Das Bambi der Rockmusik
Naiv muß jedes Genie sein, oder es ist keins.
Friedrich Schiller
Alles, was das Genie
als Genie tut, geschieht unbewußt.
Goethe an Schiller
Der
Triumphzug von Thriller fand nicht in einem Durchmarsch statt, sondern
konvulsivisch, in drei aufeinanderfolgenden Wellen. Ein erster Hinweis darauf,
daß es mehr war als ein momentaner Zufallstreffer. Als eben die Verkaufszahlen
des Albums zurückgehen wollten, platzte ein Ereignis herein, das, wenn es nach
Michael Jackson gegangen wäre, gar nicht stattgefunden hätte. Am 16. Mai 1983
schalten 47 Millionen Amerikaner das Programm von NBC ein: Motown 25,
Yesterday, Today, and Forever; eine Galavorsellung zum fünfundzwanzigjährigen
Jubiläum von Berry Gordys Plattenfirma. Alle Motown-Stars treten auf und singen
noch einmal ihre alten Hits - Stevie Wonder, Diana Ross und The Supremes, Smokey Robinson, Marvin
Gaye, The Temptations, The Four Tops,
Gladys Knight and The Pips, Mary Wells - die Crème der schwarzen Musik
Amerikas. Und natürlich The Jackson5.
Natürlich?
Nicht so ganz. Michael wollte nicht. Ausgerechnet jetzt sollte er nochmal den
kleinen Michael von den Jackson5 mimen? Die Familie drängte. Jermaine, dessen
Solistenkarriere bei Motown nicht gehalten hatte, was sie versprach, war gerade
zu Arista Records gewechselt und
brauchte dringend einen Promo-Schub. Die andern Brüder würden ohne Michael
sang- und klanglos in der Versenkung verschwinden, das war klar. Und Joe
Jackson war, wie immer, pleite. Doch Michael hatte bei dieser Wiedersehensfeier
nichts zu gewinnen. Nicht er würde sich in Motowns vergangenem Ruhm sonnen,
sondern Motown würde an seinem jüngsten Erfolg mitzehren. Berry Gordy rückte
ihm persönlich auf den Leib. Schließlich stellte Michael eine Bedingung, von
der er dachte, Gordy müsse sie ausschlagen. Er verlangte n„mlich, Billie Jean
vortragen zu drfen. Alle andern sangen nur die alten
Motown-Titel und nicht eins von ihren neuen Stücken. Doch Gordy biß in den
sauren Apfel: Besser so als gar nicht. Michael mußte zähneknirschend zusagen.
Nun probte er also mit den Jackson5 - die seit Jermaines Rückkehr zu sechst
auftraten - einen Medley ihrer alten Lieder.
Es
wurde ein Riesenerfolg. Und dann folgte sein Soloauftritt. Die Billie-Jean-Darbietung bei Motown 25 ist das wichtigste Datum in
seiner Karriere. Er riß das Publikum von den Sthlen, und die
Fernsehaufzeichnung verschlägt noch heute den Atem.
Sein
Aussehen hatte sich weiter verändert. Die Nase war noch schmaler geworden. Er
selbst aber auch, denn seit jener Zeit ernährt er sich (wenn überhaupt) nur
noch vegetarisch. Aus der üppigen Afro-Krause waren mithilfe von Wet-Gel
lockige Strähnen geworden. Er trug eine lange, paillettenbesetzte Jacke und
unter zu kurzen Hosen weiße Glitzersocken - man soll ihm auf die Füße sehen;
seither eines seiner Abzeichen, wie auch der einzelne linke Handschuh. Und
schließlich läßt er sich aus den Kulissen einen schwarzen Fedora-Hut reichen; „so
einen, wie ihn Spione tragen“. Er wird sich nie mehr von ihm trennen.
Nein,
nebensächlich sind Fragen der Garderobe in dieser Branche nicht. Sie gehören
zum Image. Michael hatte schon bei Motown immer Mützen und Hüte tragen wollen,
aber er durfte nicht. Sie paßten nicht in das Image, das man für ihn ausgetüftelt
hatte.
Doch
was die Leute bei Motown 25 von den
Stühlen gerissen hat, waren nicht Textilien. Es war sein Tanz. Er war ganz
anders. Bislang hatte er Tänze dargeboten, wie sie im Showbiz üblich waren,
wenn auch mit originellen Varianten. Jetzt brachte er die Ästhetik des breakdance auf die Bühne - das, was
schwarze Schulkinder auf den Straßen und Pausenhöfen tanzen. Dabei geht es um
Geschicklichkeit und Wagnis - mit einem Hang zum Grotesken. Er ist nicht „gelungene
Form“, sondern Ausdruck einer Lebenshaltung. Bei Motown 25 hat Michael Jackson seine eigene Art gefunden. Sein Tanz
ist aggressiv, graziös und komisch in einem. Seine Quintessenz ist der moonwalk, den er an diesem Tag zum
erstenmal gezeigt hat. Der war es, der den Leuten den Atem verschlug.
Michael
Jackson hat nie behauptet, den Moonwalk erfunden zu haben. Er hat sogar die
Namen der drei Jungen genannt, von denen er sich das Grundmuster hat beibringen
lassen. Ursprünglich war der Moonwalk eine seitliche Kreisbewegung. Er hat ihn
umgewandelt in jenen paradoxen Schritt, bei dem er vorwärts geht und rückwärts
gleitet. Er ist mehr als alles andere sein Markenzeichen geblieben - wegen der
Symbolik. Es war der Geburtsakt der Jacko-Figur.
Bis
dahin war Thriller lediglich ein unerhörter Verkaufserfolg. Doch am Tag danach
brach Michaelmania aus. Des Morgens
klingelte Michaels Telefon. Er traute seinen Ohren nicht: Am andern Ende war
Fred Astaire! Was er seinem jungen Kollegen sagte, könnte als Motto über
Michaels Laufbahn stehen: You're an angry
dancer, „Du bist ein zorniger Tänzer“, und You're a hell of a mover, etwa: „Du bewegst dich wie der Teufel“.
Die
Überlieferung sagt, der Jüngere sei, nachdem der Ältere aufgelegt hatte, ins
Badezimmer gestürzt, um sich zu übergeben. Den Beifall der Menge war Michael
Jackson gewöhnt. Aber persönliches Lob kannte er nicht.
