Mit fünfzehn ein Oldie?
Have you seen my
childhood?
HIStory
Joe
Jackson sah Michaels Solokarriere mit gemischten Gefühlen. Jeder Erfolg war ihm
willkommen. Aber er mußte auch vorausdenken. Michael war das Zugpferd der J5,
doch wenn er zu weit in den Vordergrund trat, würde dem Publikum auffallen, daß
die andern Jacksons eigentlich nur gehobene Mittelklasse waren. Joe hatte bei
Motown gerade solange eine starke Stellung, wie er die Familienband
zusammenhielt. Sonst war er entbehrlich. Also drang er darauf, über Michaels
Solokarriere nicht die J5 zu vernachlässigen. Und umsomehr ließ er den Jungen
seine Geringschätzung spüren - er sollte nur nicht glauben, er könne es alleine
zu was bringen: „You're all nuthin'!“
Motowns
Kult um die schwarze Bilderbuch-Familie Jackson hatte prächtige Blüten
getrieben. Am 20. September 1971 wurden die Jackson5 offiziell im Kongreß der
Vereinigten Staaten geehrt. „Sie haben nur so zum Vergnügen mit dem Singen
angefangen und wurden rund um Gary bald bekannt. Papa Joe, ein Kranfahrer,
spielte Gitarre und schrieb Lieder, um sich von der Arbeit zu erholen. Ihre
Mutter Katherine sang Blues, und als sie alt genug waren, nahmen auch die
Kinder an den häuslichen Musik-Sessions teil. Wie Papa Joe sagt: ‚Es war fun, den Kids gefiel es, und es war ein
gutes Mittel, sie zuhaus zu halten, statt daß sie sich auf den Straßen von Gary
herumtrieben.'“
Motown
hatte diese Karte zu reichlich gespielt, um sie jetzt fallenzulassen. Im Herbst
1971 startete im Fernsehen sogar eine Zeichentrick-Serie: The Jackson 5ive. Es sind ziemlich alberne Episoden mit J5-Musik im
Hintergrund, und man würde besser gar nicht darüber reden, wäre sie nicht ein
kultur- und sozialgeschichtliches Denkmal. Erst wenn man diese Serie kennt,
ahnt man, warum die Amerikaner von Michael Jackson, im Guten wie im Bösen,
nicht lassen können. Sie ist ein Zeugnis des Aufstiegs der schwarzen Rasse in
den Vereinigten Staaten. Es war erst wenige Jahre her, daß mit Sidney Poitier
und Dorothy Dandridge erstmals schwarze Schauspieler in Hollywood Hauptrollen
spielen durften. Und jetzt sahen schwarze Kinder zum erstenmal Comic-Helden,
die - aussahen wie sie selbst. Und erstmals konnten sich auch weiße Teenager
mit schwarzen Kindern identifizieren! Das war völlig neu, und man merkt es noch
heute an der Unfähigkeit der Zeichner, die Gesichter der Jackson-Brüder zu individualisieren.
Die hatten soviel Mühe, überhaupt schwarze Gesichtszüge nachzuzeichnen, daß sie
gerade noch für Jackies Hakennase ein paar Striche übrighatten, aber nichtmal
mehr für cute little Michaels
Sarottimohr-Gesichtchen. Mehr noch als ihre Platten, dokumentiert diese Serie
den Beitrag, den die Jackson Five zum neuen Selbstgefühl der Afro-Amerikaner
geleistet haben.
Michael
war davon hingerissen, daß er sich jeden Samstagmorgen als Comicfigur im
Fernsehen ansehen konnte. Der Kontrast zwischen jener reizenden Idylle und der
Wirklichkeit im Hause Jackson kann dem intelligenten Jungen kaum verborgen
geblieben sein: im Cartoon als süßer Engel und Tausendsassa verklärt und in
seiner heimischen Wirklichkeit gekränkt und beschämt. Er lebte unter einer
doppelten Botschaft: Du bist niemand; und: Du bist der Star. Das Familienleben
der Jacksons fand auf zwei Etagen statt. Oben wurde gesungen und getanzt.
Unten, im Keller, liegen etliche Leichen...
Es
ist nicht leicht für ein Kind, in einer solchen Klemme sein Gleichgewicht zu
halten und nicht den äußeren Widerspruch als innere Spaltung zu sich hereinzuholen.
Der kleine Michael hat sich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf
gezogen und - resolut für den schönen Schein der Kunst optiert.
Michael
Jackson beschäftigt nicht bloß darum die Phantasie seiner Zeitgenossen, weil er
der erfolgreichste Künstler aller Zeiten ist. Er macht auch sonst von sich
reden - und auch die, die sich in erster Linie für seine Kunst interessieren,
fragen sich, ob nicht das eine mit dem anderen zu tun hat. Natürlich: Der Künstler,
der er ist, wäre er nicht geworden, wenn er ansonsten wäre wie die andern
Leute. Da muß etwas passiert sein, das man keinem wünschen soll.
Nein,
an dieser Stelle folgt keine psychographische Studie unter der Überschrift: ‚Seht
her, so ist er‘. Wer kann schon sagen, wie einer „wirklich ist“? Wir alle
stehen einander entweder zu nah oder zu fern, und jedem geht es mit sich selbst
auch nicht besser. Sogar in der Psychiatrie stehen ja die Chancen, daß die
Diagnose danebenhaut, halbe halbe. Was erwartet man also von einer Künstlerbiographie
? Die sogenannte Wahrheit von der Künstlerlegende scheiden zu wollen, wäre der
Sache nicht einmal angemessen. Die Legende gehört selbst zum Kunstereignis.
