4. Zwischen den Stühlen.

oder 
Mit fünfzehn ein Oldie?

Have you seen my childhood?
 HIStory

Joe Jackson sah Michaels Solokarriere mit gemischten Gefühlen. Jeder Erfolg war ihm willkommen. Aber er mußte auch vorausdenken. Michael war das Zugpferd der J5, doch wenn er zu weit in den Vordergrund trat, würde dem Publikum auffallen, daß die andern Jacksons eigentlich nur gehobene Mittelklasse waren. Joe hatte bei Motown gerade solange eine starke Stellung, wie er die Familienband zusammenhielt. Sonst war er entbehrlich. Also drang er darauf, über Michaels Solokarriere nicht die J5 zu vernachlässigen. Und umsomehr ließ er den Jungen seine Geringschätzung spüren - er sollte nur nicht glauben, er könne es alleine zu was bringen: „You're all nuthin'!“

Motowns Kult um die schwarze Bilderbuch-Familie Jackson hatte prächtige Blüten getrieben. Am 20. September 1971 wurden die Jackson5 offiziell im Kongreß der Vereinigten Staaten geehrt. „Sie haben nur so zum Vergnügen mit dem Singen angefangen und wurden rund um Gary bald bekannt. Papa Joe, ein Kranfahrer, spielte Gitarre und schrieb Lieder, um sich von der Arbeit zu erholen. Ihre Mutter Katherine sang Blues, und als sie alt genug waren, nahmen auch die Kinder an den häuslichen Musik-Sessions teil. Wie Papa Joe sagt: ‚Es war fun, den Kids gefiel es, und es war ein gutes Mittel, sie zuhaus zu halten, statt daß sie sich auf den Straßen von Gary herumtrieben.'“

Motown hatte diese Karte zu reichlich gespielt, um sie jetzt fallenzulassen. Im Herbst 1971 startete im Fernsehen sogar eine Zeichentrick-Serie: The Jackson 5ive. Es sind ziemlich alberne Episoden mit J5-Musik im Hintergrund, und man würde besser gar nicht darüber reden, wäre sie nicht ein kultur- und sozialgeschichtliches Denkmal. Erst wenn man diese Serie kennt, ahnt man, warum die Amerikaner von Michael Jackson, im Guten wie im Bösen, nicht lassen können. Sie ist ein Zeugnis des Aufstiegs der schwarzen Rasse in den Vereinigten Staaten. Es war erst wenige Jahre her, daß mit Sidney Poitier und Dorothy Dandridge erstmals schwarze Schauspieler in Hollywood Hauptrollen spielen durften. Und jetzt sahen schwarze Kinder zum erstenmal Comic-Helden, die - aussahen wie sie selbst. Und erstmals konnten sich auch weiße Teenager mit schwarzen Kindern identifizieren! Das war völlig neu, und man merkt es noch heute an der Unfähigkeit der Zeichner, die Gesichter der Jackson-Brüder zu individualisieren. Die hatten soviel Mühe, überhaupt schwarze Gesichtszüge nachzuzeichnen, daß sie gerade noch für Jackies Hakennase ein paar Striche übrighatten, aber nichtmal mehr für cute little Michaels Sarottimohr-Gesichtchen. Mehr noch als ihre Platten, dokumentiert diese Serie den Beitrag, den die Jackson Five zum neuen Selbstgefühl der Afro-Amerikaner geleistet haben.

Michael war davon hingerissen, daß er sich jeden Samstagmorgen als Comicfigur im Fernsehen ansehen konnte. Der Kontrast zwischen jener reizenden Idylle und der Wirklichkeit im Hause Jackson kann dem intelligenten Jungen kaum verborgen geblieben sein: im Cartoon als süßer Engel und Tausendsassa verklärt und in seiner heimischen Wirklichkeit gekränkt und beschämt. Er lebte unter einer doppelten Botschaft: Du bist niemand; und: Du bist der Star. Das Familienleben der Jacksons fand auf zwei Etagen statt. Oben wurde gesungen und getanzt. Unten, im Keller, liegen etliche Leichen...

Es ist nicht leicht für ein Kind, in einer solchen Klemme sein Gleichgewicht zu halten und nicht den äußeren Widerspruch als innere Spaltung zu sich hereinzuholen. Der kleine Michael hat sich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen und - resolut für den schönen Schein der Kunst optiert.

Michael Jackson beschäftigt nicht bloß darum die Phantasie seiner Zeitgenossen, weil er der erfolgreichste Künstler aller Zeiten ist. Er macht auch sonst von sich reden - und auch die, die sich in erster Linie für seine Kunst interessieren, fragen sich, ob nicht das eine mit dem anderen zu tun hat. Natürlich: Der Künstler, der er ist, wäre er nicht geworden, wenn er ansonsten wäre wie die andern Leute. Da muß etwas passiert sein, das man keinem wünschen soll.

Nein, an dieser Stelle folgt keine psychographische Studie unter der Überschrift: ‚Seht her, so ist er‘. Wer kann schon sagen, wie einer „wirklich ist“? Wir alle stehen einander entweder zu nah oder zu fern, und jedem geht es mit sich selbst auch nicht besser. Sogar in der Psychiatrie stehen ja die Chancen, daß die Diagnose danebenhaut, halbe halbe. Was erwartet man also von einer Künstlerbiographie ? Die sogenannte Wahrheit von der Künstlerlegende scheiden zu wollen, wäre der Sache nicht einmal angemessen. Die Legende gehört selbst zum Kunstereignis. Kunst ist eben nicht „echt“, sondern - künstlich. Darum ist sie ja menschlicher als die Natur. Der Biograph kann nur das, was er selbst bemerkt hat, so nachzeichnen, daß auch andere es sehen können. Das ist nicht Abbildung, sondern Nacherfindung. Und wie jedes Bild, ist es selbst ein kleines bißchen „Kunst“.

