10,I. HIStory continues!

oder
Der Kinderkönig kehrt zurück


Tereza: „Erwachsen wollte ich nie sein.“
Calvero: „Wer will das schon!“
„Rampenlicht“
Nicht nur ist die Ansteckung ein Anzeichen der Kunst.
 Der Grad der Ansteckungsgefahr ist überdies auch der
 einzige Maßstab für die Vortrefflichkeit der Kunst.
Tolstoi
Er hat sowas Rührendes.
Gerhard Schröder, Ministerpräsident

Schuldig oder nicht schuldig, in einem Punkt waren sie alle einig: Er ist erledigt. „Das Ende vom Lied“, titelte Deutschlands größte Illustrierte und wischte sich eine Krokodilsträne ab; hielt sie ihn doch für das Opfer einer Intrige.

Und dann hat er es überlebt. Es war die größte Materialschlacht der Mediengeschichte. Der Golfkrieg dauerte nur ein paar Tage, aber der „Fall Jackson“ über ein Jahr. Das allein zeigt, wie weit das Phänomen Michael Jackson über die Ufer der Unterhaltungsbranche hinausgetreten ist. War Thriller die Supernova der Unterhaltungsindustrie, so war The Jackson Chase der SuperGAU der Informationsgesellschaft. An ihm kann man wie im Versuchslabor ihre Gesetze studieren.

Und was kam raus? Der Mythus von der Allmacht der Medien ist gebrochen. Sie beherrschen die öffentliche Meinung nach Gutdünken. Aber sie herrschen offenbar nicht über die Köpfe der Menschen. Oder waren es die Herzen? Michael Jackson hat sie jedenfalls überlebt. Sein Mythus war stärker.

Nicht einmal die, von denen es am ehesten erwartet wurde, hatten in das Kreuzige eingestimmt: die Muttis und Vatis. Sie blieben gelassen, sie stürmten nicht die Kinderzimmer, rissen nicht die Platten aus den Schränken, die Videos aus dem Rekorder, die Poster von der Wand. Auch Deutschlands größte Tageszeitung konnte nichts dergleichen vermelden. „Niedriger hängen“ war die vorherrschende Stimmung. Ein bißchen überspannt ist er ja, und vielleicht tut er auch nur so. Aber eine echte Schweinerei traut man ihm nicht zu. Und vor allem: Wer weiá besser als Väter und Mütter, daß dreizehnjährige Jungen nicht alle Chorknaben sind! Und selbst die...

Und die „Betroffenen“, die Kinder? Noch weniger als ihre Eltern konnten sie sich Michael Jackson bei einer Gemeinheit vorstellen. Und sie hatten einen Verdacht: Da hatten sie einen Star, der „ganz ihnen gehörte“; größer war er als alle andern - und den wollten Erwachsene ihnen nehmen! Mal ganz abgesehen davon, daß sie einer Kampagne, bei der sie lediglich für die Rolle des willenlosen Opfers taugten, ohnehin nicht trauen mochten.

Am schwersten hatten es die geschworenen Fans. Nicht daß sie sich von der Frage nach schuldig oder nicht schuldig irritieren ließen. „Sowas tut Michael nicht.“ Manch einer mag sich still dabei gedacht habe : Und wenn ers getan hat, dann wird es keine Schweinerei gewesen sein.

Nein, was sie an ihrem Idol zweifeln ließ, war - daß er nicht gekämpft hatte. Daß er gelitten hat, davon waren sie überzeugter als irgendwer. Aber einfach stillhalten? Er hätte den Prozeß durchstehen sollen, gegen Wind und Wetter. „Auf uns hätte er sich jedenfalls verlassen können!“ Am schwersten fällt ihnen einzusehen, daß der Star nicht nur von seinen Fans lebt, und seien sie noch so treu. Er lebt von der breiten Masse des Publikums und den vielen, vielen Millionen, die sie zahlen. Michael Jacksons Kunst eignet sich nicht zum Geheimtip für Liebhaber. Sie braucht das große Publikum. Und dessen Zuspruch will immer neu gewonnen werden.

