Der erste Künstler des einundzwanzigsten Jahrhunderts
Je begreiflicher uns das Universum wird,
umso sinnloser erscheint es auch.
Steven Weinberg [Nobelpreis 1979]
Der Endzweck der Künste hingegen ist Vergnügen, und das
Vergnügen ist
entbehrlich.
Lessing
Nicht Frevelmut, sondern der immer neu
erwachende
Spieltrieb ruft andere Welten ins Leben.
Nietzsche
Nie
zuvor haben Kunst überhaupt und namentlich die Musik im Dasein der Menschen
soviel Raum eingenommen wie heute. Sie hören auf, eine besondere
gesellschaftliche „Institution“ neben soundsoviel anderen zu bilden, und neigen
dazu, sich im Alltagsleben zu zerstreuen - wenn auch als dessen Juckpulver.
Das läßt sich sogar messen - an dem verläßlichsten Maßstab, den die bürgerliche Gesellschaft erfunden hat; am Geld. Die Unterhaltungsindustrie und all die Branchen, die ihr zuarbeiten, sind längst im Begriff, der Automobilindustrie den Rang abzulaufen. So richtig „notwendig“ ist die durchgängige Motorisierung der westlichen Welt übrigens auch schon nicht mehr gewesen: Der Wunsch nach Mobilität ist eher ein mentales Bedürfnis. Wir leben offenbar schon nicht mehr in einer Welt, wo der Kampf ums nackte Dasein das allbeherrschende Lebensthema ist. Nicht die Notdurft, sondern das Überflüssige wird zur Triebkraft der Entwicklung. Das trifft wohlbemerkt nicht nur auf die reichen Länder der Erde zu: Die Niedriglohnländer Asiens entwickeln sich heute mittels der Unterhaltungselektronik, und nicht mehr dank billiger Textilien.
Wie immer man die Erzeugnisse der Vergnügungsindustrie geschmacklich beurteilt: Daß es sie gibt, bezeichnet eine zuvor unerreichte Höhe der Kultur. Der wahre Reichtum sei „der Reichtum an Bedürfnissen“, schrieb der Nationalökonom Karl Marx.
So
gesehen, war der bedeutendste Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts - Charly
Chaplin. Nicht: der ‚größte‘ Künstler. Das wäre ein Geschmacksurteil und ließe
sich nicht objektivieren. Die Auswirkungen von Richard Wagners Musik dauern bis
heute. Man muß ihn ja nicht mögen; doch der einflußreichste Künstler des
neunzehnten Jahrhunderts war er. Durch seine Wirkung ist Charly Chaplin der
bedeutendste Künstler unseres Jahrhunderts. Durch ihn ist das Kino zur großen
Industrie geworden. Durch ihn ist das Filmemachen aber auch zur Kunst geworden.
(Erinnern wir uns übrigens der Rolle, die Kinder dabei gespielt haben.) Wenn
Kunst, wenn Musik heute alle erreicht, unabhängig von ihrer sozialen Stellung,
dann verdanken wir das den Performing Arts. Die sind ein Kind der
Unterhaltungsindustrie. Und die verdanken wir wiederum dem Kino.
Michael
Jackson ist der erste Künstler des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Die Figur
des Jacko steht an der Schwelle zum neuen Jahrtausend. Es ist zugleich der Übergang
auf eine neue Stufe der Zivilisation. Leitartikler und Feuilletonisten haben
vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“ gesprochen, und das Wort macht seither die
Runde. Aber was es eigentlich bedeutet, wurde noch wenig bedacht
Arbeit
unterscheidet sich von anderen menschlichen Tätigkeiten darin, daß ihr Ausgang
vorhergesehen ist. Fleißig ist auch die Biene. Was aber den schlechtesten
menschlichen Baumeister vor der besten Biene auszeichnet: Er hat sein Haus
schon in seinem Kopf errichtet, bevor er es mit den Händen baut. Den Zweck
seiner Arbeit hat er vorausgesetzt: als „Bedürfnis“. Und was es werden soll,
bestimmt darüber, wie er es machen muß - nämlich zweckmäßig.
Planvolle
Tätigkeit zwecks Bedürfnisbefriedigung, das ist die beherrschende Lebenspraxis
in einer Welt, wo das Dasein vom Mangel geprägt ist. Wo das ganze Leben von der
Sorge, von der Vorsorge für den kommenden Tag eingestimmt wird. - Aber ist das
nicht die condition humaine, die
Grundbefind-lichkeit unserer Existenz?