In den Klatschblättern wird Michael Jackson mit Vorliebe als Exzentriker beschrieben, den immer wieder Depressionen niederdrücken, Angstattacken heimsuchen und psychosomatische Anfälle beuteln. An seinem öffentlichen Erscheinungsbild als leicht meschugger Neurotiker hat nicht zuletzt - er selber kunstsinnig mitgebastelt. Die Überdruckkammer, in der er angeblich schläft, um hundertfünfzig Jahre alt zu werden; das Bemühen, die Gebeine des „Elefantenmenschen“ John Merrick für seine Kuriositätensammlung zu erwerben; der Schrein, den er in seinem Keller für Elizabeth Taylor errichtet haben soll - das alles sind Zeitungsenten, die mit einiger Sicherheit vom Jackson-Management selber in die Welt gesetzt wurden, um ihm eine Aura des Bizarren und Rätselhaften zu schaffen. „Ob Sie's glauben oder nicht, sein Management wollte, daß die Geschichten über seine Schönheitsoperationen breitgetreten wurden! Die Idee, daß sich Michael jeder Menge Operationen unterzieht, um kindlicher und knabenhafter zu erscheinen, ist in seinem eigenen Lager aufgebracht worden“, behauptet Steve Coz, Redakteur beim Skandalblatt National Enquirer, und der kennt sich aus.

Sicher ist nicht alles PR-Bluff, was ihm den verhaßten Spitznamen Wacko Jacko eingetragen hat. Doch sollte man die Proportionen wahren.

Verzweiflung, Zeiten der Niedergeschlagenheit und übertriebene Gereiztheit gehören zum Leben jedes Kreativen. Solange er an seiner Sache arbeitet, ist alle Aufmerksamkeit nur ihr gewidmet, die ganze Energie in ihren Dienst gestellt. Ist das Ziel dann erreicht, tritt nicht nur Zufriedenheit ein. Die plötzlich verwaisten Lebensgeister kommen sich überflüssig vor, aber Ruhe geben können sie noch lange nicht. So mancher Künstler fällt, sobald er etwas vollbracht hat, in ein schwarzes Loch. Einige ergeben sich dem Suff, andere stürzen sich gleich in ihr nächstes ‚Werk‘. Darum wirken viele Künstler auf ihre Mitmenschen wie Besessene. Würde der Leser der Boulevardpresse Michael Jackson nicht mit sich und seinem Nachbarn, sondern mit anderen Künstlern vergleichen, käme er ihm vielleicht enttäuschend normal vor - was freilich auch nicht in Michaels Interesse läge.

Gibt es also gar nichts zu verstehen? Wenn nun eine gewisse Verschrobenheit zum Künstlertum mal dazugehört...? Doch. Das Künstlertum selbst ist zu verstehen. Einer wird verrückt, ein andrer wird ein Erfolgsmensch, jener wird zum Otto Normalverbraucher. Und einige werden Künstler. Wieso? Glaubt man nicht an Vererbung und auch sonst nicht an die Vorsehung (Michael Jackson sieht freilich überall die Hand seines Schöpfers - The Creator - am Werk, aber den stellt er sich als einen Künstler vor), muß man sich die unterschiedlichen Lebensläufe der Menschen wohl so deuten: Irgendwann schlägt jeder von uns, und sei's widerwillig und ohne es recht zu merken, einen Weg ein, den er dann einfachheitshalber und solange „es geht“, weiterläuft.

Schließlich ist dann die zurückgelegte Strecke so weit, daß man nicht mehr gut umkehren kann, selbst wenn man wollte. Was eigentlich ein selbstverfaßter Roman war, kommt uns im nachhinein als unser Schicksal vor.

Das Lebensalter, in dem solche Weichenstellungen typischerweise fallen, ist das, in dem sich unser kleiner Michael im Moment seiner ersten großen Erfolge befindet - im Augenblick des „Abschieds von der Kindheit“. Es ist die größte Krise im Leben eines jeden. Eine Krise auch in physiologischer Hinsicht, als Pubertät; aber nicht nur. Nicht einmal vor allem: Es ist eine Krise des ganzen Menschen. Bis dahin verstand sich die Welt von selbst. Alles, was war, war eben so und nicht anders. Doch plötzlich steht alles in Frage. Ist alles so, wie es ist, oder sieht es nur so aus? Könnte es nicht auch ganz anders sein? „Der Grundzug des Pubertätsalters“ sei, so schrieb der Kulturhistoriker Egon Friedell, „daß es fast jeden Menschen zum Dichter macht.“ Aber nur, weil die Selbstverständlichkeit dahin ist und alles in Zweifel gerät - nicht nur die Andern, sondern auch das Selbst: ein kritischer Zustand. Es ist ein Fegefeuer der Gedanken und der Gefühle. Der amerikanische Kinder- und Jugendpsychologe Erik Erikson hat geradezu von der „zweiten Geburt des Menschen“ gesprochen. („Werwolfjahre“ nennt Quincy Jones das bei seinen eigenen Kindern; er hat sieben.)