So blieb den Fans nur das ergebene Warten auf „das neue Album“, von dem alsbald gemunkelt wurde. Die neuen Songs sollten mit allen seinen Verleumdern abrechnen, endlich.

Eine große Rolle bei der Verteidigung]von Michael Jacksons Weltkarriere spielte die Münchener Bravo, mit einer Auflage von anderthalb Millionen Europas größte Jugendzeitschrift, die von einem Viertel aller deutschen Kinder und Jugendlichen gelesen wird. Kaum daß der Skandal begann, schaltete Bravo eine Hotline und fühlte ihren Lesern den Puls. Der Zuspruch war umwerfend. Und das Ergebnis: Achtundneunzig Prozent glaubten von den Anschuldigungen kein Wort. Es folgte die Aktion I love Michael. In zehn Tagen sammelte Bravo rund vierzigtausend Briefe, Postkarten und Päckchen, die Chefreporter Alex Gernandt persönlich nach Neverland brachte. Bravo war, und darauf ist sie stolz, das einzige Blatt auf der Welt, das Michael Jackson durch den ganzen Skandal die Treue gehalten hat.

A propos Treue. Oben auf dem Gipfel ist es einsam: „Wenn du ein Entertainer bist, weißt du nie...“ Nach dem Fall wird es noch einsamer.

Pepsi hatte sich am Tag nach dem Abbruch der Tournee von Michael Jackson zurückgezogen. (Die Fans trinken inzwischen Mystery - an original Michael Jackson product.) EuroDisney bei Paris nahm Captain EO aus dem Programm, obwohl der Andrang größer war denn je. Sonys Unterstützung war zwar knapp und klar. Aber sie hätte energischer sein können.

Ein Kapitel für sich war das Verhalten des offiziellen Hollywood. Janet
Jackson und Liz Taylor gingen überall in die Offensive, wo sie konnten. Marlon Brando und sein Sohn Miko hatten ihn vor den Staatsanwälten verteidigt. Die Filmschaupielerin Sharon Stone war öffentlich für ihn eingetreten. Und Steven Spielberg. Paul McCartney erzählte jedem, der ihn fragte, er würde Michael Jackson jederzeit seine Kinder anvertrauen. Ein unerwartetes Echo kam von Frank Dileo: Er habe Michael früher seine Kinder anvertraut und würde es wieder tun. Der ebenfalls in Ungnade gefallene John Branca ging weiter. Die Sache werde mit einem großen Triumph für Jackson enden. Die Leute würden sagen: „Schaut euch diesen Burschen an. Er hat keinem was getan, und seht, was die Presse mit ihm macht. - Er wird ein Held werden.“ Aber was war mit seinen andern Freunden? Gewiá, dies Völkchen hat in moralischer Hinsicht keinen guten Ruf in der Welt, und zuviel Unterstützung hätte Jackson eher geschaden. Er selber sagte aber: „Manche Freunde sind wie Schatten. Man sieht sie nur, wenn die Sonne scheint.“ Nur seine Fans seien treu gewesen.

Eine Stellungnahme wird auch ihn überrascht haben. Maximilian Schell veröffentlichte im Hollywood Reporter ganzseitig einen handgeschriebenen Brief an „Michael Jackson (irgendwo auf der Welt)“: „Ich schäme mich zutiefst - für die Presse, für die Medien, für die Welt.“ Zwar sei er ihm nur einmal begegnet, aber für sich und seine kleine Tochter sagt er: „Wir lieben Dich für das, was Du bist.“ Die Fans waren zu Tränen gerührt. Da hat er recht: Ihnen verdankt er, daß er nicht gefallen ist. Allerdings denken viele seither, dß er ihnen jetzt ganz gehört. Teilen wollten sie nicht mehr. Schon gar nicht mit „dieser Frau“.

