgens klingelte Michaels Telefon. Er traute seinen Ohren nicht: Am andern Ende war Fred Astaire! Was er seinem jungen Kollegen sagte, könnte als Motto über Michaels Laufbahn stehen: You're an angry dancer, „Du bist ein zorniger Tänzer“, und You're a hell of a mover, etwa: „Du bewegst dich wie der Teufel“.

Die Überlieferung sagt, der Jüngere sei, nachdem der Ältere aufgelegt hatte, ins Badezimmer gestürzt, um sich zu übergeben. Den Beifall der Menge war Michael Jackson gewöhnt. Aber persönliches Lob kannte er nicht.

Später erzählte er, die Proben für den Jackson-5-Medley mit seinen Brüdern seien so langwierig gewesen, daß er erst am Vorabend dazu gekommen sei, für den Billie-Jean-Auftritt zu üben - zuhaus in der Küche. (Er übt immer ohne Spiegel: „Der verführt nur zum Posieren.“) Was es werden solle, habe er gar nicht recht gewußt, nur: „Mir schwebte etwas Verruchtes und Ungewöhnliches vor.“ Schließlich sei die Nummer dann auch ein bißchen unsicher ausgefallen. So habe er nach einer doppelten Drehung auf den Fußspitzen stehenbleiben wollen (nicht ganz ungefährlich), aber er sei umgekippt - man sieht es auf den Fersehbildern. Er war so ärgerlich, daß er die Begeisterung des Publikums zuerst gar nicht wahrgenommen habe. Dann sei in seiner Garderobe aber ein kleiner Junge aufgekreuzt: „O Mann, woher kannst du so tanzen?“ “Übung, schätz ich“, hat Michael erwidert. „Zum erstenmal an diesem Abend war ich zufrieden mit dem, was ich geboten hatte. Ich sagte mir, du mußt wirklich gut gewesen sein, denn Kinder sind ehrlich.“ Tatsächlich war der Billie-Jean-Auftritt bei Motown 25 noch nicht so virtuos wie das, was man seither von Michael Jackson zu erwarten gewöhnt ist. Spätere Wiederholungen derselben Nummer, zum Beispiel bei den MTV Video Awards 1995, sind raffinierter. Aber die Frische und die Wildheit dieser halb improvisierten Show ist unübertroffen. Mit dem fast zufälligen Auftritt bei Motown 25 hat Michael Jackson seinen persönlichen Stil kreiert. „Er betrat die Bühne als gealtertes Wunderkind. Er verließ sie als aufgehender Superstar“, schrieb TV Guide. Er ist nicht länger der kleine Michael von den Jackson5, sondern Jacko, der größte Star aller Zeiten. Er wird zu einer öffentlichen Figur. Zum lebenden Mythos.

Als James Brown mal wieder vom Auf und Ab und den ewigen Neuanfängen seiner Karriere entnervt war, traf er den Jazzer Count Basie. „Sehen sie, der Trick ist einfach der“, sagte ihm The Count, „man muß zu einer Institution werden, so wie ich.“ Das nahm er sich zu Herzen und es gelang ihm schließlich, neben den Menschen James Brown das Denkmal JAMES BROWN zu setzen, den Godfather of Soul...

Die englische Sprache hat für die Unterhaltungskunst den treffenden Namen performing arts, „Kunst der Darbietung“, der Unterhaltungskünstler heißt perfomer. Darin wird deutlich, daß es in dieser Kunstgattung nicht nur darauf ankommt, was dargeboten wird, sondern auch darauf, wie. Die Herstellungsweise ist künstlerisch in dem Sinne, da nicht vorab feststeht, „was es werden soll“. Zugrunde liegt eine Ahnung. Aber was es sein wird, das bildet sich erst in einem Prozeß des Suchens heraus, und oft ist das Ergebnis ganz was anderes, als dem Künstler „vor-geschwebt“ hat. Natürlich ist die Unterscheidung zwischen wie und was schematisch und läßt sich, wo's in die Einzelheiten geht, gar nicht zuendeführen. Oft bringt ein neuer Einfall bei der formalen Gestaltung einen unerwarteten „Inhalt“ hervor, und ein neuer Inhalt „schreit“ nach einer neuen Darstellungsweise...

Vieles ist nach Form oder Inhalt zwar Routine und Konvention; aber das ist es bei der ‚hohen‘ Kunst wohl auch. Ein echter Unterschied der performing arts zu den klassischen Kunstformen ist vielmehr dies: Alles gehört hier zum „Werk“, nicht nur das Endprodukt, sondern auch die Art und Weise seiner Präsentation. Sehr treffend heißen darum die Künstler und ihr Auftritt in der Show-Branche gemeinsam: ein act. Die Formen seiner Vermarktung sind dem Kunstprodukt hier nicht äußerlich, „nur Verpackung“ oder „bloße Reklame“, sondern sind sein Bestandteil. Das Image des Künstlers gehört selbst zu seiner performance.

Der Einwand kommt prompt: Aber das Image des Popkünstlers stammt nicht aus seiner „Kunst“, sondern wird ihm in den Showfabriken vorher aufgeklebt (wie zum Beispiel bei Motown); alles nur Reklame! Ja, das sind die Performer von der Stange. Auch das gibt es in der Hohen Kunst, und da gehen sie ebenso spurlos vorüber wie im Showbiz. Das Kostüm des Performers muß nicht nur glitzern, es muß auch sitzen - ihm nämlich „auf den Leib geschneidert“ sein.