Kunst ist eben nicht „echt“, sondern - künstlich. Darum ist sie ja menschlicher
als die Natur. Der Biograph kann nur das, was er selbst bemerkt hat, so
nachzeichnen, daß auch andere es sehen können. Das ist nicht Abbildung, sondern
Nacherfindung. Und wie jedes Bild, ist es selbst ein kleines bißchen „Kunst“.
In
den Klatschblättern wird Michael Jackson mit Vorliebe als Exzentriker
beschrieben, den immer wieder Depressionen niederdrücken, Angstattacken
heimsuchen und psychosomatische Anfälle beuteln. An seinem öffentlichen
Erscheinungsbild als leicht meschugger Neurotiker hat nicht zuletzt - er selber
kunstsinnig mitgebastelt. Die Überdruckkammer, in der er angeblich schläft, um
hundertfünfzig Jahre alt zu werden; das Bemühen, die Gebeine des „Elefantenmenschen“
John Merrick für seine Kuriositätensammlung zu erwerben; der Schrein, den er in
seinem Keller für Elizabeth Taylor errichtet haben soll - das alles sind
Zeitungsenten, die mit einiger Sicherheit vom Jackson-Management selber in die
Welt gesetzt wurden, um ihm eine Aura des Bizarren und Rätselhaften zu
schaffen. „Ob Sie's glauben oder nicht, sein Management wollte, daß die
Geschichten über seine Schönheitsoperationen breitgetreten wurden! Die Idee, daß
sich Michael jeder Menge Operationen unterzieht, um kindlicher und knabenhafter
zu erscheinen, ist in seinem eigenen Lager aufgebracht worden“, behauptet Steve
Coz, Redakteur beim Skandalblatt National
Enquirer, und der kennt sich aus.
Sicher
ist nicht alles PR-Bluff, was ihm den verhaßten Spitznamen Wacko Jacko eingetragen hat. Doch sollte man die Proportionen
wahren.
Verzweiflung,
Zeiten der Niedergeschlagenheit und übertriebene Gereiztheit gehören zum Leben
jedes Kreativen. Solange er an seiner Sache arbeitet, ist alle Aufmerksamkeit
nur ihr gewidmet, die ganze Energie in ihren Dienst gestellt. Ist das Ziel dann
erreicht, tritt nicht nur Zufriedenheit ein. Die plötzlich verwaisten
Lebensgeister kommen sich überflüssig vor, aber Ruhe geben können sie noch
lange nicht. So mancher Künstler fällt, sobald er etwas vollbracht hat, in ein
schwarzes Loch. Einige ergeben sich dem Suff, andere stürzen sich gleich in ihr
nächstes ‚Werk‘. Darum wirken viele Künstler auf ihre Mitmenschen wie
Besessene. Würde der Leser der Boulevardpresse Michael Jackson nicht mit sich
und seinem Nachbarn, sondern mit anderen Künstlern vergleichen, käme er ihm
vielleicht enttäuschend normal vor - was freilich auch nicht in Michaels
Interesse läge.
Gibt
es also gar nichts zu verstehen? Wenn nun eine gewisse Verschrobenheit zum Künstlertum
mal dazugehört...? Doch. Das Künstlertum selbst ist zu verstehen. Einer wird
verrückt, ein andrer wird ein Erfolgsmensch, jener wird zum Otto Normalverbraucher.
Und einige werden Künstler. Wieso? Glaubt man nicht an Vererbung und auch sonst
nicht an die Vorsehung (Michael Jackson sieht freilich überall die Hand seines
Schöpfers - The Creator - am Werk, aber
den stellt er sich als einen Künstler vor), muß man sich die unterschiedlichen
Lebensläufe der Menschen wohl so deuten: Irgendwann schlägt jeder von uns, und
sei's widerwillig und ohne es recht zu merken, einen Weg ein, den er dann
einfachheitshalber und solange „es geht“, weiterläuft.
Schließlich
ist dann die zurückgelegte Strecke so weit, daß man nicht mehr gut umkehren
kann, selbst wenn man wollte. Was eigentlich ein selbstverfaßter Roman war,
kommt uns im nachhinein als unser Schicksal vor.
Das
Lebensalter, in dem solche Weichenstellungen typischerweise fallen, ist das, in
dem sich unser kleiner Michael im Moment seiner ersten großen Erfolge befindet
- im Augenblick des „Abschieds von der Kindheit“. Es ist die größte Krise im
Leben eines jeden. Eine Krise auch in physiologischer Hinsicht, als Pubertät;
aber nicht nur. Nicht einmal vor allem: Es ist eine Krise des ganzen Menschen.
Bis dahin verstand sich die Welt von selbst. Alles, was war, war eben so und
nicht anders. Doch plötzlich steht alles in Frage. Ist alles so, wie es ist,
oder sieht es nur so aus? Könnte es nicht auch ganz anders sein? „Der Grundzug
des Pubertätsalters“ sei, so schrieb der Kulturhistoriker Egon Friedell, „daß
es fast jeden Menschen zum Dichter macht.“ Aber nur, weil die Selbstverständlichkeit
dahin ist und alles in Zweifel gerät - nicht nur die Andern, sondern auch das
Selbst: ein kritischer Zustand. Es ist ein Fegefeuer der Gedanken und der Gefühle.
Der amerikanische Kinder- und Jugendpsychologe Erik Erikson hat geradezu von
der „zweiten Geburt des Menschen“ gesprochen. („Werwolfjahre“ nennt Quincy
Jones das bei seinen eigenen Kindern; er hat sieben.)
Der
Zweifel, die Ungewißheit, das ‚Schweben‘ zwischen allen Möglichkeiten äußert
sich aber, ach, vorzugsweise in Spottsucht, Frechheit und bösem Witz. „Das Kind
muß unbedingt ironisches Kind sein“, liest man bei dem Romantiker Novalis; nämlich
das Kind, das schon fast keins mehr ist. Es ist das Schwinden der Unschuld,
doch auch der Anfang der Naivität, denn: „Das Naive ist eine Kindlichkeit, wo
sie nicht mehr erwartet wird“, schrieb Friedrich Schiller.