Später
erzählte er, die Proben für den Jackson-5-Medley mit seinen Brüdern seien so
langwierig gewesen, daß er erst am Vorabend dazu gekommen sei, für den Billie-Jean-Auftritt zu üben - zuhaus in
der Küche. (Er übt immer ohne Spiegel: „Der verführt nur zum Posieren.“) Was es
werden solle, habe er gar nicht recht gewußt, nur: „Mir schwebte etwas
Verruchtes und Ungewöhnliches vor.“ Schließlich sei die Nummer dann auch ein bißchen
unsicher ausgefallen. So habe er nach einer doppelten Drehung auf den Fußspitzen
stehenbleiben wollen (nicht ganz ungefährlich), aber er sei umgekippt - man
sieht es auf den Fersehbildern. Er war so ärgerlich, daß er die Begeisterung des
Publikums zuerst gar nicht wahrgenommen habe. Dann sei in seiner Garderobe aber
ein kleiner Junge aufgekreuzt: „O Mann, woher kannst du so tanzen?“ “Übung, schätz
ich“, hat Michael erwidert. „Zum erstenmal an diesem Abend war ich zufrieden
mit dem, was ich geboten hatte. Ich sagte mir, du mußt wirklich gut gewesen
sein, denn Kinder sind ehrlich.“ Tatsächlich war der Billie-Jean-Auftritt bei Motown 25 noch nicht so virtuos wie das,
was man seither von Michael Jackson zu erwarten gewöhnt ist. Spätere Wiederholungen
derselben Nummer, zum Beispiel bei den MTV
Video Awards 1995, sind raffinierter. Aber die Frische und die Wildheit
dieser halb improvisierten Show ist unübertroffen. Mit dem fast zufälligen
Auftritt bei Motown 25 hat Michael
Jackson seinen persönlichen Stil kreiert. „Er betrat die Bühne als gealtertes
Wunderkind. Er verließ sie als aufgehender Superstar“, schrieb TV Guide. Er ist nicht länger der kleine
Michael von den Jackson5, sondern Jacko,
der größte Star aller Zeiten. Er wird zu einer öffentlichen Figur. Zum
lebenden Mythos.
Als
James Brown mal wieder vom Auf und Ab und den ewigen Neuanfängen seiner
Karriere entnervt war, traf er den Jazzer Count Basie. „Sehen sie, der Trick
ist einfach der“, sagte ihm The Count,
„man muß zu einer Institution werden, so wie ich.“ Das nahm er sich zu Herzen
und es gelang ihm schließlich, neben den Menschen James Brown das Denkmal JAMES
BROWN zu setzen, den Godfather of Soul...
Die
englische Sprache hat für die Unterhaltungskunst den treffenden Namen performing arts, „Kunst der Darbietung“,
der Unterhaltungskünstler heißt perfomer.
Darin wird deutlich, daß es in dieser Kunstgattung nicht nur darauf ankommt,
was dargeboten wird, sondern auch darauf, wie. Die Herstellungsweise ist künstlerisch
in dem Sinne, da nicht vorab feststeht, „was es werden soll“. Zugrunde liegt
eine Ahnung. Aber was es sein wird, das bildet sich erst in einem Prozeß des
Suchens heraus, und oft ist das Ergebnis ganz was anderes, als dem Künstler „vor-geschwebt“
hat. Natürlich ist die Unterscheidung zwischen wie und was schematisch
und läßt sich, wo's in die Einzelheiten geht, gar nicht zuendeführen. Oft
bringt ein neuer Einfall bei der formalen Gestaltung einen unerwarteten „Inhalt“
hervor, und ein neuer Inhalt „schreit“ nach einer neuen Darstellungsweise...
Vieles
ist nach Form oder Inhalt zwar Routine und Konvention; aber das ist es bei der ‚hohen‘
Kunst wohl auch. Ein echter Unterschied der performing
arts zu den klassischen Kunstformen ist vielmehr dies: Alles gehört hier zum „Werk“, nicht nur das Endprodukt, sondern
auch die Art und Weise seiner Präsentation. Sehr treffend heißen darum die Künstler
und ihr Auftritt in der Show-Branche gemeinsam: ein act. Die Formen seiner Vermarktung sind dem Kunstprodukt hier nicht
äußerlich, „nur Verpackung“ oder „bloße Reklame“, sondern sind sein
Bestandteil. Das Image des Künstlers gehört selbst zu seiner performance.
Der
Einwand kommt prompt: Aber das Image des Popkünstlers stammt nicht aus seiner „Kunst“,
sondern wird ihm in den Showfabriken vorher aufgeklebt (wie zum Beispiel bei
Motown); alles nur Reklame! Ja, das sind die Performer von der Stange. Auch das
gibt es in der Hohen Kunst, und da gehen sie ebenso spurlos vorüber wie im Showbiz.
Das Kostüm des Performers muß nicht nur glitzern, es muß auch sitzen - ihm nämlich
„auf den Leib geschneidert“ sein.
Und
dann muß es eine Weile halten (das war das Problem der Jackson5, die einmal aus
ihren knallbunten Kinderklamotten herauswachsen mußten.) Madonna zum Beispiel
kreiert jede Saison ein anderes Image, und man wartet noch immer ab, welches
endlich paßt - und hält. Sie kann sich drehn und wenden, wie sie will, das
Flair des Beliebigen und aus der Luft Gegriffenen wird sie nicht los.
In
den Performing Arts ist dies der künstlerische Elementarakt: Der Star muß sich
zur „Figur“ erfinden.
Sicher
beruht Image im Showbiz zum guten Teil auf Bluff; im Fachjargon hype genannt, von „Hyperbolik“, der maßlosen
Übertreibung. Doch wäre Michael Jackson der King
of Pop gar nicht gewesen, hätte ihn auch keine noch so gut geölte Reklamemaschine
dazu stilisieren können - jedenfalls nicht länger als bis zum nächsten Album.
Das unterscheidet die Performing Arts wirklich von der Hohen Kunst in den
Tempeln: Sie bewähren sich hier und jetzt, oder gar nicht.
Sie
sind aktuell - deshalb gehört ja auch die Präsentation zur „Sache selbst“.