Und dann muß es eine Weile halten (das war das Problem der Jackson5, die einmal aus ihren knallbunten Kinderklamotten herauswachsen mußten.) Madonna zum Beispiel kreiert jede Saison ein anderes Image, und man wartet noch immer ab, welches endlich paßt - und hält. Sie kann sich drehn und wenden, wie sie will, das Flair des Beliebigen und aus der Luft Gegriffenen wird sie nicht los.

In den Performing Arts ist dies der künstlerische Elementarakt: Der Star muß sich zur „Figur“ erfinden.

Sicher beruht Image im Showbiz zum guten Teil auf Bluff; im Fachjargon hype genannt, von „Hyperbolik“, der maßlosen Übertreibung. Doch wäre Michael Jackson der King of Pop gar nicht gewesen, hätte ihn auch keine noch so gut geölte Reklamemaschine dazu stilisieren können - jedenfalls nicht länger als bis zum nächsten Album. Das unterscheidet die Performing Arts wirklich von der Hohen Kunst in den Tempeln: Sie bewähren sich hier und jetzt, oder gar nicht.

Sie sind aktuell - deshalb gehört ja auch die Präsentation zur „Sache selbst“. Vincent van Gogh hat seinen Ruhm nie erlebt. Aber im Showbiz gibt es keine verkannten Genies und postumen Stars. (Auch Buster Keaton wurde nicht entdeckt, sondern wiederendeckt.) Man muß das Publikum sofort erreichen, so oder so - und manchmal besteht die ganze Kunst auch wirklich nur darin.

Gewiß, die Performing Arts sind ihrem Wesen nach mediatisch, ohne moderne Medien gäbe es sie gar nicht. Aber weil sie heute auf elektronischen Wegen rund um die Welt allen zugänglich sind, unterliegen sie auch jederzeit dem demokratischen Richtspruch des Marktes - die Konkurrenz ist groß. Geschützte Nischen, wo die Auserlesenen unter sich wären, gibt es da nicht. Allerdings können sich Neulinge oder solche Performer, denen nichts Eigenes einfällt, in den eifersüchtig gegeneinander abgegrenzten „Stilrichtungen“ eingraben, die sich, wenn man genauer hinsieht und -hört, weniger in ästhetischer Hinsicht unterscheiden, als vielmehr nach den jugendlichen „Milieus“ und „Subkulturen“, denen sie zugehören. Die Konkurrenz der „Stile“ erweitert die Absatzmöglichkeiten insgesamt, der jugendliche Fan kann nicht nur zwischen einzelnen Acts, sondern gleich zwischen verfeindeten „Lagern“ hin- und herzappen - um im freien Wechsel gleichsam „sich selbst zu finden“. Der Unterhaltungsmarkt ist seit der Rock'n'Roll-Revolution der fünfziger Jahre eben „Jugendkultur“. Das Ästhetische führt hier noch weniger ein Eigenleben als anderswo, sondern folgt zuerst dem jugendtypischen Bedürfnis nach Identifikation. Darum geht es da auch nicht nur um die Darbietung, sondern ebenso um den Darbietenden, den Act. Image ist hier Teil des „Werks“.

Bleibt aber die Frage: Was ist in dem Image dargestellt? Eine Frage, die jedesmal über die Grenzen des Ästhetischen hinausführt - ins Mythische.

Und das ist der Stein des Anstoßes: daß im Starkult der Unterhaltungsindustrie Mythen zur Show getellt werden - und nicht die Welt, so wie sie ist. Als ob Kunst mit Aufklärung und Emanzipation beauftragt wäre! Die Mythen sind selber Kunstwerke, sie erzählen die Rätsel der Welt. Die Unterhaltungsindustrie treibt die spezifische Nähe der Kunst zum Mythischen nur auf die Spitze. Doch anders als die „hohe“ Kunst, greift sie unmittelbar in den Alltag ein. Macht sie dort nicht die Arbeit von zweihundert Jahren abendländischer Aufklärung zunichte? Ist sie nicht in Wahrheit eine Verdummungsindustrie?

Die Entmythologisierung des Alltagslebens ist zu einem Gutteil selbst ein Mythos. Verwissenschaftlichung und Rationalisierung erstrecken sich eigentlich nur aufs Arbeitsleben. Selbst in den Wissenschaften reicht die Entmythologisierung gerademal bis in den inneren Aufbau einzelnen Disziplinen; aber schon nicht mehr bis an ihre allen gemeinsame Prämisse. Denn daß die Welt einen erkennbaren Sinn - Gesetz, Ordnung, Zweck - hätte, der über die Erscheinungen hinausweist, ist nicht das Ergebnis der Erkenntnis, sondern ihre Voraussetzung. Man wird es wohl annehmen müssen, wenn man überhaupt zu verwertbaren Erkenntnissen kommen will, aber nachweisen kann man es nicht. Es ist ein Mythos wie irgendein anderer: eine Sinndeutung.

Das heißt ja nicht gleich, daß dieser Mythos so gut wäre wie jener. Es kommt immer noch darauf an, welcher Sinn da in die Welt hineingedeutet wird.

Was ist also dran am Jacko-Mythos?