Kein
Kind mehr sein, oder doch nicht mehr so ganz, ist aber nicht nur eine
Erweckung. Es ist auch eine Trauer. Denn jetzt wartet der „Ernst des Lebens“.
Mit dem Spielen ist es jedenfalls vorbei. Man wird es ein Leben lang vermissen.
Der Abschied von der Kindheit ist ein Hängen zwischen den Stühlen, eine ganze,
kurze Existenz im Zwiespalt. Sonst wäre es ja nicht das produktivste Kapitel im
Roman unseres Lebens.
Dem
kleinen Michael ist der Abschied von der Kindheit erspart geblieben: Er hatte
ja keine. Aber auch in dem Sinn, daß keiner so recht von ihm erwartet hat, „erwachsen“
zu werden. Zwar - daß das Leben kein Spaß, sondern nichts als Arbeit ist, das
hat er schon immer gewußt. Jedenfalls kannte er es nicht anders. Doch seine
Arbeit hatte etwas Besonderes. Hart, diszipliniert, penibel, perfekt; und doch
war sie - Spiel!
Wir
alle wollten im Ernst keine Kinder bleiben. Nichts hatten wir eiliger als
erwachsenwerden. Daß wir uns deshalb auch gleich in ihren Ernst des Lebens fügen
sollten, haben wir ihnen lange nicht abnehmen wollen, aber dann haben sie uns
zur Vernunft gebracht. Und woraus besteht die? Daß wir den schönen Schein der
Dinge nicht länger für das Wahre nehmen. Das Wahre der Dinge ist ihr Nutzen;
wahr werden sie als Waren. Wir lernten, daß Schönheit allein keinem was nützt,
und daß das Nützliche nun leider mal nicht immer auch schön sein kann. Diese
Quintessenz der Erwachsenheit ist unserm Michael sein Lebtag nicht begegnet. Für
ihn galt - und gilt - im Gegenteil: Nur wenn es schön ist, kannst du's
verkaufen.
Daß
er keine Kindheit hatte, die er hätte begraben müssen, disponierte ihn dazu,
das Künstlertum zu seinem Lebensstil zu wählen. Daß er von Beruf Künstler war,
erlaubte ihm, an seiner Kindheit hängen zu bleiben wie an einer offenen Wunde.
Sich im Phantasieland seiner verlorenen Zeit häuslich einzurichten, erwies sich
pragmatisch als eine zweckmäßige Option. Ein genialer Ausweg aus allen
Dilemmen, und zugleich eine hoffnungslose Falle.
Der
Abschied von der Kindheit blieb ihm erspart, aber nicht die andern Fährnisse
der Pubertät. Da war aber seine Karriere bereits in eine Krise geraten.
Eigentlich war es die Krise der Jackson 5, die auch seine Solokarriere in Mitleidenschaft
zog. Sein Album Ben, das im August
1972 ausgeliefert wurde, kam in den Pop-Charts auf einen stolzen fünften Platz.
Aber im folgenden März war das neue J5-Album Skywriter herausgekommen und hatte in den Pop-Charts nur einen
blamablen Platz 44 erreicht. Freilich nicht ganz unverdient. Die Songs sind
nichtssagend, am besten ist immernoch das Titelstück - aber auch nur, weil es
verdächtig nach Day Tripper von den
Beatles klingt... Michaels dritte Solo-LP Music
& Me, die im April folgt, kommt gar nur auf Platz 92 der Pop-Charts.
Damit ist Michaels Solokarriere vorerst zuende. Und es kam noch schlimmer. Die
neue J5-LP Get It Together vom
September desselben Jahres erreicht nicht einmal mehr die Top 100. Ist die kaum
drei Jahre alte Karriere der „schwarzen Beatles“, wie man die Jackson5 genannt
hatte, schon wieder vorbei ?
Die
Jacksons gaben die Schuld an ihrem Niedergang Motown und Berry Gordy. Sie
wurden ständig unzufriedener mit seinem autokratischen Regiment. Er hatte immer
recht, die Künstler hatten das zu tun, was seine Fachleute sich ausdachten.
Aber er selbst interessierte sich kaum noch für das Plattengeschäft. Er hatte
sich inzwischen ganz dem Film zugewandt, denn dafür war Motown schließlich nach
Hollywood gegangen! Damals entstand Lady
sings the blues, die Lebensgeschichte der legendären Sängerin Billy Holiday
mit Diana Ross in der Hauptrolle. Das war's, was ihn beschäftigte. Aber nicht,
daß er deshalb den Jacksons mehr Einfluß auf ihre Musik eingeräumt hätte ! So
war aus Get It Together eine Anbiederung
an die eben heißlaufende Disco-Mode geworden, die eigentlich unter Motowns
musikalischem Niveau lag.
Die
Krise der Jackson 5 fiel bei Michael in jene Zeit körperlicher
Verunsicherungen, die wir immer zuerst mit dem Wort Pubertät verbinden. Das
Erwachsenwerden mochte dem kleinen frontman
der Jackson5 ja nicht gerade als eine lohnende Aufgabe erschienen sein. Aber
klein bleiben möchte kein Junge. Doch Motown hatte andere Interessen. „Ich
denke, mich hätten sie am liebsten ein paar Jahre jünger gehalten, um mich auch
weiter als Kinderstar verkaufen zu können.“ Daß man ihn für die Öffentlichkeit
so leicht um zwei Jahre jünger machen konnte, hatte einen ärgerlichen Grund: Er
war viel zu klein für sein Alter, mit elf sah er wirklich noch aus wie neun.