Keineswegs.
Gute zwei Millionen Jahre lang haben unsere steinzeitlichen Vorfahren in einem ökologischen
Gleichgewicht mit ihrer Umwelt zugebracht. Sie waren Jäger und Sammler, die
Anzahl der Menschen war begrenzt durch das vorhandene Angebot an Lebensmitteln.
War ein Landstrich abgeweidet, zog man weiter - aus einer Nische in die andere.
Manchmal geschah eine Katastrophe, bei der eine ganze Population zugrunde gehen
mochte. Aber die war unvorhersehbar, man konnte nicht vorsorgen. Wie denn auch?
Viel Vorrat konnten sie auf ihren Wanderungen nicht tragen - und wie sollten
sie ihn haltbar machen? Gelegentliche Überschüsse mußten vergeudet werden - im
Fest. Der Überfluß war ebenso unvorhersehbar wie die Not. Denn beide waren
Ausnahmen, die die Regel bestätigen: das ökologische Gleichgewicht. Unsere
Vorfahren lebten nicht stets am Rande des Untergangs. Sonst hätten sie sich
nicht von Ostafrika aus über die ganze Welt verbreiten können. Und schon gar
nicht hätten sie die Muße gehabt, uns jene prachtvollen Zeugnisse ihres künstlerischen
Genies zu hinterlassen, die wir in den Höhlen von Lascaux und Altamira
bewundern.
Bleiben
oder wandern, das war die einzige Alternative. Mehr gab es nicht vorzusehen.
Mit dem Übergang zum Getreidebau und der Seßhaftigkeit änderte sich das. Das
war die sogenannte „neolithische Revolution“, sie begann vor etwa zwölftausend
Jahren bei Jericho im Tal des Jordan. Von nun an gab es einen regelmäßigen Überschuß
- auf den man und mit dem man rechnen konnte. Nun konnte man vorsorgen.
Paradoxerweise
wurde damit der Mangel zum Leitmotiv des gesellschaftlichen Daseins. Denn jener
Überschuß, das Korn, ließ sich anhäufen - als Vorrat für schlechte Jahre, aber
auch als Tauschmittel für Güter, die man nicht selber herstellen konnte, und
auf die man vorher verzichten mußte. Es entsteht ein Reichtum, der
akkumulierbar ist. Mit der Entwicklung der neuen Bedürfnisse entsteht auch der
Streit darüber, was „notwendig“ ist und was „Luxus“. Der Reichtum der einen
schafft die Armut der andern. Es entsteht eine „überschüssige“ Bevölkerung, das
Massenelend und - der Klassenkampf.
Doch
was gestern noch Luxus war, ist heute schon notwendig - und auf einmal gibt's
nie genug! Mangel wird zum beherrschenden Daseinserlebnis. Und Arbeit ist das
universelle Mittel, ihn zu beheben. Was eine Sache wert ist, mißt sich daran,
wieviel Arbeit nötig ist, um sie zu beschaffen. An diesem Maßstab kann alles
miteinander verglichen und folglich - gegeneinander getauscht werden. Es
entsteht die Marktwirtschaft, als die entfaltete Form der Arbeitsgesellschaft;
und die industrielle Revolution in ihrer Folge. Arbeit heißt seither vor allem:
Lohnarbeit, und sie ist ein furchtbares Joch. Ökonomie heißt Ersparung von
Arbeit, und Freiheit heißt Freizeit. Das Ideal der Menschen, aber auch die
reale Tendenz der Technik ist eine Produktionsweise, wo die Arbeit der Menschen
von Maschinen übernommen wird. Wo also der Mensch nur noch das Was angibt und
das Wie den Automaten überläßt. Die Vollendung der Arbeitsgesellschaft wäre
dann freilich auch ihr Ende.
Die
Arbeit hat unser Bild von der Wirklichkeit von Grund auf neu geprägt. Sie hat
die „Normalbiographie“ erfunden. Ihretwegen wollen wir die Welt vorhersehbar
machen. Denn nur wer glaubt, durch Arbeit Vorsorge treffen zu können, muß auch
vorhersehen wollen. Die positiven Wissenschaften, denen die Idee von der
Machbarkeit der Welt zugrundeliegt, sind Kinder der Arbeit. Und umgekehrt: Was
keinem ersichtlichen Zweck dient, ist auch nicht ganz „wirklich“.