Zum Star-System gehören zwei Parteien; hier die Stars - und dort die Fans. Was ein Star darstellt, erkennt man unter anderm auch an seinen Fans. Und da unterscheidet sich Michael Jackson wohl von den andern. Den härtesten Kern, wennauch nicht die Mehrheit seiner Gemeinde bilden Kinder von etwa neun bis vierzehn Jahren. Genauer gesagt, die Jungen. Unter den Vermarktungsstrategen, die es wissen müssen, kursiert der Spruch: Jungen werden vor der Pubertät Jacko-Fans, Mädchen danach. Kiddie Kulture - Albert Goldman gibt uns das Stichwort: „Ihr erstes, spektakuläres Auftreten war jener gewaltige Boom der Video-Spiele, der die gesamte Unterhaltungsindustrie umgekrempelt hat. Die Eltern sahen es mit Entsetzen - wie sie seit den Zeiten des Jitterbug [Modetanz der 20er Jahre] noch jeden spontanen Ausbruch von Jugendkultur mit Entsetzen gesehen haben. Aber diese Spiele stifteten ein neues und aktives Verhältnis des jugendlichen Publikums zum Medium. Es ist eine Art Widerrede gegen den Bildschirm, die typisch ist für diese Generation. Die Kinder überwinden die Passivität, die charakteristisch war für den herkömmlichen TV-Konsum, und an die Stelle von Lethargie trat eine ganz neue Art von Anteilnahme. Wenn nun die Kinder auf ihren Bildschirmen Michael erblickten, dann waren sie nicht einfach hypnotisiert, sondern fühlten sich herausgefordert, seinen Bewegungs-Code zu knacken - und gaben nicht eher Ruhe, als bis sie's ‚konnten wie Michael'“. Das Besondere an Michaels Stellung zu Kiddie Kulture ist nicht so sehr, nach Goldman, daß er sie verkörpert, sondern vielmehr, daß er sie überhöht: „Er verleiht ihr einen Glanz und Glamour, der ihr auf den Straßen und Schulhöfen so schmerzlich gefehlt hatte.“

Tatsächlich sind die eindrucksvollsten Momente des Jacko-Kults noch immer die Imitatoren-Wettbewerbe seiner jüngsten Verehrer. Da wird zwar bis in die Fingerspitzen peinlich genau kopiert, was Michael vormacht, aber doch findet jeder einzelne durch die Imitation zu seiner eigenen Ausdrucksqualität - die man bei älteren, quasi-professionellen Imitatoren vergeblich sucht.

Doch sind die Kinder ja nur der härteste Kern seiner Gefolgschaft, der, als es nötig wurde, durch Wind und Wetter zu ihm hielt. Die gewaltigen Umsätze zeitigt er aber bei „Leuten wie du und ich“. Als der Playboy 1995 seine amerikanischen Leser nach dem größten Rockmusiker fragte, nannten die meisten natürlich Elvis Presley. Aber auf Platz zwei folgte schon Michael Jackson; unter den Lebenden der erste! Er findet seine Anhänger offenbar selbst dort, wo man es am wenigsten vermutet. Nach dem ‚typischen Jacko-Fan‘ sucht man daher vergebens. Nicht seine Fans unterscheiden sich von den Fans der anderen, sondern ihr Verhältnis zu ihm unterscheidet sich von anderen Starkulten. Das offiziöse Fan-Magazin Black & White brachte einmal einen witzigen Test: „Was für ein Fan bist du wirklich?“ (Die Jacko-Fan-Literatur ist unerwartet selbstironisch.) Die Auflösung für den „richtigen“ Fan las sich so: Seit einiger Zeit hast Du bemerkt, daß Du eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten mit Michael hast. Oft sagst Du Dir, wenn Michael nicht auf dieser Erde wäre, dann wärst Du völlig verloren. Deshalb trägst Du immer ein kleines Photo von ihm bei Dir, in Deiner Brieftasche. Wenn Du Angst hast, dann ist er der einzige, der Dich trösten kann. Niemand hat Dir jemals soviel Liebe gegeben wie er, selbst Dein Hamster nicht. Und auch wenn Du Michael noch nie begegnet bist, so spürst Du in Dir eine Welle der Zuneigung, die Meere und Kontinente durchquert. Du weißt, daß die Welt durch ihn besser ist, und du spürst seine Macht in Dir.

Nein, witzig ist das nicht mehr. Aber treffend. Das ist der Gemütszustand des Michael-Jackson-Fans. Als ihr Star nach seinem Zusammenbruch im Dezember '95 auf der Intensivstation lag, versammelten sich Fans aus aller Welt vor dem Beth Israel Hospital, um ihm Genesung zu wünschen. Eine Dame in reiferen Jahren sagte den Fersehreportern: „Es tut so gut, ein Michael-Jackson-Fan zu sein! Es ist, als ob man fliegt. - Aber ich fürchte, ein anderer kann das gar nicht verstehen.“ Da geht es nicht mehr um Singen und Tanzen; es ist eine pers”nliche Verfallenheit. Vielen von ihnen, auch den jüngsten, gibt sie immer wieder Rätsel auf. Kein Zweifel: Sie haben eine Schwäche. Kein Grund zur Scham, aber man prahlt auch nicht damit. Die meisten Michael-Jackson-Fans halten sich verborgen.

Das ist nämlich der diskrete Kern des Mythos: Als Jacko ist der kleine Michael ein Magier; sinngemäß: ein Botschafter aus einer andern Welt - die fremd ist und doch merkwürdig vertraut, als wär man schonmal dagewesen. Er ist rührend, und wer gibt das schon gerne zu?