Entsprechend empfindlich war er in diesem Punkt. Noch in seiner Autobiographie
erzählt er, wie sehr es ihn kränkte, wenn seine Brüder auf der Bühne bei dem
Sly-Stone-Titel Stand! bei dem Vers „Da
reckt ein Zwerg sich in die Höhe, und der Riese an seiner Seite kommt zu Fall“
- there's a midget standing tall, and the
giant beside him 's about to fall - mit dem Finger auf ihn zeigten! Und
tatsächlich: In der Plattenversion von Stand!
wird die zweite Strophe denn auch nicht gesungen... Ach, endlich groß werden,
sein eigener Herr sein - endlich control!
Diesen
Kindertraum teilte Michael mit allen Kleinen. Aber wenn sich das Großwerden
dann wirklich zeigt, welch ein Schreck! Zuerst meldet es sich nämlich in
Gestalt von - Pickeln. „Meine Identität als Person war in großem Maße abhängig
von meiner Identität als Künstler. Das größte Problem, mit dem ich als Teenager
zu ringen hatte, war nicht die Arbeit im Aufnahmestudio oder auf der Bühne,
sondern war - der Spiegel. Lange Zeit hatte mir jeder, den ich traf, erzählt,
was für ein süßes Bübchen ich sei. Aber eines Morgen sah ich in den Spiegel und
sagte nur noch: ‚Oh nein!‘ Jede Talgdrüse schien sich in einen Pickel
verwandelt zu haben.“ Alle Jungen (und Mädchen) leiden fürchterlich unter ihrer
Akne. Sicher, die Pickel sind scheußlich. Aber Eltern und Geschwistern kommt es
immer so vor, als würde der Junge maßlos übertreiben. Und das tut er wirklich.
Auf männliche Kanten im Gesicht hatte er gewartet, auf die ersten Barthaare.
Und nun das! Aber im Entsetzen über die Pickel beweint man zugleich auch ein bißchen
die schwindende Kindheit - ohne es sich eingestehen zu müssen. Sehr
praktisch... Nur Michael Jackson konnte, wie wir sahen, diesen heimlichen
Vorteil nicht aus seiner Akne ziehen. Daher war sein Entsetzen blank: Wie
konnte er mit so einem Gesicht auf die Bühne treten ?
„Es
machte mich so scheu! Ich vermied, mich anzuschauen, ich wusch mich im Dunkeln,
um nicht in den Spiegel sehen zu müssen, und mein Vater hänselte mich und ich
haßte das, ich weinte jeden Tag deshalb. Er sagte, ich sei häßlich.“ Schon
immer hatte ihn Joe wegen seiner breiten Nase aufgezogen. Die Jacksons hatten
(damals) alle große Nasen, aber Michael überbot sie. Als er klein war, war es
ein putziger Knubbel, aber jetzt wurde eine unförmige Knolle daraus. Joe machte
es Spaß, seinen Goldesel bignose zu rufen:
Seine Bäume sollten nur nicht in den Himmel wachsen, ohne seinen Vater war er just nuthin'. „Ich wurde sehr scheu, und
es war mir peinlich, unter Menschen zu gehen. Es schien so, als ob die Pickel
umso schlimmer würden, je öfter ich in den Spiegel sah. Mein Anblick deprimierte
mich. Die Wirkung war so schlimm, daß sie meine ganze Persönlichkeit
verkorkste. Ich konnte den Leuten, mit denen ich redet, nicht mehr ins Gesicht
sehen. Ich senkte den Blick oder sah zur Seite. Ich fand nichts mehr an mir,
worauf ich stolz sein konnte, und ich mochte nicht mehr ausgehen. Ich tat überhaupt
nichts mehr.“ Doch wenn er auf die Bühne trat, verwandelte er sich: „Dann
dachte ich an nichts anderes mehr. Alle Sorgen verflogen. Sobald ich dann die Bühne
verließ, wartete schon wieder der Spiegel auf mich.“
Mutter
und Geschwister berichten, Michael habe sich in diesen Jahren aus einem lauten,
fröhlichen Kind in einen verschlossenen Einzelgänger verwandelt. Doch sind wir
in der Lage, wenigstens dies eine Mal die Legende von den Tatsachen zu
scheiden. Ein Fernsehinterview mit dem zwölf-, dreizehnjährigen cute little Michael (ohne Pickel, mit
niedlicher Knopfnase) zeigt uns ein ernstes, beklommenes Kind, das verlegen zu
Boden schaut, dem Interviewer nur gelegentlich einen Blick von der Seite
zuwerfend; das sich die Worte wie Würmer aus der Nase ziehen läßt und dem auf
die Frage nach seinen Hobbys wirklich nichts anderes einfällt als „Schwimmen, äh;
Baseball spielen“ - und Pause. Dann sowas wie ein Aufleuchten in den traurigen
Augen: „Eidechsen fangen!“ Und während der ganzen Zeit tut er, was er noch
heute tut, wenn er wieder verlegen ist, er drückt die Zungenspitze von innen
gegen die Unterlippe... Es ist in Bild und Ton festgehalten: Michael Jackson mußte
nicht auf Acne juvenilis warten, um
schüchtern und menschenscheu zu werden. Er war es - buchstäblich – „von hause
aus“.