Der Zweifel, die Ungewißheit, das ‚Schweben‘ zwischen allen Möglichkeiten äußert sich aber, ach, vorzugsweise in Spottsucht, Frechheit und bösem Witz. „Das Kind muß unbedingt ironisches Kind sein“, liest man bei dem Romantiker Novalis; nämlich das Kind, das schon fast keins mehr ist. Es ist das Schwinden der Unschuld, doch auch der Anfang der Naivität, denn: „Das Naive ist eine Kindlichkeit, wo sie nicht mehr erwartet wird“, schrieb Friedrich Schiller.

Kein Kind mehr sein, oder doch nicht mehr so ganz, ist aber nicht nur eine Erweckung. Es ist auch eine Trauer. Denn jetzt wartet der „Ernst des Lebens“. Mit dem Spielen ist es jedenfalls vorbei. Man wird es ein Leben lang vermissen. Der Abschied von der Kindheit ist ein Hängen zwischen den Stühlen, eine ganze, kurze Existenz im Zwiespalt. Sonst wäre es ja nicht das produktivste Kapitel im Roman unseres Lebens.

Dem kleinen Michael ist der Abschied von der Kindheit erspart geblieben: Er hatte ja keine. Aber auch in dem Sinn, daß keiner so recht von ihm erwartet hat, „erwachsen“ zu werden. Zwar - daß das Leben kein Spaß, sondern nichts als Arbeit ist, das hat er schon immer gewußt. Jedenfalls kannte er es nicht anders. Doch seine Arbeit hatte etwas Besonderes. Hart, diszipliniert, penibel, perfekt; und doch war sie - Spiel!

Wir alle wollten im Ernst keine Kinder bleiben. Nichts hatten wir eiliger als erwachsenwerden. Daß wir uns deshalb auch gleich in ihren Ernst des Lebens fügen sollten, haben wir ihnen lange nicht abnehmen wollen, aber dann haben sie uns zur Vernunft gebracht. Und woraus besteht die? Daß wir den schönen Schein der Dinge nicht länger für das Wahre nehmen. Das Wahre der Dinge ist ihr Nutzen; wahr werden sie als Waren. Wir lernten, daß Schönheit allein keinem was nützt, und daß das Nützliche nun leider mal nicht immer auch schön sein kann. Diese Quintessenz der Erwachsenheit ist unserm Michael sein Lebtag nicht begegnet. Für ihn galt - und gilt - im Gegenteil: Nur wenn es schön ist, kannst du's verkaufen.

Daß er keine Kindheit hatte, die er hätte begraben müssen, disponierte ihn dazu, das Künstlertum zu seinem Lebensstil zu wählen. Daß er von Beruf Künstler war, erlaubte ihm, an seiner Kindheit hängen zu bleiben wie an einer offenen Wunde. Sich im Phantasieland seiner verlorenen Zeit häuslich einzurichten, erwies sich pragmatisch als eine zweckmäßige Option. Ein genialer Ausweg aus allen Dilemmen, und zugleich eine hoffnungslose Falle. 

Der Abschied von der Kindheit blieb ihm erspart, aber nicht die andern Fährnisse der Pubertät. Da war aber seine Karriere bereits in eine Krise geraten. Eigentlich war es die Krise der Jackson 5, die auch seine Solokarriere in Mitleidenschaft zog. Sein Album Ben, das im August 1972 ausgeliefert wurde, kam in den Pop-Charts auf einen stolzen fünften Platz. Aber im folgenden März war das neue J5-Album Skywriter herausgekommen und hatte in den Pop-Charts nur einen blamablen Platz 44 erreicht. Freilich nicht ganz unverdient. Die Songs sind nichtssagend, am besten ist immernoch das Titelstück - aber auch nur, weil es verdächtig nach Day Tripper von den Beatles klingt... Michaels dritte Solo-LP Music & Me, die im April folgt, kommt gar nur auf Platz 92 der Pop-Charts. Damit ist Michaels Solokarriere vorerst zuende. Und es kam noch schlimmer. Die neue J5-LP Get It Together vom September desselben Jahres erreicht nicht einmal mehr die Top 100. Ist die kaum drei Jahre alte Karriere der „schwarzen Beatles“, wie man die Jackson5 genannt hatte, schon wieder vorbei ?

Die Jacksons gaben die Schuld an ihrem Niedergang Motown und Berry Gordy. Sie wurden ständig unzufriedener mit seinem autokratischen Regiment. Er hatte immer recht, die Künstler hatten das zu tun, was seine Fachleute sich ausdachten. Aber er selbst interessierte sich kaum noch für das Plattengeschäft. Er hatte sich inzwischen ganz dem Film zugewandt, denn dafür war Motown schließlich nach Hollywood gegangen! Damals entstand Lady sings the blues, die Lebensgeschichte der legendären Sängerin Billy Holiday mit Diana Ross in der Hauptrolle. Das war's, was ihn beschäftigte. Aber nicht, daß er deshalb den Jacksons mehr Einfluß auf ihre Musik eingeräumt hätte ! So war aus Get It Together eine Anbiederung an die eben heißlaufende Disco-Mode geworden, die eigentlich unter Motowns musikalischem Niveau lag.