Vincent van Gogh hat seinen Ruhm nie erlebt. Aber im Showbiz gibt es keine
verkannten Genies und postumen Stars. (Auch Buster Keaton wurde nicht entdeckt,
sondern wiederendeckt.) Man muß das Publikum sofort erreichen, so oder so - und
manchmal besteht die ganze Kunst auch wirklich nur darin.
Gewiß,
die Performing Arts sind ihrem Wesen nach mediatisch, ohne moderne Medien gäbe
es sie gar nicht. Aber weil sie heute auf elektronischen Wegen rund um die Welt
allen zugänglich sind, unterliegen sie auch jederzeit dem demokratischen
Richtspruch des Marktes - die Konkurrenz ist groß. Geschützte Nischen, wo die
Auserlesenen unter sich wären, gibt es da nicht. Allerdings können sich
Neulinge oder solche Performer, denen nichts Eigenes einfällt, in den eifersüchtig
gegeneinander abgegrenzten „Stilrichtungen“ eingraben, die sich, wenn man
genauer hinsieht und -hört, weniger in ästhetischer Hinsicht unterscheiden, als
vielmehr nach den jugendlichen „Milieus“ und „Subkulturen“, denen sie zugehören.
Die Konkurrenz der „Stile“ erweitert die Absatzmöglichkeiten insgesamt, der
jugendliche Fan kann nicht nur zwischen einzelnen Acts, sondern gleich zwischen
verfeindeten „Lagern“ hin- und herzappen - um im freien Wechsel gleichsam „sich
selbst zu finden“. Der Unterhaltungsmarkt ist seit der Rock'n'Roll-Revolution
der fünfziger Jahre eben „Jugendkultur“. Das Ästhetische führt hier noch
weniger ein Eigenleben als anderswo, sondern folgt zuerst dem jugendtypischen
Bedürfnis nach Identifikation. Darum geht es da auch nicht nur um die
Darbietung, sondern ebenso um den Darbietenden, den Act. Image ist hier Teil
des „Werks“.
Bleibt
aber die Frage: Was ist in dem Image
dargestellt? Eine Frage, die jedesmal über die Grenzen des Ästhetischen hinausführt
- ins Mythische.
Und
das ist der Stein des Anstoßes: daß im Starkult der Unterhaltungsindustrie
Mythen zur Show getellt werden - und nicht die Welt, so wie sie ist. Als ob
Kunst mit Aufklärung und Emanzipation beauftragt wäre! Die Mythen sind selber
Kunstwerke, sie erzählen die Rätsel der Welt. Die Unterhaltungsindustrie treibt
die spezifische Nähe der Kunst zum Mythischen nur auf die Spitze. Doch anders als
die „hohe“ Kunst, greift sie unmittelbar in den Alltag ein. Macht sie dort
nicht die Arbeit von zweihundert Jahren abendländischer Aufklärung zunichte?
Ist sie nicht in Wahrheit eine Verdummungsindustrie?
Die
Entmythologisierung des Alltagslebens ist zu einem Gutteil selbst ein Mythos.
Verwissenschaftlichung und Rationalisierung erstrecken sich eigentlich nur aufs
Arbeitsleben. Selbst in den Wissenschaften reicht die Entmythologisierung
gerademal bis in den inneren Aufbau einzelnen Disziplinen; aber schon nicht
mehr bis an ihre allen gemeinsame Prämisse. Denn daß die Welt einen erkennbaren
Sinn - Gesetz, Ordnung, Zweck - hätte, der über die Erscheinungen hinausweist,
ist nicht das Ergebnis der Erkenntnis, sondern ihre Voraussetzung. Man wird es
wohl annehmen müssen, wenn man überhaupt zu verwertbaren Erkenntnissen kommen
will, aber nachweisen kann man es nicht. Es ist ein Mythos wie irgendein
anderer: eine Sinndeutung.
Das
heißt ja nicht gleich, daß dieser Mythos so gut wäre wie jener. Es kommt immer noch
darauf an, welcher Sinn da in die Welt hineingedeutet wird.
Was
ist also dran am Jacko-Mythos?
Zum
Star-System gehören zwei Parteien; hier die Stars - und dort die Fans. Was ein
Star darstellt, erkennt man unter anderm auch an seinen Fans. Und da unterscheidet
sich Michael Jackson wohl von den andern. Den härtesten Kern, wennauch nicht
die Mehrheit seiner Gemeinde bilden Kinder von etwa neun bis vierzehn Jahren.
Genauer gesagt, die Jungen. Unter den Vermarktungsstrategen, die es wissen müssen,
kursiert der Spruch: Jungen werden vor der Pubertät Jacko-Fans, Mädchen danach.
Kiddie Kulture - Albert Goldman gibt
uns das Stichwort: „Ihr erstes, spektakuläres Auftreten war jener gewaltige
Boom der Video-Spiele, der die gesamte Unterhaltungsindustrie umgekrempelt hat.
Die Eltern sahen es mit Entsetzen - wie sie seit den Zeiten des Jitterbug [Modetanz der 20er Jahre] noch
jeden spontanen Ausbruch von Jugendkultur mit Entsetzen gesehen haben. Aber
diese Spiele stifteten ein neues und aktives Verhältnis des jugendlichen
Publikums zum Medium. Es ist eine Art Widerrede gegen den Bildschirm, die
typisch ist für diese Generation. Die Kinder überwinden die Passivität, die
charakteristisch war für den herkömmlichen TV-Konsum, und an die Stelle von
Lethargie trat eine ganz neue Art von Anteilnahme. Wenn nun die Kinder auf
ihren Bildschirmen Michael erblickten, dann waren sie nicht einfach
hypnotisiert, sondern fühlten sich herausgefordert, seinen Bewegungs-Code zu
knacken - und gaben nicht eher Ruhe, als bis sie's ‚konnten wie Michael'“. Das
Besondere an Michaels Stellung zu Kiddie Kulture ist nicht so sehr, nach
Goldman, daß er sie verkörpert, sondern vielmehr, daß er sie überhöht: „Er
verleiht ihr einen Glanz und Glamour, der ihr auf den Straßen und Schulhöfen so
schmerzlich gefehlt hatte.“
Tatsächlich
sind die eindrucksvollsten Momente des Jacko-Kults noch immer die
Imitatoren-Wettbewerbe seiner jüngsten Verehrer. Da wird zwar bis in die
Fingerspitzen peinlich genau kopiert, was Michael vormacht, aber doch findet jeder
einzelne durch die Imitation zu seiner eigenen Ausdrucksqualität - die man bei älteren,
quasi-professionellen Imitatoren vergeblich sucht.