Amerikanische Soziologen wollen ermittelt haben, daß über neunzig Prozent - 90 % ! - der Erdbewohner „wissen, wer Michael Jackson ist“; er wäre demnach der bekannteste Mensch, der je gelebt hat. Die sind nun bestimmt nicht alle seine heimlichen Fans. Vielleicht findet er bei den meisten sogar mehr Ablehnung als Beifall. Viele werden weder je seine Musik gehört noch seinen Tanz gesehen haben. Aber sie kennen ihn alle. Was kennen sie?

Es ist ein Bild. Eine lange, grazile Gestalt - und vor allem: das Gesicht. Gerade weil es nicht „echt“ ist, sondern künstlich verfertigt, ist es ein Buch, in dem man lesen kann. Über dieses Gesicht wird viel geredet und geschrieben. Er selbst hat immer bestritten, daß er sich je etwas anderes chirurgisch habe verändern lassen, als die Nase und das Kinn (in dem er seit einigen Jahren ein Grübchen hat). Alle anderen Veränderungen seiner Gesichtszüge seien nur auf die Gewichtsabnahme zurückzuführen, die er seiner strengen vegetarischen Diät verdanke (sonntags nimmt er sogar nur Saft zu sich). Mund, Augen und Wangenknochen seien nie operiert worden. Auch Fans fällt es schwer, das zu glauben. Allerdings kann manche Mutter davon erzählen, wie sie ihr eigenes Kind nicht mehr erkannte, als es... vom Ziegenpeter aufgedunsen war. Wenn die Zunahme so entstellt - warum nicht auch die Abnahme? Und die Narbe an der linken Unterlippe, die er schon als Elfjähriger hatte - die ist auch noch da.

Aber die Nase! Die allein reicht aus, sein Gesicht von allen Sterblichen dieser Erde zu unterscheiden. Sicher ist er selbst nicht mehr ganz froh darüber: Spätestens der letzte Eingriff war verunglückt. Aber jetzt erkennt man immerhin, wie es gemeint war! Es ist nicht die (ihrerseits operierte) Nase von Diana Ross, sondern die Nase von... Walt Disneys Peter Pan. Dem Verlorenen Jungen im Nimmerland ist er treu geblieben. Soll heißen: Es ist kein Frauengesicht, das er sich hat machen lassen, sondern ein Knabengesicht.

Versteht man das vielleicht unter „geschlechtslos“?

In den Feuilletons ist immer wieder die Rede von Michael Jacksons „Androgynie“. Androgyn (von gr. andros, des Mannes, und gyne, die Frau) nennt man in der Wissenschaft einen Menschen, der zugleich markant maskuline und markant feminine Merkmale aufweist, also sowohl sehr männlich als auch sehr weiblich wirkt. - Na, „sehr“ männlich wurde Michael wohl bisher kaum gefunden; im journalistischen Alltagsgebrauch ist vermutlich was anderes gemeint. Nämlich sowas wie: ein bißchen hiervon, ein bißchen davon, und eigentlich weder noch... Irgendein Redakteur, wie immer in Eile, fand nicht die Zeit, hinzusehen, noch weniger, nachzudenken; aber da war dieses schöne griechische Wort, das war zur Hand, er schrieb es auf, und seither schreiben es alle nach. Aber wo ist da das Weibliche? Etwa die Augen? Die kann nur ein Nordeuropäer unmännlich finden; ein Orientale nicht, auch kein Afrikaner. Ansonsten sieht man an der ganzen Gestalt nicht eine einzige Rundung, sogar die Stupsnase ist spitz. Die Epauletten seiner fantastischen Uniformjacken betonen die eckigen Schultern, mit Gürteln und Schnallen unterstreicht er die enge Hüfte, es ist die schlaksige Gestalt eines zu rasch in die Hähe geschossenen Dreizehnjährigen. Er ist, um die Dinge beim Namen zu nennen, eine phallische Erscheinung. Nur wirkt er dabei so kindlich - da will man es eben nicht wahrhaben. Ein Sex-Symbol ist er wirklich nicht, aber beklemmend erotisch.

Na, ein bißchen was ist schon dran an dem schiefen Wort von der Androgynie; nämlich daß die Figur in jeglicher Hinsicht uneindeutig oder, mit Theodor Adorno zu reden, „zwieschlächtig“ ist. Nicht, daß sie möglicherweise gar keine besondere Bedeutung hätte - sondern daß sie immer gleich mehrere davon hat! Ein Nebeneinander von Bestimmtem und Unbestimmtem, eben „ein Fragezeichen“ - ein hyperkinetisches, sozusagen.

A propos. Reden wir von der Art, wie er sich bewegt. Von der Symbolik des Moonwalk sprachen wir schon - vorwärts und rückwärts zugleich. Zwieschlächtigkeit charakterisiert seinen Tanz auch sonst. Er bewegt sich sowohl fließend und weich als auch zackig und abgehackt, und das eine folgt aus dem andern so blitzschnell, daß der Übergang auch in der Zeitlupe kaum zu orten ist. Beschleunigen und Verlangsamen - er macht die schwarze Rhythmik sichtbar. Sein Tanz ist, wie sein Gesang, nicht nur rhythmisch-nervös, sondern auch melodisch-lyrisch.