Die Krise der Jackson 5 fiel bei Michael in jene Zeit körperlicher Verunsicherungen, die wir immer zuerst mit dem Wort Pubertät verbinden. Das Erwachsenwerden mochte dem kleinen frontman der Jackson5 ja nicht gerade als eine lohnende Aufgabe erschienen sein. Aber klein bleiben möchte kein Junge. Doch Motown hatte andere Interessen. „Ich denke, mich hätten sie am liebsten ein paar Jahre jünger gehalten, um mich auch weiter als Kinderstar verkaufen zu können.“ Daß man ihn für die Öffentlichkeit so leicht um zwei Jahre jünger machen konnte, hatte einen ärgerlichen Grund: Er war viel zu klein für sein Alter, mit elf sah er wirklich noch aus wie neun. Entsprechend empfindlich war er in diesem Punkt. Noch in seiner Autobiographie erzählt er, wie sehr es ihn kränkte, wenn seine Brüder auf der Bühne bei dem Sly-Stone-Titel Stand! bei dem Vers „Da reckt ein Zwerg sich in die Höhe, und der Riese an seiner Seite kommt zu Fall“ - there's a midget standing tall, and the giant beside him 's about to fall - mit dem Finger auf ihn zeigten! Und tatsächlich: In der Plattenversion von Stand! wird die zweite Strophe denn auch nicht gesungen... Ach, endlich groß werden, sein eigener Herr sein - endlich control!

Diesen Kindertraum teilte Michael mit allen Kleinen. Aber wenn sich das Großwerden dann wirklich zeigt, welch ein Schreck! Zuerst meldet es sich nämlich in Gestalt von - Pickeln. „Meine Identität als Person war in großem Maße abhängig von meiner Identität als Künstler. Das größte Problem, mit dem ich als Teenager zu ringen hatte, war nicht die Arbeit im Aufnahmestudio oder auf der Bühne, sondern war - der Spiegel. Lange Zeit hatte mir jeder, den ich traf, erzählt, was für ein süßes Bübchen ich sei. Aber eines Morgen sah ich in den Spiegel und sagte nur noch: ‚Oh nein!‘ Jede Talgdrüse schien sich in einen Pickel verwandelt zu haben.“ Alle Jungen (und Mädchen) leiden fürchterlich unter ihrer Akne. Sicher, die Pickel sind scheußlich. Aber Eltern und Geschwistern kommt es immer so vor, als würde der Junge maßlos übertreiben. Und das tut er wirklich. Auf männliche Kanten im Gesicht hatte er gewartet, auf die ersten Barthaare. Und nun das! Aber im Entsetzen über die Pickel beweint man zugleich auch ein bißchen die schwindende Kindheit - ohne es sich eingestehen zu müssen. Sehr praktisch... Nur Michael Jackson konnte, wie wir sahen, diesen heimlichen Vorteil nicht aus seiner Akne ziehen. Daher war sein Entsetzen blank: Wie konnte er mit so einem Gesicht auf die Bühne treten ?

„Es machte mich so scheu! Ich vermied, mich anzuschauen, ich wusch mich im Dunkeln, um nicht in den Spiegel sehen zu müssen, und mein Vater hänselte mich und ich haßte das, ich weinte jeden Tag deshalb. Er sagte, ich sei häßlich.“ Schon immer hatte ihn Joe wegen seiner breiten Nase aufgezogen. Die Jacksons hatten (damals) alle große Nasen, aber Michael überbot sie. Als er klein war, war es ein putziger Knubbel, aber jetzt wurde eine unförmige Knolle daraus. Joe machte es Spaß, seinen Goldesel bignose zu rufen: Seine Bäume sollten nur nicht in den Himmel wachsen, ohne seinen Vater war er just nuthin'. „Ich wurde sehr scheu, und es war mir peinlich, unter Menschen zu gehen. Es schien so, als ob die Pickel umso schlimmer würden, je öfter ich in den Spiegel sah. Mein Anblick deprimierte mich. Die Wirkung war so schlimm, daß sie meine ganze Persönlichkeit verkorkste. Ich konnte den Leuten, mit denen ich redet, nicht mehr ins Gesicht sehen. Ich senkte den Blick oder sah zur Seite. Ich fand nichts mehr an mir, worauf ich stolz sein konnte, und ich mochte nicht mehr ausgehen. Ich tat überhaupt nichts mehr.“ Doch wenn er auf die Bühne trat, verwandelte er sich: „Dann dachte ich an nichts anderes mehr. Alle Sorgen verflogen. Sobald ich dann die Bühne verließ, wartete schon wieder der Spiegel auf mich.“

Mutter und Geschwister berichten, Michael habe sich in diesen Jahren aus einem lauten, fröhlichen Kind in einen verschlossenen Einzelgänger verwandelt. Doch sind wir in der Lage, wenigstens dies eine Mal die Legende von den Tatsachen zu scheiden. Ein Fernsehinterview mit dem zwölf-, dreizehnjährigen cute little Michael (ohne Pickel, mit niedlicher Knopfnase) zeigt uns ein ernstes, beklommenes Kind, das verlegen zu Boden schaut, dem Interviewer nur gelegentlich einen Blick von der Seite zuwerfend; das sich die Worte wie Würmer aus der Nase ziehen läßt und dem auf die Frage nach seinen Hobbys wirklich nichts anderes einfällt als „Schwimmen, äh; Baseball spielen“ - und Pause. Dann sowas wie ein Aufleuchten in den traurigen Augen: „Eidechsen fangen!“ Und während der ganzen Zeit tut er, was er noch heute tut, wenn er wieder verlegen ist, er drückt die Zungenspitze von innen gegen die Unterlippe... Es ist in Bild und Ton festgehalten: Michael Jackson mußte nicht auf Acne juvenilis warten, um schüchtern und menschenscheu zu werden. Er war es - buchstäblich – „von hause aus“.