Und
außerdem schoß er natürlich in die Höhe. War er vorher zu klein für sein Alter,
wurde er jetzt lang und dünn wie eine Bohnenstange. Das begann im Winter
1972/73, als er eben vierzehn war, zwischen Ben
und Skywriter. Damals hatte er auch
seinen Stimmbruch. Lachen Sie nicht, lieber Leser! Ja, im Ernst, Michael Jackson
hatte einen Stimmbruch. Auf der von Motown 1995 herausgebrachten Anthologie The Best Of Michael Jackson finden sich
die (zuvor unveröffentlichten) Stücke Love's
Gone Bad und If'n I Was God, die
zwischen November '72 und Mai '73 entstanden. Dazwischen liegt, deutlich hörbar,
sein „Stimmbruch“. Oder, richtiger, die Mutation. Denn ein Bruch war es ja
gerade nicht. War es die Kunstfertigkeit von Motowns Stimmbildnern oder war es „die
Natur“ - jedenfalls klingt Michaels Stimme nachher, obwohl sie tiefer geworden
und ein „schwarzes“ Kratzen hinzugekommen ist, kaum weniger hell als sein
vormaliger Knabenalt. Es werden nicht einmal Unsicherheiten in der Intonation hörbar,
er beherrscht seine Stimmbänder so virtuos wie je. Mit seiner dritten Solo-LP Music & Me versuchte Motown einen
Trick, um Michaels „neue“ Stimme beim Publikum einzuführen. Um zwei Stücke, die
noch vor dem Stimmbruch aufgenommen wurden (Too
Young und Doggin' Around),
gruppierten sie jeweils vier Stücke, die danach entstanden waren; aber sie ließen
ihn so singen, „als ob“ es noch immer eine Knabenstimme sei - und er kann's!
Sicher mußte er auch wieder zu hoch hinauf, aber das allein macht's nicht: Das
Knabentimbre läßt sich nicht imitieren, das ist „echt“ und er hat es bis heute.
Vielleicht hat der Mißerfolg von Music
& Me damit zu tun, daßdas Publikum soviel Schweben zwischen den Stühlen
damals nicht besonders geschätzt hat. Zehn Jahre später sollte es zur
Wunderwaffe des größten Stars aller Zeiten werden.
Vorerst
ging es weiter bergab mit den Jackson Five. Genauer gesagt, mit ihren Plattenverkäufen.
Die Anziehungskraft ihrer öffentlichen Konzerte blieb dagegen ungebrochen. Das
ganze Jahr 1973 füllen sie Stadien und Konzerthallen in Amerika, Australien und
Neuseeland. Der Durchfall von Get It
Together hat den Zulauf nicht gebremst. Allerdings war die
Single-Auskoppelung Dancing Machine
auf Platz zwei der Pop-Charts gelangt, und das Album, das im Pop-Register
untergegangen war, kam in den Black Charts bis auf Platz eins. Der Grund liegt
auf der Hand: Michael hatte für die öffentlichen Darbietungen einen neuen
Tanzstil kreiert, den er Robot Dance
nannte. Hatten im 18. Jahrhundert kunstvolle „Automaten“ den tanzenden Menschen
imitiert, so imitierte nun Michael die tanzenden Puppen. Die neue Mode kam
damals bis nach Europa. Dancing Machine
war also wirklich eine Ausnahme, die die Regel bestätigte: Der Erfolg der
Jackson Five beruhte nicht länger auf der (Motown-) Musik, sondern auf ihrer live performance. Motown nutzte den
Erfolg von Dancing Machine, um mit
diesem Titelsong ein weiteres Album zu lancieren, das im Oktober '74 immerhin
auf Platz 16 der Pop-Charts kam.
Die
Aussichten im Plattengeschäft waren trübe. Da traf Joe Jackson eine
Entscheidung, die leicht zum Nagel am Sarg ihrer Karriere werden konnte. Er
engagiert die Jackson5 im Frühjahr 1974 zu einer Cabaret-Show im MGM Grand Hotel in Las Vegas (und läßt
diesmal auch den kleinen Bruder Randy und die Schwestern Rebbie, LaToya und
sogar Janet mit auftreten.) Diese Shows sind ganz etwas anderes als ihre üblichen
Konzerte. Das Publikum sind Touristen, die unterhalten werden wollen, ganz
anspruchslos. Die wollen nichts Neues, nichts Besonderes, ganz im Gegenteil:
Die wollen die juten ollen Kamellen,
nach denen sie schon in ihrer Jugendmaienblüte getanzt haben. Diese Shows sind
für den Künstler ganz ohne Risiko - er muß sich keine Mühe geben und verdient
dabei mehr als sonstwo. Die Versuchung ist groß. Viele berühmte Entertainer und
The King Elvis selbst haben sich hier
künstlerisch ruiniert; nämlich auf ihrem Lorbeer zur Ruhe gelegt. War Michael
Jackson mit seinen fünfzehn Lenzen nicht noch ein bißchen zu jung für einen
Oldie?! Im nachhinein erinnert er sich aber gern an diese Auftritte. „Wir
spielten nicht vor einem anspruchsvollen Konzertpublikum, das nur die aktuellen
Hits und sonst nichts hören wollte. Wir waren für einen Moment von dem Druck
befreit, uns ständig auf dem laufenden zu halten, was die Konkurrenz gerade
trieb.“ Sie nutzten die Gelegenheit, in jede Show ein paar seelenvolle Balladen
einzuflechten, mit denen Michael seine „neue Stimme“ unters Volk bringen
konnte. „Mit fnfzehn mußte ich mir über sowas
Gedanken machen.“ Dieser Junge kämpft dagegen an, zum alten Eisen geworfen zu
werden, bevor er sich überhaupt rasieren muß.
Die
Show in Las Vegas, die die Jacksons erstmals ohne Motown selber produziert
hatten, wurde von der Kritik verrissen und vom Publikum bejubelt. „Als wir
anfingen, war ich klein, hübsch und reizend“, erz„hlte Michael seinen
Zuschauern (unter denen sich gelegentlich Elvis Presley mit seiner kleinen
Tochter Lisa Marie befand), „jetzt bin ich groß, hübsch und reizend.“ Die Überlänge
seiner Arme und Beine gaben seinen Bewegungen Eleganz und Grazie, für die das
Beiwort „niedlich“ nicht mehr paßt; freilich auch eine gewisse, feine Komik.