Im klassischen Ballett unterscheidet man ‚Schritte‘ und ‚Posen‘, den Fluß der Bewegung und die geronnene Form. Aber bei ihm gibt es keinen Schritt, der nicht auch eine Pose, keine Pose, die nicht ein Schritt wäre. Dabei ist die Abfolge so glatt, so präzise, daß es fast maschinell wirkt. („Jesses, was macht er da bloß?“ rief Sammy Davis Jr., der doch selber einiges konnte.) In Heinrich von Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater heißt es, man müsse nicht glauben, daß jedes Glied der Puppe während ihres Tanzes von dem Maschinisten einzeln gezogen und bewegt werde: „Jede Bewegung hat ihren Schwerpunkt, es wäre genug, diesen im Innern der Figur zu regieren; die Glieder, welche nichts als Pendel wären, folgten ohne irgendein Zutun auf eine mechanische Weise von selbst.“ Wenn man Michael Jackson tanzen sieht, meint man oft, er sei eine Puppe ohne eigenes Gewicht, und man möchte Kleist glauben, „daß in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmut enthalten sein könne als in dem Bau eines menschlichen Körpers“.

Wenn da nicht diese Expressivität wäre! Das ist die krasseste Zwieschlächtigkeit in Jacksons Erscheinung: Von unsern Künstlern sind wir gewöhnt, daß Perfektion und Ausdruck gegensätzliche Kräfte sind, und daß eines stets auf Kosten des andern geht; Fischer-Dieskau kann ein Lied davon singen. Nicht bei ihm. Er ist technisch vollendet und wild zugleich.

Daran ändern auch nichts seine vielen Manierismen. Darunter der berüchtigst : das crotch grabbing, der Griff in den Schritt. Er sagt: „Das soll gar nichts bedeuten. Es folgt einfach aus dem Fluß der Bewegung.“ Na ja, aber daß sich seine Zuschauer dabei was denken, wird ihm nicht entgangen sein. Es ist auf jeden Fall eine unanständige Gebärde, oder? Doch ob sie ernstlich einen sexuellen Sinn hat, ist nicht sicher. Seine erwachsenen Zuschauer ärgern sich, aber seine jüngsten Anhänger johlen. Die Geste spricht ihnen aus dem Herzen: Süß und lieb, das war ich mal - jetzt bin ich ungezogen, I'm bad. 

Es ist diese lümmelhafte Frechheit, die vor allem die Komik seiner Auftritte ausmacht. Eine Aggressivität, die durch rührende Schönheit dementiert wird, oder die Schönheit, die von Aggressivität durchkreuzt ist. Es ist das Clowneske.

Und wieder bewährt sich Michaels persönliche Affinität zu den Kindern: Schon immer war der Clown deren liebste Kunstgestalt. Wie Adorno das in seiner dunklen Art ausdrückt: „Das Einverständnis der Kinder mit den Clowns ist eines mit der Kunst - das die Erwachsenen ihnen austreiben.“ Ist nicht merkwürdig, daß Erwachsene fast immer ein bißchen verlegen werden, wenn sie über den Clown von Herzen lachen müssen? Eigentlich wollten sie darüberstehen...

Denn der Clown ist eine kindliche Gestalt. Schon weil er immer auch frech und ein bißchen boshaft ist. Das Beste an James Matthew Barries Peter Pan ist der Grund, den er für den tödlichen Haß des höchst erwachsenen Käptn Hook gegen seinen Helden nennt: Es ist Peters abgründige Frechheit. Das ist ein Wesenszug, der leider untrennbar zu einem bestimmten Lebensalter gehört - dem Lebensalter, zu dem Michael Jackson sich bekennt, und wo er sein treuestes Publikum findet: „Flegeljahre“. Diese Frechheit ist nicht bloß schlechtes Benehmen - das ginge noch. Sie ist gewissermaáen eine ‚existenzielle Stellungnahme‘, die den Erwachsenen zur Weißglut reizt, weil er sie... „nicht nachvollziehen kann“. Richtiger: Er könnte nur zu gut, er will aber nicht. Es ist der Ausdruck eines Welt- und Lebensgefühls, das soeben entdeckt hat, daß man sich auf kaum etwas verlassen kann. Das über Nacht begonnen hat, an allem zu zweifeln. Es ist Provokation als ‚Haltung‘. Das wäre nun ziemlich unerträglich für Eltern, Nachbarn und Lehrer, würde es nicht immer wieder mal ausbalanciert durch Ausbrüche von moralischem Rigorismus - der nämlich für dieses Stadium auf dem Lebensweg nicht minder typisch ist als seine Frechheit. In dem Maße, wie die Seinsurteile des Kopfes fragwürdig werden, erscheinen die Sinnurteile des Herzens als das Letzte, woran man sich halten kann. Das ist allerdings rührend, aber vernünftig ist es nicht. Es kann nicht so bleiben. Du mußt lernen, auf deinen Vorteil zu achten, mein Junge! Man kann nicht immer nur tun, wonach einem das Herz steht. Das Leben ist ernst. - Aber einige sind hartnäckig und wollen nicht Vernunft annehmen. Das ist kindisch. Nicht nur frech, sondern auch noch sentimental, heißt es dann; aus dem Alter könntest du nun langsam raus sein! Der Zwieschlächtigkeit der Jacko-Figur entspricht die Zwiespältigkeit seiner erwachsenen Zuschauer. Er rührt sie und er ärgert sie gleichermaßen.