Und außerdem schoß er natürlich in die Höhe. War er vorher zu klein für sein Alter, wurde er jetzt lang und dünn wie eine Bohnenstange. Das begann im Winter 1972/73, als er eben vierzehn war, zwischen Ben und Skywriter. Damals hatte er auch seinen Stimmbruch. Lachen Sie nicht, lieber Leser! Ja, im Ernst, Michael Jackson hatte einen Stimmbruch. Auf der von Motown 1995 herausgebrachten Anthologie The Best Of Michael Jackson finden sich die (zuvor unveröffentlichten) Stücke Love's Gone Bad und If'n I Was God, die zwischen November '72 und Mai '73 entstanden. Dazwischen liegt, deutlich hörbar, sein „Stimmbruch“. Oder, richtiger, die Mutation. Denn ein Bruch war es ja gerade nicht. War es die Kunstfertigkeit von Motowns Stimmbildnern oder war es „die Natur“ - jedenfalls klingt Michaels Stimme nachher, obwohl sie tiefer geworden und ein „schwarzes“ Kratzen hinzugekommen ist, kaum weniger hell als sein vormaliger Knabenalt. Es werden nicht einmal Unsicherheiten in der Intonation hörbar, er beherrscht seine Stimmbänder so virtuos wie je. Mit seiner dritten Solo-LP Music & Me versuchte Motown einen Trick, um Michaels „neue“ Stimme beim Publikum einzuführen. Um zwei Stücke, die noch vor dem Stimmbruch aufgenommen wurden (Too Young und Doggin' Around), gruppierten sie jeweils vier Stücke, die danach entstanden waren; aber sie ließen ihn so singen, „als ob“ es noch immer eine Knabenstimme sei - und er kann's! Sicher mußte er auch wieder zu hoch hinauf, aber das allein macht's nicht: Das Knabentimbre läßt sich nicht imitieren, das ist „echt“ und er hat es bis heute. Vielleicht hat der Mißerfolg von Music & Me damit zu tun, daßdas Publikum soviel Schweben zwischen den Stühlen damals nicht besonders geschätzt hat. Zehn Jahre später sollte es zur Wunderwaffe des größten Stars aller Zeiten werden.

Vorerst ging es weiter bergab mit den Jackson Five. Genauer gesagt, mit ihren Plattenverkäufen. Die Anziehungskraft ihrer öffentlichen Konzerte blieb dagegen ungebrochen. Das ganze Jahr 1973 füllen sie Stadien und Konzerthallen in Amerika, Australien und Neuseeland. Der Durchfall von Get It Together hat den Zulauf nicht gebremst. Allerdings war die Single-Auskoppelung Dancing Machine auf Platz zwei der Pop-Charts gelangt, und das Album, das im Pop-Register untergegangen war, kam in den Black Charts bis auf Platz eins. Der Grund liegt auf der Hand: Michael hatte für die öffentlichen Darbietungen einen neuen Tanzstil kreiert, den er Robot Dance nannte. Hatten im 18. Jahrhundert kunstvolle „Automaten“ den tanzenden Menschen imitiert, so imitierte nun Michael die tanzenden Puppen. Die neue Mode kam damals bis nach Europa. Dancing Machine war also wirklich eine Ausnahme, die die Regel bestätigte: Der Erfolg der Jackson Five beruhte nicht länger auf der (Motown-) Musik, sondern auf ihrer live performance. Motown nutzte den Erfolg von Dancing Machine, um mit diesem Titelsong ein weiteres Album zu lancieren, das im Oktober '74 immerhin auf Platz 16 der Pop-Charts kam.

Die Aussichten im Plattengeschäft waren trübe. Da traf Joe Jackson eine Entscheidung, die leicht zum Nagel am Sarg ihrer Karriere werden konnte. Er engagiert die Jackson5 im Frühjahr 1974 zu einer Cabaret-Show im MGM Grand Hotel in Las Vegas (und läßt diesmal auch den kleinen Bruder Randy und die Schwestern Rebbie, LaToya und sogar Janet mit auftreten.) Diese Shows sind ganz etwas anderes als ihre üblichen Konzerte. Das Publikum sind Touristen, die unterhalten werden wollen, ganz anspruchslos. Die wollen nichts Neues, nichts Besonderes, ganz im Gegenteil: Die wollen die juten ollen Kamellen, nach denen sie schon in ihrer Jugendmaienblüte getanzt haben. Diese Shows sind für den Künstler ganz ohne Risiko - er muß sich keine Mühe geben und verdient dabei mehr als sonstwo. Die Versuchung ist groß. Viele berühmte Entertainer und The King Elvis selbst haben sich hier künstlerisch ruiniert; nämlich auf ihrem Lorbeer zur Ruhe gelegt. War Michael Jackson mit seinen fünfzehn Lenzen nicht noch ein bißchen zu jung für einen Oldie?! Im nachhinein erinnert er sich aber gern an diese Auftritte. „Wir spielten nicht vor einem anspruchsvollen Konzertpublikum, das nur die aktuellen Hits und sonst nichts hören wollte. Wir waren für einen Moment von dem Druck befreit, uns ständig auf dem laufenden zu halten, was die Konkurrenz gerade trieb.“ Sie nutzten die Gelegenheit, in jede Show ein paar seelenvolle Balladen einzuflechten, mit denen Michael seine „neue Stimme“ unters Volk bringen konnte. „Mit fnfzehn mußte ich mir über sowas Gedanken machen.“ Dieser Junge kämpft dagegen an, zum alten Eisen geworfen zu werden, bevor er sich überhaupt rasieren muß.