Wieder brachen sie Zuschauerrekorde. Es folgt im Sommer eine Tournee durch die
Staaten, im Herbst gehts nach Südamerika, dann nach Japan, Hongkong, Australien
und auf die Philippinen; zum Jahresende sind sie wieder im MGM Grand Hotel in Las Vegas.
Das
gespannte Verhältnis zu Motown spitzt sich zu nach dem erneuten Mißerfolg von
Michaels nächster LP Forever, Michael,
die im Februar 1975 erschienen war. Sie bringt es zwar auf einen achtbaren zehnten
Platz in den Black Charts; doch in den Pop Charts bleibt sie auf Platz 101 hängen.
Für die Jacksons steht fest: Motown kann (oder will) nichts mehr für sie tun.
Man schaut sich nach einem neuen Partner um. Der Medienkonzern CBS war in Las Vegas auf ihr komisches
Talent aufmerksam geworden und plante eine comedy-Serie.
Zu CBS gehörte das renommierte Plattenlabel Epic
(bis heute Michaels Vertragsfirma). Es wird ein Vertrag ausgehandelt für später,
wenn der Kontrakt mit Motown ausläuft.
Alle
Motown-Stars haben sich irgendwann mit Berry Gordy überworfen, sogar Diana
Ross. Stevie Wonder kündigte seinen Vertrag exakt an seinem 21. Geburtstag -
dem Tag seine Volljährigkeit. Freilich kehrten fast alle früher oder später zurück.
Die Gründe für das Zerwürfnis waren immer dieselben. Da waren die miserablen
finanziellen Bedingungen, zu denen man bei Berry Gordy arbeitete. Die Verträge
stammten aus der Zeit, als die Musiker noch unbekannt waren und froh sein
konnten, wenn überhaupt einer mit ihnen abschloß. Wenn sie dann Erfolg hatten,
weigerte sich Gordy, die Bedingungen zu ändern: Der Erfolg sei schließlich sein
Verdienst... Dazu kam aber - und das gab für die Jacksons den Ausschlag - die
herrische Art, mit der Gordy seinen Künstlern vorschrieb, welche Kunst sie
machen durften. Die Sänger fühlten sich wie Laufburschen behandelt. Ein krasses
Beispiel ist der Song I Saw It Through
The Grapevine, Motowns größter Erfolg. Er war auch der größte Hit des später
tragisch ums Leben gekommenen Marvin Gaye. Für den war er zunächst geschrieben
worden. Aber Gordy wollte auf Nummer sicher gehn. Er gab es ersteinmal „auf
Probe“ an seine Neuerwerbung Gladys Knight. Sie hatte, wie wir gehört haben,
damit ihren Durchbruch (und war dabei im Regal
den Jackson Five begegnet). Aber da nahm ihr Gordy das Stück einfach wieder weg
und gab es an Marvin Gaye weiter.
Es
hatte Michael schon immer gewurmt, daß er, als „der Kleinste“, bei Motown
sowieso nichts zu sagen hatte. Er sprudelte über vor Einfällen, aber „wenn man
jung ist und Ideen hat, halten einen die Leute oft nur für kindisch und töricht.
Ich durfte nichts tun, weil ich jung war, und alle hielten meine Ideen für
hirnrissig.“ Als er dreizehn war, bei den Aufnahmen zu Looking Through The Window, platzte ihm schließlich der Kragen. Er
durfte nicht so singen, wie er wollte. „Ich meine, daß einem die Leute zuhören
sollten, wenn man seinen Job beherrscht und den Durchblick hat, egal, wie alt
man ist.“ Er lief zu Gordy und beschwerte sich. Der gab diesmal nach.
„Unsere
Probleme mit Motown begannen um das Jahr 1974, als wir deutlich machten, daß
wir unsere eigenen Songs schreiben und produzieren wollten.“ Einige Stars, wie
Gaye und Wonder, hatten so etwas durchsetzen können. „Aber bei uns hat Motown
keinen Zentimeter nachgegeben.“ Nicht nur war keine Rede von eigenen Songs: „Man
verbot uns sogar, auch nur davon zu reden!“
Freddy
Perren von The Corporation erinnert
sich: „Zum Songwriter gehört ein gewisses Talent, und ich konnte sehen, daß es
bei Michael da war. Aber Motown unterstützte das nicht bei ihren Sängern. Bei
Motown war der Produzent König.“ Michael war so gekränkt, daß er bald alles
Material, das Motown ihnen gab, innerlich ablehnte. Er wollte weg.
Allerdings
war inzwischen eine Komplikation eingetreten. Jermaine Jackson hatte Berry Gordys
Tochter Hazel geheiratet! In der Branche wurde getuschelt: „Jetzt gehören sie
mit Haut und Haar zu Motown.“ Ein Bruch mit Motown, das war auch ein Bruch mit
Jermaine... Man mußte mit Gordy reden, aber die Brüder drückten sich, und auch
Joe traute sich nicht in die Höhle des Löwen. „Also lag es an mir, ein Treffen
mit Berry Gordy zu arrangieren.“ Der sechzehnjährige Michael nahm die Geschäftsführung
der Firma Jackson selbst in die Hand! „Es war der schwerste Gang meines Lebens,
aber an dem Tag war ich ein Löwe.“ Sicher war es ein stürmische Begegnung.
Michael hatte wohl auf eine Verständigung in letzter Minute gehofft, doch Gordy
hat ein heftiges Temperament. An Verständigung war nach diesem Gespräch
jedenfalls nicht mehr zu denken.