Diese Zwieschlächtigkeit reicht bis in die Musik. Oder richtiger, da fing sie an. Schon diese Stimme! Sie hat im Gerede über „Androgynie“ ihren Platz gehabt. Es hieß, er schluckt weibliche Hormone, um eine hohe Stimme zu bekommen. Das hat einer erfunden, der nichts davon versteht. Die Stimmbänder sind Muskeln, man kann sie zusammenziehen. Ein Bassist könnte bei gehörigem Training theoretisch so hoch kommen wie die Sopranistin Jessye Norman. Die Frage ist nur, wie es klingt. Die Anstrengung würde man ihm anhören, und das wäre häßlich. Aber könnten Hormone ihm helfen? Daß sich seine männlich weiten Stimmbänder etwa wieder zusammenziehen?! Es ist einfach Quatsch. Papier ist geduldig und Geld stinkt nicht. Es stimmt nicht einmal, daß er eine besonders hohe Stimme hat. Als Junge hatte er eine Altstimme, jetzt ist er Tenor, ganz normal. Die Stimme hat allerdings eine helle Farbe, doch das ist etwas anderes. Man liest auch: Er falsettiert eben. Auch das stimmt nicht. Er falsettiert sogar weniger als die meisten andern Pop- und R&B-Sänger. Als Falsett bezeichnet man die sogenannte Kopfstimme. Wir alle haben zwei natürliche Stimmlagen, eine hohe und eine tiefe, die eine klingt, als würde der Ton in der Brust -, die andere klingt, als würde er nur im Kopf resonieren. In Wahrheit ist das viel komplizierter. Stimmphysiologie ist bis heute eine Geheimwissenschaft. Da gibt es mehr Dinge, die geglaubt werden, als Dinge, die man weiß. Doch eins weiß jeder: Wenn er vom ‚Brust‘-Register zum ‚Kopf‘-Register wechselt, muß er „quetschen“, und das kann man hören. Zum Pensum jedes Gesangschülers gehört daher - schon in Knabenchören – „Stimmbildung“. Durch regelmäßiges Üben soll ein Zwischenregister ausgebildet werden, das im Idealfall denselben Umfang hat wie die beiden natürlichen Register zusammen. Dann ist kein Bruch mehr hörbar, alles klingt leicht und frei. Das nennt man eine Voix mixte, jeder klassische Sänger singt so.

Auch Michael Jackson. Bei Rock-Sängern, deren Ausdrucksmöglichkeiten meist reduziert sind auf heiser Grölen oder heiser Flennen, ist man das nur nicht gewöhnt. Das einzig wirklich Ungewöhnliche: Michael Jackson hat jahrelang in dieser Zwischenlage auch gesprochen. Macht der Gewohnheit oder Trick? Neuerdings redet er auch in der Öffentlichkeit in natürlicher, „tiefer“ Lage. Und es fällt auf: Die typische Knabenfärbung hat er doch noch. Natur oder Techni ?

Was es mit dem Knabentimbre auf sich hat, gehört zu den Vexierstücken der Stimmphysiologie. Jeder Naturlaut erklingt nicht nur im Ton X, sondern noch in soundsoviel „Obertönen“. Sie machen die „Farbe“ aus. Ohne dies würden wir den Klang der Violine nicht von der Baßtuba unterscheiden können. Knabenstimmen zeichnen sich nun durch ihre Armut an Obertönen aus. Das macht sie schmal und karg, wie hingehaucht; „spröde“ sagt, wer es lieber prall und üppig mag. Es klingt nackt und bloß - und dadurch immer auch ein bißchen zudringlich. Jedermanns Geschmack ist es nicht. Die menschliche Stimme hat allerdings die Eigenschaft, daß wir selbst beeinflussen können, wieviele Obertöne hörbar werden. Ist also Michael Jacksons Knabentimbre Natur oder Geschicklichkeit?

Oder fragen wir besser so: Und wenn es Absicht wäre?!

Daß einem, der mit einem Knabentimbre singt und wie ein Knabe frech, komisch und graziös tanzt, auch persönlich knabenhafte Eigenschaften zugeschrieben werden, liegt auf der Hand. Daß dies alles auch seine Absicht ist, muß seine Glaubwürdigkeit nicht beeinträchtigen. Denn daß einer so und nicht anders erscheinen will, gibt schließlich auch eine gültige Auskunft darüber, wer er ist. Andersrum: Weil sich Michael Jackson so stilisiert, ist es echter, als wenn es bloß „von allein“ käme.

Performing Arts sind Kunst. Da ist das Verhältnis von Schein und Sein nicht dasselbe wie im werktätigen Alltag. Wer an die Kunst das Ansinnen stellt, in der Schönheit ihres Scheins stets den Gegenwert geliefert zu bekommen von dem, was „wirklich ist“, der hält den Äquivalententausch für die Auflösung der Rätsel der Welt. Das mag praktisch gedacht sein; künstlerisch ist es nicht.

Aber wenn es bloß Schein wäre ? Alles äußerlich, „nur Verpackung“? Am Charakter der Gesamtdarbietung müßte es sich bewähren. Die Probe aufs Exempel: die Musik selbst. Gibt es einen besonderen musikalischen Jackson-Stil?

„Was für eine Art Sänger sind Sie?“
Ich singe alles mögliche.

„Wie singen Sie? Wie wer?“
Ich singe überhaupt nicht wie irgendwer.

Nein, das ist nicht von Michael Jackson, gar so naiv ist er nicht. Dieser Dialaog stammt aus den frühen Tagen von Elvis Presley. Aber er könnte von Jackson sein: Hat er einen speziellen Stil?

Die Antwort ist ein klares Jein.