Die Show in Las Vegas, die die Jacksons erstmals ohne Motown selber produziert hatten, wurde von der Kritik verrissen und vom Publikum bejubelt. „Als wir anfingen, war ich klein, hübsch und reizend“, erz„hlte Michael seinen Zuschauern (unter denen sich gelegentlich Elvis Presley mit seiner kleinen Tochter Lisa Marie befand), „jetzt bin ich groß, hübsch und reizend.“ Die Überlänge seiner Arme und Beine gaben seinen Bewegungen Eleganz und Grazie, für die das Beiwort „niedlich“ nicht mehr paßt; freilich auch eine gewisse, feine Komik. Wieder brachen sie Zuschauerrekorde. Es folgt im Sommer eine Tournee durch die Staaten, im Herbst gehts nach Südamerika, dann nach Japan, Hongkong, Australien und auf die Philippinen; zum Jahresende sind sie wieder im MGM Grand Hotel in Las Vegas.

Das gespannte Verhältnis zu Motown spitzt sich zu nach dem erneuten Mißerfolg von Michaels nächster LP Forever, Michael, die im Februar 1975 erschienen war. Sie bringt es zwar auf einen achtbaren zehnten Platz in den Black Charts; doch in den Pop Charts bleibt sie auf Platz 101 hängen. Für die Jacksons steht fest: Motown kann (oder will) nichts mehr für sie tun. Man schaut sich nach einem neuen Partner um. Der Medienkonzern CBS war in Las Vegas auf ihr komisches Talent aufmerksam geworden und plante eine comedy-Serie. Zu CBS gehörte das renommierte Plattenlabel Epic (bis heute Michaels Vertragsfirma). Es wird ein Vertrag ausgehandelt für später, wenn der Kontrakt mit Motown ausläuft.

Alle Motown-Stars haben sich irgendwann mit Berry Gordy überworfen, sogar Diana Ross. Stevie Wonder kündigte seinen Vertrag exakt an seinem 21. Geburtstag - dem Tag seine Volljährigkeit. Freilich kehrten fast alle früher oder später zurück. Die Gründe für das Zerwürfnis waren immer dieselben. Da waren die miserablen finanziellen Bedingungen, zu denen man bei Berry Gordy arbeitete. Die Verträge stammten aus der Zeit, als die Musiker noch unbekannt waren und froh sein konnten, wenn überhaupt einer mit ihnen abschloß. Wenn sie dann Erfolg hatten, weigerte sich Gordy, die Bedingungen zu ändern: Der Erfolg sei schließlich sein Verdienst... Dazu kam aber - und das gab für die Jacksons den Ausschlag - die herrische Art, mit der Gordy seinen Künstlern vorschrieb, welche Kunst sie machen durften. Die Sänger fühlten sich wie Laufburschen behandelt. Ein krasses Beispiel ist der Song I Saw It Through The Grapevine, Motowns größter Erfolg. Er war auch der größte Hit des später tragisch ums Leben gekommenen Marvin Gaye. Für den war er zunächst geschrieben worden. Aber Gordy wollte auf Nummer sicher gehn. Er gab es ersteinmal „auf Probe“ an seine Neuerwerbung Gladys Knight. Sie hatte, wie wir gehört haben, damit ihren Durchbruch (und war dabei im Regal den Jackson Five begegnet). Aber da nahm ihr Gordy das Stück einfach wieder weg und gab es an Marvin Gaye weiter.

Es hatte Michael schon immer gewurmt, daß er, als „der Kleinste“, bei Motown sowieso nichts zu sagen hatte. Er sprudelte über vor Einfällen, aber „wenn man jung ist und Ideen hat, halten einen die Leute oft nur für kindisch und töricht. Ich durfte nichts tun, weil ich jung war, und alle hielten meine Ideen für hirnrissig.“ Als er dreizehn war, bei den Aufnahmen zu Looking Through The Window, platzte ihm schließlich der Kragen. Er durfte nicht so singen, wie er wollte. „Ich meine, daß einem die Leute zuhören sollten, wenn man seinen Job beherrscht und den Durchblick hat, egal, wie alt man ist.“ Er lief zu Gordy und beschwerte sich. Der gab diesmal nach.

„Unsere Probleme mit Motown begannen um das Jahr 1974, als wir deutlich machten, daß wir unsere eigenen Songs schreiben und produzieren wollten.“ Einige Stars, wie Gaye und Wonder, hatten so etwas durchsetzen können. „Aber bei uns hat Motown keinen Zentimeter nachgegeben.“ Nicht nur war keine Rede von eigenen Songs: „Man verbot uns sogar, auch nur davon zu reden!“
Freddy Perren von The Corporation erinnert sich: „Zum Songwriter gehört ein gewisses Talent, und ich konnte sehen, daß es bei Michael da war. Aber Motown unterstützte das nicht bei ihren Sängern. Bei Motown war der Produzent König.“ Michael war so gekränkt, daß er bald alles Material, das Motown ihnen gab, innerlich ablehnte. Er wollte weg.

Allerdings war inzwischen eine Komplikation eingetreten. Jermaine Jackson hatte Berry Gordys Tochter Hazel geheiratet! In der Branche wurde getuschelt: „Jetzt gehören sie mit Haut und Haar zu Motown.“ Ein Bruch mit Motown, das war auch ein Bruch mit Jermaine... Man mußte mit Gordy reden, aber die Brüder drückten sich, und auch Joe traute sich nicht in die Höhle des Löwen. „Also lag es an mir, ein Treffen mit Berry Gordy zu arrangieren.“ Der sechzehnjährige Michael nahm die Geschäftsführung der Firma Jackson selbst in die Hand! „Es war der schwerste Gang meines Lebens, aber an dem Tag war ich ein Löwe.“ Sicher war es ein stürmische Begegnung. Michael hatte wohl auf eine Verständigung in letzter Minute gehofft, doch Gordy hat ein heftiges Temperament. An Verständigung war nach diesem Gespräch jedenfalls nicht mehr zu denken.