„Für
einen Künstler ist es wichtig, stets die Kontrolle über sein Leben und seine
Arbeit zu behalten. Wir hätten auch bei Motown bleiben können; aber dann wären
wir in der Versenkung verschwunden.“ Das ist die Kehrseite von Michael Jacksons
Jagd nach seiner versäumten Kindheit: der verbissene Kampf um control. Er wird ihm später den Ruf
eines rüden Geschäftsmanns eintragen.
Nachdem
Motown im Mai '75 das neue J5-Album Moving
Violation herausgebracht hatte, verkündete Joe Jackson am 30. Juni den
Wechsel der Jackson5 zu Epic Records.
Doch war er vorher etwas zu zaghaft, ist er nun etwas zu kühn. Daß der Vertrag
mit Motown erst im folgenden Frühjahr ausläuft, stört ihn nicht. Michael meint
zwar, Vertrag sei Vertrag, aber Joe fühlt sich stark. So ist er völlig überrascht,
daß Berry Gordy den Namen Jackson Five
und die entsprechenden Logos schon 1973 heimlich für Motown hatte patentieren
lassen - die Jacksons besaßen nicht einmal mehr ihren Namen! Es folgten
jahrelange gerichtliche Auseinandersetzungen, die unterm Strich zugunsten von
Gordy ausgingen.
Marlon
übernahm Jermaines Part am Baß, und der kleine Randy rückte für Marlon nach.
Die Gruppe hieß jetzt nur noch The
Jacksons. Für Epics Chef Ron Alexenburg war der Deal mit der Familienband
gar kein sicheres Geschft. Er hatte etwas riskiert. Das Talent der Brüder, ihre
Songs selbst zu produzieren, war durchaus unbewiesen. Mehr als zwei eigene Stücke
pro Album mochte auch Epic ihnen nicht zugestehen. Und vorsichtshalber setzte
man ihnen das Produzentenduo Kenneth Gamble und Leonard Huff vor die Nase - die
beiden Hauptvertreter des Philly Sound, der mit dem „Entschwärzen“ des Rhythm
& Blues noch weiter gegangen war als Motown. ‚Schwarz‘ war an dieser Musik,
die mittlerweile den Markt beherrschte, eigentlich nur noch der obligate
Viervierteltakt mit dem schweren Taktteil auf der Eins. Der Philly-Sound hat
der Seichtigkeit der Disco-Ära mit ihren monotonen Klimperrhythmen den Weg
bereitet.
Im
Juni '76 beginnt CBS die Ausstrahlung der Serie The Jacksons. Michael war
unzufrieden. „Wir komplizierten unsere Lage, indem wie in der Sommerpause bei
einer albernen TV-Serie mitmachten. Es war eine idiotische Entscheidung, und
ich haßte jede Minute dieser Show.“ Er meinte, sie werde ihren Plattenverkäufen
schaden: „Wir mußten lächerliche Kostüme anziehen und alberne Witze reißen, und
das Geläächter kam vom Band.“ Keine Zeit, die Gesetze des für sie neuen Mediums
TV zu studieren: „Wir mußten täglich drei neue Tanznummern einstudieren, immer
mit dem Termin im Nacken.“ Und immer die Einschaltquoten vor Augen! „Die Leute
sehen einen jede Woche, und schließlich kommt es ihnen vor, als würden sie dich
schon viel zu gut kennen.“ Familiarity
breeds contempt, heißt ein englisches Sprichwort: Zu große Vertrautheit führt
zu Geringschätzung. „Man verliert in diesem Geschäft seine Identität. Das
Rockmusiker-Image ist weg. Ich bin kein Komiker. Ich bin kein Showmaster. Ich
bin Musiker.“
Zwar
hatte die Serie Erfog bei den Zuschauern, aber Michael behielt recht: „Ich
erinnere mich, daß wir nach unserer TV-Show vor halbleeren Sälen spielten.“
Dabei fiel ihm zum erstenmal im Leben der Auftrittt schwer: Jermaine war nicht
mehr da. Immer hatte er mit seiner Baßgitarre links hinter ihm gestanden. „Ich
war davon abhängig.“ Auf einmal fühlt sich Michael „auf der Bühne nackt.“ Und
die Plattenverkäufe gingen nach der Serie wirklich zurück: „Es dauerte ein
Weile, bis wir uns von diesem Rückschlag erholt hatten.“
Stilistisch
brachte der Wechsel zum Philly Sound eine weitere Betonung des „weißen“ Elements,
der melodischen Linie: Gamble und Huff „brachten
mich dahin, der Melodie mehr Aufmerksamkeit zu widmen.“ Daher ist jetzt die
Orchestrierung nicht mehr „so bombastisch und überladen, wie es bei Motown der
Fall gewesen wäre“. Das erste Album bei Epic
erscheint im November '76 unter dem einfachen Titel The Jacksons. Es enthält die ersten selbstgemachten Songs der Jackson-Brüder:
Blues Away von Michael und Style Of Life von Tito. Doch was
Besonderes ist das nicht. Es ist Musik im Zug der Zeit. Und der heißt 1976:
Disco. Die Jacksons kämpfen ums „berleben. Das sind keine brandneuen
Enthusiasten, die von einer musikalischen Idee besessen sind. Hier ist eine am
Markt etablierte Gruppe, die gegen den Abstieg kämpft. Das heißt, um Anschluß
an den Trend.