Doch
sind die Kinder ja nur der härteste Kern seiner Gefolgschaft, der, als es nötig
wurde, durch Wind und Wetter zu ihm hielt. Die gewaltigen Umsätze zeitigt er
aber bei „Leuten wie du und ich“. Als der Playboy
1995 seine amerikanischen Leser nach dem größten Rockmusiker fragte, nannten
die meisten natürlich Elvis Presley. Aber auf Platz zwei folgte schon Michael
Jackson; unter den Lebenden der erste! Er findet seine Anhänger offenbar selbst
dort, wo man es am wenigsten vermutet. Nach dem ‚typischen Jacko-Fan‘ sucht man
daher vergebens. Nicht seine Fans unterscheiden sich von den Fans der anderen,
sondern ihr Verhältnis zu ihm unterscheidet sich von anderen Starkulten. Das
offiziöse Fan-Magazin Black & White
brachte einmal einen witzigen Test: „Was für ein Fan bist du wirklich?“ (Die
Jacko-Fan-Literatur ist unerwartet selbstironisch.) Die Auflösung für den „richtigen“
Fan las sich so: Seit einiger Zeit hast
Du bemerkt, daß Du eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten mit Michael hast. Oft
sagst Du Dir, wenn Michael nicht auf dieser Erde wäre, dann wärst Du völlig
verloren. Deshalb trägst Du immer ein kleines Photo von ihm bei Dir, in Deiner
Brieftasche. Wenn Du Angst hast, dann ist er der einzige, der Dich trösten
kann. Niemand hat Dir jemals soviel Liebe gegeben wie er, selbst Dein Hamster
nicht. Und auch wenn Du Michael noch nie begegnet bist, so spürst Du in Dir
eine Welle der Zuneigung, die Meere und Kontinente durchquert. Du weißt, daß
die Welt durch ihn besser ist, und du spürst seine Macht in Dir.
Nein,
witzig ist das nicht mehr. Aber treffend. Das ist der Gemütszustand des
Michael-Jackson-Fans. Als ihr Star nach seinem Zusammenbruch im Dezember '95
auf der Intensivstation lag, versammelten sich Fans aus aller Welt vor dem Beth Israel Hospital, um ihm Genesung zu
wünschen. Eine Dame in reiferen Jahren sagte den Fersehreportern: „Es tut so
gut, ein Michael-Jackson-Fan zu sein! Es ist, als ob man fliegt. - Aber ich fürchte,
ein anderer kann das gar nicht verstehen.“ Da geht es nicht mehr um Singen und
Tanzen; es ist eine pers”nliche Verfallenheit. Vielen von ihnen, auch den jüngsten,
gibt sie immer wieder Rätsel auf. Kein Zweifel: Sie haben eine Schwäche. Kein
Grund zur Scham, aber man prahlt auch nicht damit. Die meisten
Michael-Jackson-Fans halten sich verborgen.
Das
ist nämlich der diskrete Kern des Mythos: Als Jacko ist der kleine Michael ein
Magier; sinngemäß: ein Botschafter aus einer andern Welt - die fremd ist und
doch merkwürdig vertraut, als wär man schonmal dagewesen. Er ist rührend, und
wer gibt das schon gerne zu?
Amerikanische
Soziologen wollen ermittelt haben, daß über neunzig Prozent - 90 % ! - der Erdbewohner
„wissen, wer Michael Jackson ist“; er wäre demnach der bekannteste Mensch, der
je gelebt hat. Die sind nun bestimmt nicht alle seine heimlichen Fans. Vielleicht
findet er bei den meisten sogar mehr Ablehnung als Beifall. Viele werden weder
je seine Musik gehört noch seinen Tanz gesehen haben. Aber sie kennen ihn alle.
Was kennen sie?
Es
ist ein Bild. Eine lange, grazile Gestalt - und vor allem: das Gesicht. Gerade
weil es nicht „echt“ ist, sondern künstlich verfertigt, ist es ein Buch, in dem
man lesen kann. Über dieses Gesicht wird viel geredet und geschrieben. Er
selbst hat immer bestritten, daß er sich je etwas anderes chirurgisch habe verändern
lassen, als die Nase und das Kinn (in dem er seit einigen Jahren ein Grübchen
hat). Alle anderen Veränderungen seiner Gesichtszüge seien nur auf die
Gewichtsabnahme zurückzuführen, die er seiner strengen vegetarischen Diät
verdanke (sonntags nimmt er sogar nur Saft zu sich). Mund, Augen und
Wangenknochen seien nie operiert worden. Auch Fans fällt es schwer, das zu
glauben. Allerdings kann manche Mutter davon erzählen, wie sie ihr eigenes Kind
nicht mehr erkannte, als es... vom Ziegenpeter aufgedunsen war. Wenn die Zunahme
so entstellt - warum nicht auch die Abnahme? Und die Narbe an der linken
Unterlippe, die er schon als Elfjähriger hatte - die ist auch noch da.
Aber
die Nase! Die allein reicht aus, sein Gesicht von allen Sterblichen dieser Erde
zu unterscheiden. Sicher ist er selbst nicht mehr ganz froh darüber: Spätestens
der letzte Eingriff war verunglückt. Aber jetzt erkennt man immerhin, wie es
gemeint war! Es ist nicht die (ihrerseits operierte) Nase von Diana Ross,
sondern die Nase von... Walt Disneys Peter Pan. Dem Verlorenen Jungen im
Nimmerland ist er treu geblieben. Soll heißen: Es ist kein Frauengesicht, das
er sich hat machen lassen, sondern ein Knabengesicht.
Versteht
man das vielleicht unter „geschlechtslos“?
In
den Feuilletons ist immer wieder die Rede von Michael Jacksons „Androgynie“.
Androgyn (von gr. andros, des Mannes,
und gyne, die Frau) nennt man in der
Wissenschaft einen Menschen, der zugleich markant maskuline und markant
feminine Merkmale aufweist, also sowohl sehr männlich als auch sehr weiblich
wirkt. - Na, „sehr“ männlich wurde Michael wohl bisher kaum gefunden; im
journalistischen Alltagsgebrauch ist vermutlich was anderes gemeint. Nämlich
sowas wie: ein bißchen hiervon, ein bißchen davon, und eigentlich weder noch...