„Für einen Künstler ist es wichtig, stets die Kontrolle über sein Leben und seine Arbeit zu behalten. Wir hätten auch bei Motown bleiben können; aber dann wären wir in der Versenkung verschwunden.“ Das ist die Kehrseite von Michael Jacksons Jagd nach seiner versäumten Kindheit: der verbissene Kampf um control. Er wird ihm später den Ruf eines rüden Geschäftsmanns eintragen.

Nachdem Motown im Mai '75 das neue J5-Album Moving Violation herausgebracht hatte, verkündete Joe Jackson am 30. Juni den Wechsel der Jackson5 zu Epic Records. Doch war er vorher etwas zu zaghaft, ist er nun etwas zu kühn. Daß der Vertrag mit Motown erst im folgenden Frühjahr ausläuft, stört ihn nicht. Michael meint zwar, Vertrag sei Vertrag, aber Joe fühlt sich stark. So ist er völlig überrascht, daß Berry Gordy den Namen Jackson Five und die entsprechenden Logos schon 1973 heimlich für Motown hatte patentieren lassen - die Jacksons besaßen nicht einmal mehr ihren Namen! Es folgten jahrelange gerichtliche Auseinandersetzungen, die unterm Strich zugunsten von Gordy ausgingen.

Marlon übernahm Jermaines Part am Baß, und der kleine Randy rückte für Marlon nach. Die Gruppe hieß jetzt nur noch The Jacksons. Für Epics Chef Ron Alexenburg war der Deal mit der Familienband gar kein sicheres Geschft. Er hatte etwas riskiert. Das Talent der Brüder, ihre Songs selbst zu produzieren, war durchaus unbewiesen. Mehr als zwei eigene Stücke pro Album mochte auch Epic ihnen nicht zugestehen. Und vorsichtshalber setzte man ihnen das Produzentenduo Kenneth Gamble und Leonard Huff vor die Nase - die beiden Hauptvertreter des Philly Sound, der mit dem „Entschwärzen“ des Rhythm & Blues noch weiter gegangen war als Motown. ‚Schwarz‘ war an dieser Musik, die mittlerweile den Markt beherrschte, eigentlich nur noch der obligate Viervierteltakt mit dem schweren Taktteil auf der Eins. Der Philly-Sound hat der Seichtigkeit der Disco-Ära mit ihren monotonen Klimperrhythmen den Weg bereitet.

Im Juni '76 beginnt CBS die Ausstrahlung der Serie The Jacksons. Michael war unzufrieden. „Wir komplizierten unsere Lage, indem wie in der Sommerpause bei einer albernen TV-Serie mitmachten. Es war eine idiotische Entscheidung, und ich haßte jede Minute dieser Show.“ Er meinte, sie werde ihren Plattenverkäufen schaden: „Wir mußten lächerliche Kostüme anziehen und alberne Witze reißen, und das Geläächter kam vom Band.“ Keine Zeit, die Gesetze des für sie neuen Mediums TV zu studieren: „Wir mußten täglich drei neue Tanznummern einstudieren, immer mit dem Termin im Nacken.“ Und immer die Einschaltquoten vor Augen! „Die Leute sehen einen jede Woche, und schließlich kommt es ihnen vor, als würden sie dich schon viel zu gut kennen.“ Familiarity breeds contempt, heißt ein englisches Sprichwort: Zu große Vertrautheit führt zu Geringschätzung. „Man verliert in diesem Geschäft seine Identität. Das Rockmusiker-Image ist weg. Ich bin kein Komiker. Ich bin kein Showmaster. Ich bin Musiker.“

Zwar hatte die Serie Erfog bei den Zuschauern, aber Michael behielt recht: „Ich erinnere mich, daß wir nach unserer TV-Show vor halbleeren Sälen spielten.“ Dabei fiel ihm zum erstenmal im Leben der Auftrittt schwer: Jermaine war nicht mehr da. Immer hatte er mit seiner Baßgitarre links hinter ihm gestanden. „Ich war davon abhängig.“ Auf einmal fühlt sich Michael „auf der Bühne nackt.“ Und die Plattenverkäufe gingen nach der Serie wirklich zurück: „Es dauerte ein Weile, bis wir uns von diesem Rückschlag erholt hatten.“

Stilistisch brachte der Wechsel zum Philly Sound eine weitere Betonung des „weißen“ Elements, der melodischen Linie: Gamble und Huff  „brachten mich dahin, der Melodie mehr Aufmerksamkeit zu widmen.“ Daher ist jetzt die Orchestrierung nicht mehr „so bombastisch und überladen, wie es bei Motown der Fall gewesen wäre“. Das erste Album bei Epic erscheint im November '76 unter dem einfachen Titel The Jacksons. Es enthält die ersten selbstgemachten Songs der Jackson-Brüder: Blues Away von Michael und Style Of Life von Tito. Doch was Besonderes ist das nicht. Es ist Musik im Zug der Zeit. Und der heißt 1976: Disco. Die Jacksons kämpfen ums „berleben. Das sind keine brandneuen Enthusiasten, die von einer musikalischen Idee besessen sind. Hier ist eine am Markt etablierte Gruppe, die gegen den Abstieg kämpft. Das heißt, um Anschluß an den Trend.