Die
Arbeit hat alle menschlichen Verhältnisse überwuchert. Zum Beispiel die
Stellung der Generationen zueinander. Daß Knaben keine Männer, und daß Mädchen
keine Frauen sind - das hat man wohl immer gewußt. Aber auf die Idee, die ganze
Menschheit in zwei geschlechtslose Lager, in ‚Kinder‘ und ‚Erwachsene‘ zu
scheiden - darauf kam erst die bürgerliche Gesellschaft. (Vorher gab es dafür
nicht einmal das passende Wort: Kinder waren Söhne und Töchter, egal wie alt.)
Ein vollgültiger Bürger ist nämlich erst der „Arbeiter“: einer, der „Werte
schafft“, der planvolle Tätigkeit zwecks Bedürfnisbefriedigung verrichtet;
Kinder also nicht. Zunächst wurde nur der Nachwuchs der herrschenden Klassen zu
‚Kindern‘ gemacht; der Nachwuchs der Armen durfte ruhig arbeiten. Aber mit fortschreitender
Industrialisierung wurde die Arbeit nicht nur schwer, sondern auch kompliziert.
Es bedurfte einer langen Vorbereitung. Seither ist jeder, der „noch zu klein“
ist, ein Kind.
Das
ist ein minderer Status, ein Mangelzustand. Aber er hat auch sein Privileg: Das
Kind darf das, was sich der Erwachsene versagen muß; es darf spielen. Spiel ist
eine Tätigkeit, deren Ausgang offen ist. Bei der man erst sieht, was es werden
sollte, wenn es schon etwas geworden ist. Das Kind darf noch in einer
unvorhersehbaren Welt leben. Wissenschaft und Sport haben etwas von diesem
Spielcharakter, sie leben vom offenen Ausgang. Aber man kann sie auch als Vorbereitung
zur Arbeit rechtfertigen. Nicht so die Kunst. Sie ist das schlechthin überflüssige:
Luxus. Das, was man sich leistet, wenn alle Arbeit getan ist. Wenn die Bedürfnisse,
die durch zweckmäßige Tätigkeit versorgt werden können, erledigt sind. Die Welt
des Künstlers ist, wie die der Kinder, unvorhersehbar. So sehr er sich müht und
plagt: Der Künstler ist der Anti-Arbeiter, und das hat er mit den Kindern
gemein. „Ein Bauen und Zerstören in ewig gleicher Unschuld hat in dieser Welt
einzig das Spiel des Künstlers und des Kindes“, heißt es daher bei Friedrich
Nietzsche.
Soweit,
daß uns die Maschinen alle Arbeit abnehmen, sind wir noch nicht. Aber schon
gilt die Hauptsorge nicht mehr den Gütern, die durch Arbeit produziert werden können.
Daran herrscht kein Mangel, sondern Überfluß. Knapp sind inzwischen Dinge, die
nicht wiederhergestellt werden können. An denen muß gespart werden, nicht an
Arbeit. Luft und Wasser brauchen beispielsweise nicht gekauft zu werden, weil
sie nicht durch Arbeit produziert wurden. Werden sie knapp, dann kann sie nicht
der Markt verteuern, sondern nur die Politik. Sobald das regelmäßig geschieht,
ist der Punkt erreicht, wo Arbeit nicht länger „Maß und Substanz des Wertes“
ist. Sie wird immer überflüssiger in der Produktion, aber immer notwendiger bei
der Entsorgung ihrer Abfülle.
Und
schon ist nicht mehr die Vorsorge, die Sicherung des Überlebens die
Haupttriebkraft des Wirtschaftsgeschehens, sondern die Suche nach der „Lebensqualität“:
der Luxus. Sein Urtyp ist die Unterhaltungsindustrie. Als Industrie ist sie
noch Arbeit, aber sie ist auch schon Kunst.
Die
gegenwärtige Zivilisation ist charakterisiert durch eine galoppierende
Entwertung der Arbeit bei gleichzeitiger Aufwertung des Spiels. Ja, spielerische
Momente finden inzwischen Eingang in den Arbeitsprozeß selber. Auch in der
Industrieproduktion wird das „Erfinden“ zusehends wichtiger - auf Kosten der
vom Bedürfnis (alias Nachfrage) vorgegebenen Zwecke. Von der Informatik ganz zu
schweigen...