Irgendein Redakteur, wie immer in Eile, fand nicht die Zeit, hinzusehen, noch
weniger, nachzudenken; aber da war dieses schöne griechische Wort, das war zur
Hand, er schrieb es auf, und seither schreiben es alle nach. Aber wo ist da das
Weibliche? Etwa die Augen? Die kann nur ein Nordeuropäer unmännlich finden; ein
Orientale nicht, auch kein Afrikaner. Ansonsten sieht man an der ganzen Gestalt
nicht eine einzige Rundung, sogar die Stupsnase ist spitz. Die Epauletten
seiner fantastischen Uniformjacken betonen die eckigen Schultern, mit Gürteln
und Schnallen unterstreicht er die enge Hüfte, es ist die schlaksige Gestalt
eines zu rasch in die Hähe geschossenen Dreizehnjährigen. Er ist, um die Dinge
beim Namen zu nennen, eine phallische Erscheinung. Nur wirkt er dabei so
kindlich - da will man es eben nicht wahrhaben. Ein Sex-Symbol ist er wirklich
nicht, aber beklemmend erotisch.
Na,
ein bißchen was ist schon dran an dem schiefen Wort von der Androgynie; nämlich
daß die Figur in jeglicher Hinsicht uneindeutig oder, mit Theodor Adorno zu
reden, „zwieschlächtig“ ist. Nicht, daß sie möglicherweise gar keine besondere
Bedeutung hätte - sondern daß sie immer gleich mehrere davon hat! Ein
Nebeneinander von Bestimmtem und Unbestimmtem, eben „ein Fragezeichen“ - ein
hyperkinetisches, sozusagen.
A
propos. Reden wir von der Art, wie er sich bewegt. Von der Symbolik des
Moonwalk sprachen wir schon - vorwärts und rückwärts zugleich. Zwieschlächtigkeit
charakterisiert seinen Tanz auch sonst. Er bewegt sich sowohl fließend und
weich als auch zackig und abgehackt, und das eine folgt aus dem andern so
blitzschnell, daß der Übergang auch in der Zeitlupe kaum zu orten ist.
Beschleunigen und Verlangsamen - er macht die schwarze Rhythmik sichtbar. Sein
Tanz ist, wie sein Gesang, nicht nur rhythmisch-nervös, sondern auch
melodisch-lyrisch.
Im
klassischen Ballett unterscheidet man ‚Schritte‘ und ‚Posen‘, den Fluß der
Bewegung und die geronnene Form. Aber bei ihm gibt es keinen Schritt, der nicht
auch eine Pose, keine Pose, die nicht ein Schritt wäre. Dabei ist die Abfolge
so glatt, so präzise, daß es fast maschinell wirkt. („Jesses, was macht er da
bloß?“ rief Sammy Davis Jr., der doch selber einiges konnte.) In Heinrich von
Kleists Aufsatz Über das
Marionettentheater heißt es, man müsse nicht glauben, daß jedes Glied der
Puppe während ihres Tanzes von dem Maschinisten einzeln gezogen und bewegt
werde: „Jede Bewegung hat ihren Schwerpunkt, es wäre genug, diesen im Innern
der Figur zu regieren; die Glieder, welche nichts als Pendel wären, folgten
ohne irgendein Zutun auf eine mechanische Weise von selbst.“ Wenn man Michael
Jackson tanzen sieht, meint man oft, er sei eine Puppe ohne eigenes Gewicht,
und man möchte Kleist glauben, „daß in einem mechanischen Gliedermann mehr
Anmut enthalten sein könne als in dem Bau eines menschlichen Körpers“.
Wenn
da nicht diese Expressivität wäre! Das ist die krasseste Zwieschlächtigkeit in
Jacksons Erscheinung: Von unsern Künstlern sind wir gewöhnt, daß Perfektion und
Ausdruck gegensätzliche Kräfte sind, und daß eines stets auf Kosten des andern
geht; Fischer-Dieskau kann ein Lied davon singen. Nicht bei ihm. Er ist
technisch vollendet und wild zugleich.
Daran
ändern auch nichts seine vielen Manierismen. Darunter der berüchtigst : das crotch grabbing, der Griff in den Schritt.
Er sagt: „Das soll gar nichts bedeuten. Es folgt einfach aus dem Fluß der
Bewegung.“ Na ja, aber daß sich seine Zuschauer dabei was denken, wird ihm
nicht entgangen sein. Es ist auf jeden Fall eine unanständige Gebärde, oder?
Doch ob sie ernstlich einen sexuellen Sinn hat, ist nicht sicher. Seine
erwachsenen Zuschauer ärgern sich, aber seine jüngsten Anhänger johlen. Die Geste
spricht ihnen aus dem Herzen: Süß und lieb, das war ich mal - jetzt bin ich
ungezogen, I'm bad.
Es
ist diese lümmelhafte Frechheit, die vor allem die Komik seiner Auftritte
ausmacht. Eine Aggressivität, die durch rührende Schönheit dementiert wird,
oder die Schönheit, die von Aggressivität durchkreuzt ist. Es ist das
Clowneske.
Und
wieder bewährt sich Michaels persönliche Affinität zu den Kindern: Schon immer
war der Clown deren liebste Kunstgestalt. Wie Adorno das in seiner dunklen Art
ausdrückt: „Das Einverständnis der Kinder mit den Clowns ist eines mit der
Kunst - das die Erwachsenen ihnen austreiben.“ Ist nicht merkwürdig, daß
Erwachsene fast immer ein bißchen verlegen werden, wenn sie über den Clown von
Herzen lachen müssen? Eigentlich wollten sie darüberstehen...