Gibt es einen Titel, der charakteristisch wäre für die Disco-Ära? Man sucht vergeblich. Die erfolgreichste Platte dieser Zeit war bezeichnenderweise der Soundtrack zu einem Tanzfilm: Saturday Night Fever (von den BeeGees). Typisch für diese Musik sind die glatten Melodien, an denen das Ohr gleichsam ab- und ausrutscht; und zwar über einem einfältigen Beat, zu dem jedermann und jedefrau, ob begabt oder nicht, stundenlang soll abtanzen können, ohne hinhören zu müssen. Es ist Unterhaltungsmusik im strengsten Sinn des Wortes. Man erkennt es schon an den Titeln. So finden sich auf The Jacksons zum Beispiel: Enjoy Yourself; Think Happy; Good Times und Keep On Dancing...

In der Geschichte der Unterhaltungsmusik beobachtet man ein zyklisches Hin und Her von ‚schwarzem‘ und ‚weißem‘ Prinzip. Was Erfolg hat auf dem Unterhaltungsmarkt, darüber entscheiden letzten Endes nicht die Lautsprecherboxen und Kopfhörer, sondern die Tanzböden (auf Deutsch dancefloors). Es muß nicht jedes Stück tanzbar sein. Aber am Markt halten sich auf die Dauer nur jene, die den Dancefloor bedienen. Darum hatte ja die „schwarze“ Musik ins weiße Unterhaltungsgeschäft einbrechen können: wegen der rhythmischen Überlegenheit des R&B über den Singsang der Tin Pan Alley - jener New-Yorker Straße, wo die meisten Musikverlage saßen. Der Musikgeschmack ändert sich in dem Maße, wie sich die Zusammensetzung des Tanzboden-Publikums ändert. So machten die weißen High-School-Kids aus dem R&B den Rock'n'Roll. Die schwarzen Musiker zogen sich bald zurück und hinterließen ihm die Gitarre und den Blues. Nach und nach ermüdete die wilde Rhythmik zu einem monotonen, wennauch lauten Beat. Die britische Popmusik der sechziger Jahre erlöste den Rock'n'Roll aus seinem Siechtum. Die stilprägende Musik der Beatles war aber, trotz ihrer Herkunft vom R&B, porentief weiß. Die Melodie, der Song, den sie wieder zu Ehren brachten, verdrängte den schwarzen funk völlig. Der schließlich überwuchernde Rückgriff auf den klassischen europäischen Orchesterklang machte den weißen Sieg perfekt. Doch die Beatles verschwanden über Nacht. Plötzlich war der Äther voll ABBA. Die Erneuerer des R&B, die Soul-Funker James Brown und Sly Stone, bekamen ihre Chance auf dem Markt. Die Jackson5 haben ihren Teil beigetragen.

Daß dann aus dem Soul über den Philly Sound der Disco-Stil entstand, geht wiederum auf die Veränderungen der Tanzböden zurück. Es handelt sich um die Ausbildung neuer Formen öffentlicher Geselligkeit nach der kulturellen Gärung um das Jahr 1968. Seit es die Music Box gab, wurde in Bars und Cafés immer wieder auch zu Konservenmusik getanzt. Nicht immer war ja eine Live-Band zur Stelle. Aber daß riesige Säle, wahre Tanzpaläste extra zu dem Zweck eingerichtet wurden, daß Hunderte, vielleicht Tausende nach Plattenmusik tanzten, und womöglich die ganze Nacht durch, das war neu. Die ersten Diskotheken waren denn auch im 68er-Frankreich entstanden. Eine treibende Kraft war dabei die Gay community, die sich erstmals an die Öffentlichkeit wagte und nach eigenen Gesellungsformen suchte. Ein Gutteil der Disco-Ästhetik stammt daher. Für diese Art Vergnügen brauchte man allerdings Verschleiß-Musik. Man wollte tanzen, nicht hinhören. „Diese Musik war sehr anspruchslos, nur Fetzen von allem möglichen, inklusive meiner Musik, einfach übernommen und grob vereinfacht, besonders der Rhythmus“, schreibt James Brown. „Die Plattenfirmen waren natürlich begeistert von Disco, denn das war eine Musik für Produzenten. Für Disco brauchte man keine Künstler.“ Doch vor allem war Disco blütenweiß! Ihr Talmi-Schick war nicht eben billig. Schwarze konnten sich Disco nicht leisten. Die Rhythmik verblaßte.

Die musikalische Katastrophe der Disco-Ära wirft ihre Schatten bis heute. Es war im Jahr 1975, als in Brooklyn junge Schwarze, denen die Disco zu teuer war, erstmals den Einfall hatten, auf der Straße zu den herausfordernd simplen Baßläufen der Disco-Musik improvisierte Texte zu deklamieren. Das war die Geburtsstunde des Rap. (Beim herkömmlichen „Sprechgesang“ kommen dagegen Rhythmus und Melodie aus der Sprache.) Eigentlich ist der Rap eher ein literarisches Phänomen. Auf breiter Front eignet sich der schwarze Bevölkerungsteil künstlerisch ein Medium an, das ihm „von Hause aus“ nie so recht zugestanden hatte - die englische Sprache. Daß nicht alles Poesie ist, was da zustandekommt, zumal seit der komisch fröhliche Rap der ersten Stunde vom ganz-wichtigen Gangsta-Rap dieser Tage verdrängt wurde; und daß mit seinem heiseren Geschimpf das zwischendurch weiß gewordene Selbstmitleid des Blues in die schwarzen Seelen zurückkehrt - das mag man beklagen. Doch der Sprache wird es nicht schaden. Der Musik aber hat der Rap schon geschadet. Denn wie dem halb-schwarzen Philly-Sound die ganz blasse Disco-Musik, so folgte dem halbschwarzen Rap die urgermanische Techno-Welle als wohlverdiente Strafe auf dem Fuß.

Doch wir greifen vor.












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