Sein Programm ist Crossover, das hat er von Motown mitgebracht. Er überschreitet nicht nur die Grenzen zwischen schwarz und weiß, sondern auch zwischen den Stilrichtungen - die ja doch nur Vermarktungskategorien sind. Aber er unterzieht alles seiner eigenen Behandlungsweise. Und die heißt funk.
Das ist eine dieser schwarzen Musikvokabeln, für die es in der europäischen Musik keine Entsprechung gibt. Man kann sie höchstens veranschaulichen, indem man sie gegen die europäischen Traditionen absetzt. Europäische Musik folgt dem Gestaltschema von Figur und Grund. Eine melodische Gesangslinie auf dem ‚Boden‘ einer begleitenden Baß-Stimme, die sich beide aufeinander beziehen. Die schwarzamerikanische Musik neigt dazu, die Stimmen gleichberechtigt durcheinander zu weben und ineinander zu knüpfen. Es entsteht ein Geflecht, das „schwebt“. Diese Musik ist expressiv und nicht „bedeutend“. Da ist kaum eine Entwicklung, die „aus dem Material selber folgt“. Nicht die Form „entwickelt sich“, sondern - ein Künstler musiziert. Diese Musik ist von Anfang an mehr ‚Performance‘ als ‚Werk‘.

Die reinste Form von Funk war die Musik von James Brown in den siebziger Jahren. Eine Gesangslinie ist kaum noch zu hören - kein Wunder: Er „schreit“ ja. Die Singstimme ist nur noch ein perkussives Rhythmusinstrument. Es herrscht ständige Hochspannung; selten mal ein Melodiefetzen, der Spannung abbaut. James Browns Musik eignet sich kaum dazu, daheim im Sessel friedlich gelauscht zu werden. 

Jackson-Funk ist Crossover auch in dem Sinn, daß die Gesangslinie immer hörbar aus dem polyrhyth-mischen Gewebe heraustritt. Ein extremes Beispiel ist der Sprechgesang in Jam auf dem Dangerous-Album; eines von den Stücken, die er „für Schulkinder gemacht“ hat: sehr schnell und sehr laut. Jahrelang war es bei besagten Imitatoren-Wettbewerben der beliebteste Titel. Man muß eine Weile hinhören, ehe man merkt, daß da einer singt - d. h. keucht und hechelt. Zuerst hält man ihn für ein weiteres Rhythmusinstrument, doch dann hört man, daß alle anderen durcheinander kreuzenden Linien um diese eine herumgruppiert sind. Tatsächlich beginnt er, wie ein Liederkomponist, mit der Melodiestimme. Seine Stücke entstehen nicht live aus der Improvisation mit seinen Musikern, sondern beginnen im Kopf. Anläßlich eines Fernsehinterviews hat er es einmal vorgemacht: Er schnalzt, summt und schmatzt die Oberstimme auf eine Demoband, die das rhythmische und melodische Gerüst des Songs bildet. Dann fügt er auf dieselbe Weise die anderen Rhythmuslinien nach und nach hinzu. Er hat die Gabe, fast alle Musikinstrumente mit dem Mund imitieren zu können. Später werden die Bänder gemischt und die passenden „Instrumente“ ausgewählt. Man hört oft, diese Musik käme aus dem Computer. Das ist zwar nicht falsch, wird aber mißverstanden. Nicht der Computer komponiert (wie bei Techno), sondern er. Aber die Töne werden nur noch selten von herkömmlichen Musikinstrumenten (Gitarre, Trompete) erzeugt. Es werden alle möglichen Klangquellen benutzt, eine Hupe, eine klappende Autotür, das Fauchen von Michaels schwarzem Panther, Michaels eigener Herzschlag... Die werden „gesampelt“ (engl. sample: Beispiel), d. h. elektronisch gespeichert, und sind dann beliebig einsetzbar. Das macht der Computer, mehr nicht.

Es ist alles verfunkt. Es klirrt und kracht, doch es dröhnt nicht - wie etwa bei „echtem“ Rock. Aber Rock ist ja auch nicht polyrhythmisch. Wenn die Rhythmuslinien sich durchkreuzen und schweben sollen, dann muß der Klangraum durchsichtig bleiben. Es klingt fast kammermusikalisch (wie bei Brahms). Satte Klänge verwischen alles zu einem Brei (wie bei Wagner). Dafür sind sie gewichtig. Wichtig. Das durchsichtige Schweben klingt meist so, als wär es vielleicht doch nicht ganz ernstgemeint. Ernst und wichtig will die Rockmusik aber sein, seit sie nicht mehr originell sein kann. Sie braucht eine „Aussage“. Zwar ist es seit dreißig Jahren immer dieselbe (kennen Sie Bob Dylan?), aber darum behilft sie sich ja auch mit klanglichem Pomp. Sie braucht es.

Jacksons Musik redet nicht ja ja, nein nein. Nie weiß man recht, wie man es nehmen soll. Sie ist eben zwieschlächtig und nicht einfältig: Sie ist laut, aber darum ist sie nicht primitiv. An den Beatles wird gerühmt, sie hätten es verstanden, anspruchsvolle, nämlich komplexe Musik „für jedermann“ zu machen. In der Tat, ein echtes Kunst-Stück. Wer erinnert sich schon noch, daß die Fabulous Four während ihrer kurzen Karriere unter Gebildeten nicht minder geschmäht waren als weiland Elvis Presley? Michael Jacksons Musik geht es nicht anders. Im Ernst: Sie ist anspruchsvoll. Denn sie ist komplex. Nur ist die Komplexität nicht da hörbar, wo der Klassikfreund mit ihr rechnet: bei Melodie und Harmonik. Es ist ja schwarze Musik. Die Komplexität steckt in der Rhythmik, und da erkennt sie der Klassikhörer nicht einmal, wenn sie ihm knallhart aufs Ohr schlägt: Er hört nur Tohuwabohu.