Denn
der Clown ist eine kindliche Gestalt. Schon weil er immer auch frech und ein bißchen
boshaft ist. Das Beste an James Matthew Barries Peter Pan ist der Grund, den er für den tödlichen Haß des höchst
erwachsenen Käptn Hook gegen seinen Helden nennt: Es ist Peters abgründige
Frechheit. Das ist ein Wesenszug, der leider untrennbar zu einem bestimmten
Lebensalter gehört - dem Lebensalter, zu dem Michael Jackson sich bekennt, und
wo er sein treuestes Publikum findet: „Flegeljahre“. Diese Frechheit ist nicht
bloß schlechtes Benehmen - das ginge noch. Sie ist gewissermaáen eine ‚existenzielle
Stellungnahme‘, die den Erwachsenen zur Weißglut reizt, weil er sie... „nicht
nachvollziehen kann“. Richtiger: Er könnte nur zu gut, er will aber nicht. Es
ist der Ausdruck eines Welt- und Lebensgefühls, das soeben entdeckt hat, daß
man sich auf kaum etwas verlassen kann. Das über Nacht begonnen hat, an allem
zu zweifeln. Es ist Provokation als ‚Haltung‘. Das wäre nun ziemlich unerträglich
für Eltern, Nachbarn und Lehrer, würde es nicht immer wieder mal ausbalanciert
durch Ausbrüche von moralischem Rigorismus - der nämlich für dieses Stadium auf
dem Lebensweg nicht minder typisch ist als seine Frechheit. In dem Maße, wie
die Seinsurteile des Kopfes fragwürdig werden, erscheinen die Sinnurteile des
Herzens als das Letzte, woran man sich halten kann. Das ist allerdings rührend,
aber vernünftig ist es nicht. Es kann nicht so bleiben. Du mußt lernen, auf
deinen Vorteil zu achten, mein Junge! Man kann nicht immer nur tun, wonach
einem das Herz steht. Das Leben ist ernst. - Aber einige sind hartnäckig und
wollen nicht Vernunft annehmen. Das ist kindisch. Nicht nur frech, sondern auch
noch sentimental, heißt es dann; aus dem Alter könntest du nun langsam raus
sein! Der Zwieschlächtigkeit der Jacko-Figur entspricht die Zwiespältigkeit
seiner erwachsenen Zuschauer. Er rührt sie und er ärgert sie gleichermaßen.
Diese
Zwieschlächtigkeit reicht bis in die Musik. Oder richtiger, da fing sie an.
Schon diese Stimme! Sie hat im Gerede über „Androgynie“ ihren Platz gehabt. Es
hieß, er schluckt weibliche Hormone, um eine hohe Stimme zu bekommen. Das hat einer
erfunden, der nichts davon versteht. Die Stimmbänder sind Muskeln, man kann sie
zusammenziehen. Ein Bassist könnte bei gehörigem Training theoretisch so hoch
kommen wie die Sopranistin Jessye Norman. Die Frage ist nur, wie es klingt. Die
Anstrengung würde man ihm anhören, und das wäre häßlich. Aber könnten Hormone
ihm helfen? Daß sich seine männlich weiten Stimmbänder etwa wieder
zusammenziehen?! Es ist einfach Quatsch. Papier ist geduldig und Geld stinkt
nicht. Es stimmt nicht einmal, daß er eine besonders hohe Stimme hat. Als Junge
hatte er eine Altstimme, jetzt ist er Tenor, ganz normal. Die Stimme hat
allerdings eine helle Farbe, doch das ist etwas anderes. Man liest auch: Er
falsettiert eben. Auch das stimmt nicht. Er falsettiert sogar weniger als die
meisten andern Pop- und R&B-Sänger. Als Falsett bezeichnet man die
sogenannte Kopfstimme. Wir alle haben zwei natürliche Stimmlagen, eine hohe und
eine tiefe, die eine klingt, als würde der Ton in der Brust -, die andere
klingt, als würde er nur im Kopf resonieren. In Wahrheit ist das viel
komplizierter. Stimmphysiologie ist bis heute eine Geheimwissenschaft. Da gibt
es mehr Dinge, die geglaubt werden, als Dinge, die man weiß. Doch eins weiß
jeder: Wenn er vom ‚Brust‘-Register zum ‚Kopf‘-Register wechselt, muß er „quetschen“,
und das kann man hören. Zum Pensum jedes Gesangschülers gehört daher - schon in
Knabenchören – „Stimmbildung“. Durch regelmäßiges Üben soll ein
Zwischenregister ausgebildet werden, das im Idealfall denselben Umfang hat wie
die beiden natürlichen Register zusammen. Dann ist kein Bruch mehr hörbar,
alles klingt leicht und frei. Das nennt man eine Voix mixte, jeder klassische Sänger singt so.
Auch
Michael Jackson. Bei Rock-Sängern, deren Ausdrucksmöglichkeiten meist reduziert
sind auf heiser Grölen oder heiser Flennen, ist man das nur nicht gewöhnt. Das
einzig wirklich Ungewöhnliche: Michael Jackson hat jahrelang in dieser Zwischenlage
auch gesprochen. Macht der Gewohnheit oder Trick? Neuerdings redet er auch in
der Öffentlichkeit in natürlicher, „tiefer“ Lage. Und es fällt auf: Die
typische Knabenfärbung hat er doch noch. Natur oder Techni ?
Was
es mit dem Knabentimbre auf sich hat, gehört zu den Vexierstücken der
Stimmphysiologie. Jeder Naturlaut erklingt nicht nur im Ton X, sondern noch in
soundsoviel „Obertönen“. Sie machen die „Farbe“ aus. Ohne dies würden wir den
Klang der Violine nicht von der Baßtuba unterscheiden können. Knabenstimmen
zeichnen sich nun durch ihre Armut an Obertönen aus. Das macht sie schmal und
karg, wie hingehaucht; „spröde“ sagt, wer es lieber prall und üppig mag. Es
klingt nackt und bloß - und dadurch immer auch ein bißchen zudringlich. Jedermanns
Geschmack ist es nicht. Die menschliche Stimme hat allerdings die Eigenschaft,
daß wir selbst beeinflussen können, wieviele Obertöne hörbar werden. Ist also
Michael Jacksons Knabentimbre Natur oder Geschicklichkeit?
Oder
fragen wir besser so: Und wenn es Absicht wäre?!
Daß
einem, der mit einem Knabentimbre singt und wie ein Knabe frech, komisch und
graziös tanzt, auch persönlich knabenhafte Eigenschaften zugeschrieben werden,
liegt auf der Hand. Daß dies alles auch seine Absicht ist, muß seine Glaubwürdigkeit
nicht beeinträchtigen. Denn daß einer so und nicht anders erscheinen will, gibt
schließlich auch eine gültige Auskunft darüber, wer er ist. Andersrum: Weil sich Michael Jackson so stilisiert,
ist es echter, als wenn es bloß „von allein“ käme.