Gibt
es einen Titel, der charakteristisch wäre für die Disco-Ära? Man sucht
vergeblich. Die erfolgreichste Platte dieser Zeit war bezeichnenderweise der
Soundtrack zu einem Tanzfilm: Saturday
Night Fever (von den BeeGees). Typisch für diese Musik sind die
glatten Melodien, an denen das Ohr gleichsam ab- und ausrutscht; und zwar über
einem einfältigen Beat, zu dem jedermann und jedefrau, ob begabt oder nicht,
stundenlang soll abtanzen können, ohne hinhören zu müssen. Es ist
Unterhaltungsmusik im strengsten Sinn des Wortes. Man erkennt es schon an den
Titeln. So finden sich auf The
Jacksons zum Beispiel: Enjoy
Yourself; Think Happy; Good Times und
Keep On Dancing...
In
der Geschichte der Unterhaltungsmusik beobachtet man ein zyklisches Hin und Her
von ‚schwarzem‘ und ‚weißem‘ Prinzip. Was Erfolg hat auf dem
Unterhaltungsmarkt, darüber entscheiden letzten Endes nicht die Lautsprecherboxen
und Kopfhörer, sondern die Tanzböden (auf Deutsch dancefloors). Es muß nicht jedes Stück tanzbar sein. Aber am Markt
halten sich auf die Dauer nur jene, die den Dancefloor bedienen. Darum hatte ja
die „schwarze“ Musik ins weiße Unterhaltungsgeschäft einbrechen können: wegen
der rhythmischen Überlegenheit des R&B über den Singsang der Tin Pan Alley - jener New-Yorker Straße,
wo die meisten Musikverlage saßen. Der Musikgeschmack ändert sich in dem Maße,
wie sich die Zusammensetzung des Tanzboden-Publikums ändert. So machten die weißen
High-School-Kids aus dem R&B den Rock'n'Roll. Die schwarzen Musiker zogen
sich bald zurück und hinterließen ihm die Gitarre und den Blues. Nach und nach ermüdete die wilde Rhythmik zu einem
monotonen, wennauch lauten Beat. Die britische Popmusik der sechziger Jahre erlöste
den Rock'n'Roll aus seinem Siechtum. Die stilprägende Musik der Beatles war
aber, trotz ihrer Herkunft vom R&B, porentief weiß. Die Melodie, der Song,
den sie wieder zu Ehren brachten, verdrängte den schwarzen funk völlig. Der schließlich überwuchernde Rückgriff auf den
klassischen europäischen Orchesterklang machte den weißen Sieg perfekt. Doch
die Beatles verschwanden über Nacht. Plötzlich war der Äther voll ABBA. Die Erneuerer des R&B, die
Soul-Funker James Brown und Sly Stone, bekamen ihre Chance auf dem Markt. Die
Jackson5 haben ihren Teil beigetragen.
Daß
dann aus dem Soul über den Philly Sound der Disco-Stil entstand, geht wiederum
auf die Veränderungen der Tanzböden zurück. Es handelt sich um die Ausbildung
neuer Formen öffentlicher Geselligkeit nach der kulturellen Gärung um das Jahr
1968. Seit es die Music Box gab,
wurde in Bars und Cafés immer wieder auch zu Konservenmusik getanzt. Nicht
immer war ja eine Live-Band zur Stelle. Aber daß riesige Säle, wahre Tanzpaläste
extra zu dem Zweck eingerichtet wurden, daß Hunderte, vielleicht Tausende nach
Plattenmusik tanzten, und womöglich die ganze Nacht durch, das war neu. Die
ersten Diskotheken waren denn auch im 68er-Frankreich entstanden. Eine treibende
Kraft war dabei die Gay community,
die sich erstmals an die Öffentlichkeit wagte und nach eigenen Gesellungsformen
suchte. Ein Gutteil der Disco-Ästhetik stammt daher. Für diese Art Vergnügen
brauchte man allerdings Verschleiß-Musik. Man wollte tanzen, nicht hinhören. „Diese
Musik war sehr anspruchslos, nur Fetzen von allem möglichen, inklusive meiner
Musik, einfach übernommen und grob vereinfacht, besonders der Rhythmus“,
schreibt James Brown. „Die Plattenfirmen waren natürlich begeistert von Disco,
denn das war eine Musik für Produzenten. Für Disco brauchte man keine Künstler.“
Doch vor allem war Disco blütenweiß! Ihr Talmi-Schick war nicht eben billig.
Schwarze konnten sich Disco nicht leisten. Die Rhythmik verblaßte.
Die
musikalische Katastrophe der Disco-Ära wirft ihre Schatten bis heute. Es war im
Jahr 1975, als in Brooklyn junge Schwarze, denen die Disco zu teuer war,
erstmals den Einfall hatten, auf der Straße zu den herausfordernd simplen Baßläufen
der Disco-Musik improvisierte Texte zu deklamieren. Das war die Geburtsstunde
des Rap. (Beim herkömmlichen „Sprechgesang“
kommen dagegen Rhythmus und Melodie aus der Sprache.) Eigentlich ist der Rap
eher ein literarisches Phänomen. Auf breiter Front eignet sich der schwarze Bevölkerungsteil
künstlerisch ein Medium an, das ihm „von Hause aus“ nie so recht zugestanden
hatte - die englische Sprache. Daß nicht alles Poesie ist, was da
zustandekommt, zumal seit der komisch fröhliche Rap der ersten Stunde vom
ganz-wichtigen Gangsta-Rap dieser Tage verdrängt wurde; und daß mit seinem
heiseren Geschimpf das zwischendurch weiß gewordene Selbstmitleid des Blues in
die schwarzen Seelen zurückkehrt - das mag man beklagen. Doch der Sprache wird
es nicht schaden. Der Musik aber hat der Rap schon geschadet. Denn wie dem
halb-schwarzen Philly-Sound die ganz blasse Disco-Musik, so folgte dem
halbschwarzen Rap die urgermanische Techno-Welle
als wohlverdiente Strafe auf dem Fuß.
Doch
wir greifen vor.
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