Dem
entspricht eine schleichende Entwertung der Erwachsenheit. Wenn Arbeitsfähigkeit
nicht länger das auszeichnende Merkmal des vollgültigen Bürgers ist, wenn das
Spielen jetzt selber produktiv wird, dann verblaßt und „veraltet“ das Bild des
Erwachsenen. Zugleich erleben wir einen Vormarsch des Kindlichen. Kiddie Kulture
ist ein Marktfaktor; da gehts um Milliarden - echte „Werte“! Und Michael
Jackson war der Schrittmacher. Darum war sein „Fall“ so symptomatisch: Daß
unser Zeitgeist das Kind zu einem sexuellen Fetisch umgedeutet hat, zeigt auch,
wie bedrohlich es empfunden wird.
Bierernste
Krämer, die um ihre Wichtigkeit bangen, beklagen die fortschreitende „Infantilisierung
unserer Kultur“. Infantil ist nur das verzogene Kind, und bleibt es bis ins
Alter. Die Infantilisierung der Gesellschaft ist eine Folge ihrer Pädagogisierung.
Sie geht nicht aufs Konto der Kinder, sondern auf das der (gar nicht mehr so)
Erwachsenen. Ihren reinsten Ausdruck findet sie in dem populären Lamento: I can get no satisfaction! Es ist die
Welt der ewig pubertierenden Rock-Opas. In der Welt von Kiddie Kulture heißt es
aber: Billie Jean is not my lover,
und es wird unterstrichen durch den berüchtigten Jacko-Griff.
Ob
nun - nach Adam Smith - die Arbeit oder - nach Johan Huizinga - das Spiel der
Urquell der Kultur war, ist ein Streit um Kaisers Bart. Er läßt sich
dialektisch lösen: Die Notdurft war die Triebkraft, der Luxus war das Zugpferd.
Auf jeden Fall war es der Überfluß, der die Entwicklung in Gang brachte.
Insofern liegt der Untergang der Arbeitsgesellschaft ganz und gar in ihrer
eigenen Logik.
Entscheidend
ist aber nicht, wie es angefangen hat, sondern worauf es hinausläuft. Friedrich
Schiller vertrat die Ansicht, der Mensch sei „nur da ganz Mensch, wo er spielt“.
Er war ein Künstler. Unter den Kulturpessimisten, die den Abbau der Erwachsenheit
fürchten, sind auffällig viele Pädagogen. Kein Wunder. Sie sorgen sich um ihr
Brot. Doch so konservative Geister wie der Kultursoziologe Arnold Gehlen und
der Verhaltensbiologe Konrad Lorenz hielten das Kindliche für die eigentliche
Bestimmung des Menschen. Sie vertreten die in der Wissenschaft als „Neotenie-Hypothese“
bekannte Auffassung, wonach sich die biologische Gattungsgeschichte der
Menschen dadurch auszeichnet, daß wir im Lauf der Generationen immer weiter zu
Gestaltformen „zurück“kehren, die im Tierreich spezifisch kindlich sind. Die
auffälligsten (aber nicht einzigen) Kennzeichen dieser „ewigen Unreife des
Menschen“, wie es der polnisch-amerikanische Philosoph Leszek Kolakowski ausdrückt,
sind die relative Übergröße des Kopfes, der Verlust des Haarkleides und die Überlänge
der Gliedmaßen bei einem verkürzten Rumpf. Doch wäre das Morphologische alles -
es wäre nur eine naturgeschichtliche Kuriosität ohne tiefere Bedeutung. Ihren
Sinn erhält die Kindlichkeit unserer Körperformen aber durch die spezifisch menschliche
Zugewandtheit zur Welt: unsere Neugier. „Nur der Mensch behält - neben den körperlichen
Merkmalen der Jugendlichkeit - auch die kindliche Neugier bis ins hohe Alter.
Unsere permanente Wißbegier ist ein persistierendes Jugendmerkmal, unser
exploratives Forschen ist dem Spiel des Kindes verwandt.“, schreibt Konrad
Lorenz. „Dieses Kind im Manne ist ein echter Lausbub. In der Brust des normalen
Erwachsenen leben zwei Seelen, eine, die den althergebrachten Traditonen treu
ist, und daneben die Seele des Revolutionärs.“ Oder die Seele des Arbeiters,
und daneben die Seele des Spielers. Der Arbeiter ist darauf aus, die Welt
vorherzusehen, um sie sich anzuähneln. Die Welt als Vorratslager unserer Bedürfnisse
ist aber eine enge Vorstellung, gemessen an der Welt als einem sich stets
erneuernden Rätsel : Das Spiel ist die betätigte Freude am immer wieder
Fremden. Es ist die menschlichere unserer beiden Seelen. Ja, es ist diejenige
Praxis, durch die wir unsere Umweltnische zu einer „Welt“ überhaupt
erst weiten.