Performing
Arts sind Kunst. Da ist das Verhältnis von Schein und Sein nicht dasselbe wie
im werktätigen Alltag. Wer an die Kunst das Ansinnen stellt, in der Schönheit
ihres Scheins stets den Gegenwert geliefert zu bekommen von dem, was „wirklich
ist“, der hält den Äquivalententausch für die Auflösung der Rätsel der Welt.
Das mag praktisch gedacht sein; künstlerisch ist es nicht.
Aber
wenn es bloß Schein wäre ? Alles äußerlich,
„nur Verpackung“? Am Charakter der Gesamtdarbietung müßte es sich bewähren. Die
Probe aufs Exempel: die Musik selbst. Gibt es einen besonderen musikalischen
Jackson-Stil?
„Was für eine Art Sänger
sind Sie?“
Ich singe alles mögliche.
„Wie singen Sie? Wie
wer?“
Ich singe überhaupt
nicht wie irgendwer.
Nein,
das ist nicht von Michael Jackson, gar so naiv ist er nicht. Dieser Dialaog
stammt aus den frühen Tagen von Elvis Presley. Aber er könnte von Jackson sein:
Hat er einen speziellen Stil?
Die
Antwort ist ein klares Jein.
Sein
Programm ist Crossover, das hat er von Motown mitgebracht. Er überschreitet
nicht nur die Grenzen zwischen schwarz und weiß, sondern auch zwischen den Stilrichtungen
- die ja doch nur Vermarktungskategorien sind. Aber er unterzieht alles seiner
eigenen Behandlungsweise. Und die heißt funk.
Das
ist eine dieser schwarzen Musikvokabeln, für die es in der europäischen Musik
keine Entsprechung gibt. Man kann sie höchstens veranschaulichen, indem man sie
gegen die europäischen Traditionen absetzt. Europäische Musik folgt dem
Gestaltschema von Figur und Grund. Eine melodische Gesangslinie auf dem ‚Boden‘
einer begleitenden Baß-Stimme, die sich beide aufeinander beziehen. Die
schwarzamerikanische Musik neigt dazu, die Stimmen gleichberechtigt durcheinander
zu weben und ineinander zu knüpfen. Es entsteht ein Geflecht, das „schwebt“.
Diese Musik ist expressiv und nicht „bedeutend“. Da ist kaum eine Entwicklung,
die „aus dem Material selber folgt“. Nicht die Form „entwickelt sich“, sondern
- ein Künstler musiziert. Diese Musik ist von Anfang an mehr ‚Performance‘ als ‚Werk‘.
Die
reinste Form von Funk war die Musik von James Brown in den siebziger Jahren.
Eine Gesangslinie ist kaum noch zu hören - kein Wunder: Er „schreit“ ja. Die
Singstimme ist nur noch ein perkussives Rhythmusinstrument. Es herrscht ständige
Hochspannung; selten mal ein Melodiefetzen, der Spannung abbaut. James Browns
Musik eignet sich kaum dazu, daheim im Sessel friedlich gelauscht zu
werden.
Jackson-Funk
ist Crossover auch in dem Sinn, daß die Gesangslinie immer hörbar aus dem
polyrhyth-mischen Gewebe heraustritt. Ein extremes Beispiel ist der
Sprechgesang in Jam auf dem Dangerous-Album; eines von den Stücken,
die er „für Schulkinder gemacht“ hat: sehr schnell und sehr laut. Jahrelang war
es bei besagten Imitatoren-Wettbewerben der beliebteste Titel. Man muß eine
Weile hinhören, ehe man merkt, daß da einer singt - d. h. keucht und hechelt.
Zuerst hält man ihn für ein weiteres Rhythmusinstrument, doch dann hört man, daß
alle anderen durcheinander kreuzenden Linien um diese eine herumgruppiert sind.
Tatsächlich beginnt er, wie ein Liederkomponist, mit der Melodiestimme. Seine
Stücke entstehen nicht live aus der Improvisation mit seinen Musikern, sondern
beginnen im Kopf. Anläßlich eines Fernsehinterviews hat er es einmal vorgemacht:
Er schnalzt, summt und schmatzt die Oberstimme auf eine Demoband, die das
rhythmische und melodische Gerüst des Songs bildet. Dann fügt er auf dieselbe
Weise die anderen Rhythmuslinien nach und nach hinzu. Er hat die Gabe, fast
alle Musikinstrumente mit dem Mund imitieren zu können. Später werden die Bänder
gemischt und die passenden „Instrumente“ ausgewählt. Man hört oft, diese Musik
käme aus dem Computer. Das ist zwar nicht falsch, wird aber mißverstanden.
Nicht der Computer komponiert (wie bei Techno),
sondern er. Aber die Töne werden nur noch selten von herkömmlichen
Musikinstrumenten (Gitarre, Trompete) erzeugt. Es werden alle möglichen
Klangquellen benutzt, eine Hupe, eine klappende Autotür, das Fauchen von
Michaels schwarzem Panther, Michaels eigener Herzschlag... Die werden „gesampelt“
(engl. sample: Beispiel), d. h.
elektronisch gespeichert, und sind dann beliebig einsetzbar. Das macht der
Computer, mehr nicht.
Es
ist alles verfunkt. Es klirrt und kracht, doch es dröhnt nicht - wie etwa bei „echtem“
Rock. Aber Rock ist ja auch nicht polyrhythmisch. Wenn die Rhythmuslinien sich
durchkreuzen und schweben sollen, dann muß der Klangraum durchsichtig bleiben.
Es klingt fast kammermusikalisch (wie bei Brahms). Satte Klänge verwischen
alles zu einem Brei (wie bei Wagner). Dafür sind sie gewichtig. Wichtig. Das
durchsichtige Schweben klingt meist so, als wär es vielleicht doch nicht ganz
ernstgemeint. Ernst und wichtig will die Rockmusik aber sein, seit sie nicht
mehr originell sein kann. Sie braucht eine „Aussage“. Zwar ist es seit dreißig
Jahren immer dieselbe (kennen Sie Bob Dylan?), aber darum behilft sie sich ja
auch mit klanglichem Pomp. Sie braucht es.
Jacksons
Musik redet nicht ja ja, nein nein. Nie weiß man recht, wie man es nehmen soll.