Wer nur Unterhaltungsmusik kennt, der fragt bei jedem klassischen Stück: „Ist wer gestorben?“ - und wenns ein Divertimento von Mozart ist. Umgekehrt hört sich dem Klassikfreund alle U-Musik egal an, weil sie immer „zu laut“ und „zu schnell“ ist. Aber alle Katzen sind nicht grau, und jedes klassische Stück ist nicht „ernst“, gottlob. Genausowenig wie das Ohr ungeübt von Hänschenklein zu Bela Bartok übergehen sollte, bekommt ihm der unvorbereitete Übergang von Bachs Generalbaß zu Michael Jacksons Funk. Denn der stellt auch seine Ansprüche! Ob es einem nach loyalem Hinhören dann gefällt oder nicht, ist eine andere Frage. Aber mit „Niveau“ hat es nichts zu tun. Noch heftiger als der gebildete Klassikfreund verabscheuen ja die Anhänger von Grunge und Heavy Metal den Jackson-Sound. Sie lieben einen schweren Beat, der metronomisch stampft wie eine Dampframme. Jacksons nervöser, durchsichtiger Funk ist ihnen zu fizzelig.

Er ist eben kein „Kerl“. Als es die Musikkritiker leidwaren, monatelang nur Loblieder auf Thriller zu singen, entdeckten sie den Künstler, der damals gerade als Prince bekannt wurde. Hach, das war ein Kerl! Dagegen wirkte Michael Jackson glatt wie „das Bambi der Rockmusik“! So schrieb damals USA Today. Als Kompliment war es nicht gedacht. Aber als Metapher für den Doppelsinn der Jacko-Figur trifft es genau ins Schwarze.

Die Probe aufs Exempel ist bestanden: Die Musik selbst bewährt den Charakter der „Figur“, es ist nicht alles „nur Verpackung“. Den Ansprüchen, die sie an ihre Hörer stellt, werden verschiedene Bevölkerungsgruppen in unterschiedlicher Weise gerecht. Weiße Europäer haben es schwerer. Doch bevor Jacksons schwarzer Funk auch dort anspruchsvolle Musik für jedermann werden konnte, ist er zunächst einmal Musik für jedeskind. Es ist kein Zufall, daß es schwarze Musik in Form von Jackson-Funk war, die zuerst zur Musiksprache der Kinder der Welt wurde: Es ist eine fiebrige, nervöse, „schräge“ Musik, die weckt, aufkratzt, anspannt und treibt; aber nicht volldröhnt und betäubt. Es ist Musik für einen Menschenschlag, der nicht eine Minute stillsitzen kann, schon gar nicht mit dem Herzen und auch nicht mit dem Kopf.

Was ist nun aber das Aufreizende an dieser Musik? Es ist „dieser wunderbare Wechsel von Enthusiasmus und Ironie“, um mit Friedrich Schlegel zu reden, dem Vordenker der deutschen Romantik. „Ausgelassenheit auf der einen Seite und absolut zuverlässige Sicherheit auf der anderen“; Pathos und Komik, Wildheit und Manier, Herz und Spottlust, Tragik und Alberei, alles durcheinander. Eben: zwieschlächtig. In Michael Jackson „vereinigen sich Unschuld und ausgekochter Professionalismus, unverstellte Gefühlstiefe und ausgefuchste Kalkulation zu einem explosiven Gemisch“, heißt es in Rowohlts Rocklexikon. Unschuld und Kalkulation, wie geht das zusammen?

Nur durch Ironie.

Ironie kommt aus der Reflexion. Wie kann sie da naiv sein? Ist der Naive nicht gerade der, der nicht reflektiert? Nein, der Naive ist einer, der reflektiert und seine Unschuld doch nicht verliert. Er reflektiert, das kann er schon; aber noch nicht auf seinen Vorteil (oder „Bedürfnis“, das ist dasselbe in grün). Das ist naiv. Wer so reflektiert, ist - im Sinne der Lebensklugheit - ein Spinner oder ein Trottel. Wenn er das weiß und sich trotzdem nicht bessert, ist er ein Ironiker. Er weiß, daß das Wirkliche nicht das Wahre ist, und sagt: Pech für das Wirkliche.

Ironie ist, nach Schlegel, da, „wo der naive Tiefsinn den Schein des Verkehrten und Verrückten oder des Einfältigen und Dummen durchschimmern läßt“. Das ist die Charakteristik des frechen Bengels (in seinen besseren Momenten); es ist auch die von Michael Jackson. Die Stimme des Wahren spricht nicht durch den Verstand, sondern durchs Herz - das ist naiv. Nicht auf das Wahre reflektiert der Naive, das braucht er nicht, denn es „zeigt sich“ von selbst. Auf das Wirkliche reflektiert er, soweit es dem Wahren nicht gewachsen ist. Ironie ist nicht der Gegensatz des Naiven, sondern die Bedingung für seinen Bestand.

Der grundlegende Zwiespalt in Jacksons Performance stammt aus der ironischen Verdoppelung des naiven kleinen Michael zur Kunstfigur Jacko. Die halten es beieinander nicht aus und können voneinander nicht lassen. Ihr Widerstreit ist sein Lebensthema und Leitmotiv seiner Kunst. „Er selbst ist das Werk und das Werk ist er.“ Er ist das lebende Gesamtkunstwerk.







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