In
jedem Spiel ist Abenteuer, und das heißt Gefahr. Das ist übrigens auch, was
menschlichen Eros von animalischem Sexus unterscheidet. Safer love gibts nicht. Die Liebe ist gefährlich, nicht der Sex.
Ach, und wieder sind wir bei Michael Jackson. Er mochte sich eine Liebe ohne
Gefahr erhofft haben, und wäre fast darin umgekommen. Wie um uns zu zeigen, daß
er auch in diesen Dingen „noch ein richtiges Kind“ ist.
Wie
keiner vor ihm verkörpert er - als Jacko und als kleiner Michael - jene andere
Seele in der Brust des „normalen Erwachsenen“, derer der sich zu schämen ein
halbes Leben lang geübt hat. Er ist der „Knabe Mensch“, wie es im Mann ohne Eigenschaften heißt. Daß die
Kinder ihm zujubelten, war nicht anders zu erwarten: Er befestigt ihre Stellung
in der Welt. Doch auch so manchen Großen bringt er auf dumme Gedanken. Ist er
nicht etwa the man in your mirror? Die
aber, die am allergischsten auf ihn reagieren, sind womöglich dieselben, die
sich seiner Verlockung am wenigsten gewachsen fühlen. Während der Jagd auf
Michael Jackson bemerkte man eine Heftigkeit, die der Freudianer unschwer als „Abwehrreaktion“
identifiziert. Er ist verführerisch wie der Teufel.
Was
ihn über den (vergleichsweise engen) Rahmen der Unterhaltungsindustrie
hinaushebt und zum Zivilisationsphänomen von universaler Tragweite macht: Er
verlockt nicht zurück zu einer wehmütigen Erinnerung an eine verlorene Zeit,
sondern zum kecken Vorgriff auf morgen. Sein „Rückzug“ ist eben doch ein Vorstoß.
Die Arbeitsgesellschaft stirbt ab, und mit ihr die Normalbiographie.
Auch
die Erfordernis, die Welt vorherzusehen! Sie muß nicht länger mit Wörtern
ausgemessen und und in Begriffen inventorisiert bleiben. Die Reaktionäre,
Philister und Pädagogen bejammern wie üblich den Verfall der Kultur. Die
modernen Medien, den Krach, den Sieg der Bilder über die Begriffe... Eine
Bildung, die auf Wörter, und eine Weltanschauung, die auf Begriffe baut,
taugten dazu, die Welt zu durchschauen und zu - verarbeiten. Sie waren die
Wegbereiter einer neuen Kultur, deren Ausgang demnächst wieder offen ist.
Nachdem sich das „Mängelwesen“ Mensch in der postmodernen Überflußgesellschaft
in Sicherheit gebracht hat, fällt es ihm nun wie Schuppen von den Augen: Wenn
die Arbeit getan und mein Bedürfnis befriedigt ist, dann bleibt die Welt...
immer noch so fremd wie zuvor. (Übrigens erscheint so auch die biologische Überalterung
des zivilisierten Menschen, seine „zweite Kindheit“, in einem andern Licht.)
Nicht die Arbeit macht uns weiser, sondern die Kunst. Nicht die Angleichung der
Stoffe an die Bedürfnisse, sondern, nach Theodor Adorno, „das vom Anderen Angerührtsein“.
Nachdem die Arbeit Ordnung ins Chaos gebracht hat, ist die „Aufgabe der Kunst
heute, Chaos in die Ordnung zu bringen“.
Das
„Herz des Genies“, sagt Jean Paul, ist eine „neue Welt- oder Lebensanschauung“.
Michael Jackson teilt uns die seine nicht in Wörtern, sondern in bewegten
Bildern mit. Im Bildroman eines künstlerischen Lebens. Daß ihm dabei manches „unbewußt“
unterläuft, bewährt erst seine Echtheit. Das Leben lasse sich nur ästhetisch
rechtfertigen, hieß es bei Nietzsche: als Artistik. Noch keiner hat das so
radikal genommen wie Michael Jackson. Er ist ein Romantiker. Ein Moderner. Er
ist der erste Künstler einer neuen Zeit.
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