Sie ist eben zwieschlächtig und nicht einfältig: Sie ist laut, aber darum ist
sie nicht primitiv. An den Beatles wird gerühmt, sie hätten es verstanden,
anspruchsvolle, nämlich komplexe Musik „für jedermann“ zu machen. In der Tat,
ein echtes Kunst-Stück. Wer erinnert sich schon noch, daß die Fabulous Four während ihrer kurzen
Karriere unter Gebildeten nicht minder geschmäht waren als weiland Elvis
Presley? Michael Jacksons Musik geht es nicht anders. Im Ernst: Sie ist
anspruchsvoll. Denn sie ist komplex. Nur ist die Komplexität nicht da hörbar,
wo der Klassikfreund mit ihr rechnet: bei Melodie und Harmonik. Es ist ja schwarze
Musik. Die Komplexität steckt in der Rhythmik, und da erkennt sie der Klassikhörer
nicht einmal, wenn sie ihm knallhart aufs Ohr schlägt: Er hört nur Tohuwabohu.
Wer
nur Unterhaltungsmusik kennt, der fragt bei jedem klassischen Stück: „Ist wer gestorben?“
- und wenns ein Divertimento von Mozart ist. Umgekehrt hört sich dem
Klassikfreund alle U-Musik egal an, weil sie immer „zu laut“ und „zu schnell“
ist. Aber alle Katzen sind nicht grau, und jedes klassische Stück ist nicht „ernst“,
gottlob. Genausowenig wie das Ohr ungeübt von Hänschenklein zu Bela Bartok übergehen
sollte, bekommt ihm der unvorbereitete Übergang von Bachs Generalbaß zu Michael
Jacksons Funk. Denn der stellt auch seine Ansprüche! Ob es einem nach loyalem
Hinhören dann gefällt oder nicht, ist eine andere Frage. Aber mit „Niveau“ hat
es nichts zu tun. Noch heftiger als der gebildete Klassikfreund verabscheuen ja
die Anhänger von Grunge und Heavy Metal den Jackson-Sound. Sie
lieben einen schweren Beat, der metronomisch stampft wie eine Dampframme.
Jacksons nervöser, durchsichtiger Funk ist ihnen zu fizzelig.
Er
ist eben kein „Kerl“. Als es die Musikkritiker leidwaren, monatelang nur
Loblieder auf Thriller zu singen, entdeckten sie den Künstler, der damals
gerade als Prince bekannt wurde. Hach, das war ein Kerl! Dagegen wirkte Michael
Jackson glatt wie „das Bambi der Rockmusik“! So schrieb damals USA Today. Als Kompliment war es nicht
gedacht. Aber als Metapher für den Doppelsinn der Jacko-Figur trifft es genau
ins Schwarze.
Die
Probe aufs Exempel ist bestanden: Die Musik selbst bewährt den Charakter der „Figur“,
es ist nicht alles „nur Verpackung“. Den Ansprüchen, die sie an ihre Hörer
stellt, werden verschiedene Bevölkerungsgruppen in unterschiedlicher Weise
gerecht. Weiße Europäer haben es schwerer. Doch bevor Jacksons schwarzer Funk
auch dort anspruchsvolle Musik für jedermann werden konnte, ist er zunächst
einmal Musik für jedeskind. Es ist kein Zufall, daß es schwarze Musik in Form
von Jackson-Funk war, die zuerst zur Musiksprache der Kinder der Welt wurde: Es
ist eine fiebrige, nervöse, „schräge“ Musik, die weckt, aufkratzt, anspannt und
treibt; aber nicht volldröhnt und betäubt. Es ist Musik für einen Menschenschlag,
der nicht eine Minute stillsitzen kann, schon gar nicht mit dem Herzen und auch
nicht mit dem Kopf.
Was
ist nun aber das Aufreizende an dieser Musik? Es ist „dieser wunderbare Wechsel
von Enthusiasmus und Ironie“, um mit Friedrich Schlegel zu reden, dem Vordenker
der deutschen Romantik. „Ausgelassenheit auf der einen Seite und absolut zuverlässige
Sicherheit auf der anderen“; Pathos und Komik, Wildheit und Manier, Herz und
Spottlust, Tragik und Alberei, alles durcheinander. Eben: zwieschlächtig. In
Michael Jackson „vereinigen sich Unschuld und ausgekochter Professionalismus,
unverstellte Gefühlstiefe und ausgefuchste Kalkulation zu einem explosiven
Gemisch“, heißt es in Rowohlts
Rocklexikon. Unschuld und Kalkulation, wie geht das zusammen?
Nur
durch Ironie.
Ironie
kommt aus der Reflexion. Wie kann sie da naiv sein? Ist der Naive nicht gerade
der, der nicht reflektiert? Nein, der Naive ist einer, der reflektiert und
seine Unschuld doch nicht verliert. Er reflektiert, das kann er schon; aber
noch nicht auf seinen Vorteil (oder „Bedürfnis“, das ist dasselbe in grün). Das
ist naiv. Wer so reflektiert, ist - im Sinne der Lebensklugheit - ein Spinner
oder ein Trottel. Wenn er das weiß und sich trotzdem nicht bessert, ist er ein
Ironiker. Er weiß, daß das Wirkliche nicht das Wahre ist, und sagt: Pech für
das Wirkliche.
Ironie
ist, nach Schlegel, da, „wo der naive Tiefsinn den Schein des Verkehrten und
Verrückten oder des Einfältigen und Dummen durchschimmern läßt“. Das ist die
Charakteristik des frechen Bengels (in seinen besseren Momenten); es ist auch
die von Michael Jackson. Die Stimme des Wahren spricht nicht durch den
Verstand, sondern durchs Herz - das ist naiv. Nicht auf das Wahre reflektiert
der Naive, das braucht er nicht, denn es „zeigt sich“ von selbst. Auf das
Wirkliche reflektiert er, soweit es dem Wahren nicht gewachsen ist. Ironie ist
nicht der Gegensatz des Naiven, sondern die Bedingung für seinen Bestand.
Der
grundlegende Zwiespalt in Jacksons Performance stammt aus der ironischen
Verdoppelung des naiven kleinen Michael zur Kunstfigur Jacko. Die halten es
beieinander nicht aus und können voneinander nicht lassen. Ihr Widerstreit ist
sein Lebensthema und Leitmotiv seiner Kunst. „Er selbst ist das Werk und das
Werk ist er.“ Er ist das lebende Gesamtkunstwerk.
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