Diese Frau - das war Lisa Marie Presley. Seit der außergerichtlichen Einigung hat man Michael Jackson zwar ein paarmal in der Öffentlichkeit gesichtet, zum Beispiel am 28. April, um den Preis Caring for Kids entgegenzunehmen, für den ihn 100 000 Schüler in Connecticut und New Jersey in der Aktion „Children's Choice“ erwählt hatten. Sonst blieb er unsichtbar. Aber man wußte, wo er war, was er tat. Er war in New York, wo ihn der Immobilien-Zar Donald Trump in seinem Trump Tower vor der Öffentlichkeit abschirmte, damit er - wie immer Tag und Nacht - an seinem neuen Album arbeiten konnte. Sonst passierte nichts. Außer daß Anfang Juli - mitten in der Saure-Gurken-Zeit - eines der albernsten Gerüchte in die Gazetten kommt, die je über Michael Jackson erdacht worden sind. Er soll in der Dominikanischen Republik klammheimlich geheiratet haben. Und keine andre als Lisa Marie, die einzige Tochter und Erbin von Elvis, dem King Of Rock'n'Roll! Lee Solters dementierte prompt, und die Sprecherin von Lisa Marie weiß von nichts. Inzwischen war man auf alles gefaßt und glaubte, die Ente stamme von Jackson selbst. Schließlich, nach drei Wochen, gibt MJJ Productions eine Erklärung von Lisa Marie Presley an die Presse. Sie war seit dem 26. Mai mit Michael Jackson verheiratet.

Warum die Heimlichtuerei? „Doch nur, um erst recht Aufsehen zu erregen!“ Aber hätten sie nicht heimlich geheiratet - welch ein Riesenspektakel wär das geworden. Wie hätte es geheißen? „Nur um Aufsehen zu erregen!“ So oder so. Michael Jacksons Karriere war an einem Point Of No Return angelangt. An seiner Person hat sich Hype zu einer objektiven Realität verselbständigt. Keiner, buchstäblich keiner kann sich ihr entziehen, sobald er von ihm redet. Aber nicht von ihm reden geht auch nicht: Seine Massenwirkung ist zu groß. Auch sie ist ein Objektivum geworden.

Auf dem Ben-Album hatte der elfjährige Michael gesungen: Life ist the greatest show on Earth - das Leben ist die größte Show der Welt. Der erwachsene Michael hat das wahrgemacht. Sein Leben ist wirklich ein Show-Spiel. Wer sagt da, daß Spiel kein Ernst sei? Dieses ist es, denn er kann nicht mehr aufhören.

Kulturpessimisten, die den Realitätsverlust der Mediengesellschaft bereden, sind mit Blindheit geschlagen (oder denkfaul). Denn es handelt sich um einen Realitätsgewinn. Besser gesagt, die Realität ist auch nicht mehr, was sie war - oder schien. Das Leben ist nicht, was es „ist“. Das Leben ist das Bild, das man sich von ihm macht. - Das ist nicht neu, jede Künstlerbiographie hat es bewahrheitet, mehr oder weniger. Was an der Biographie von Michael Jackson jeden Rahmen sprengt, ist aber: Da ist ein Künstler, den alle sehen. Das ist es, was ihn anstößig macht. Man kann nicht wegschaun. Er ist überall und kommt immer wieder. Wir ziehn ihn uns zu, als hätten wir ihn verdient.

Daß diese Ehe nicht gutgehen konnte, war klar: Alle wußten es. Man nennt es eine self fulfilling prophecy, eine Propehzeiung, die dadurch wahr wird, daß genügend Leute daran glauben. Eine Liebeshochzeit? Ausgeschlossen. Eine Scheinhochzeit. Eine Geschäftsverbindung. Ein PR-Trick. Eine Rauchbombe, eine Maskerade, um Normalität vorzutäuschen - es ist alles noch zu frisch in Erinnerung, um es zu wiederholen. Und natürlich vom ersten Tag an die Spekulationen über die baldige Scheidung! Weil er sie nicht singen lassen will. Weil er sich nicht mit ihren beiden Kindern versteht. Weil er nie zuhause ist. Weil er immer nur arbeitet. Weil er sich mit kleinen Jungens rumtreibt. Weil sie in der Scientology-Sekte ist. Weil sie sich immer mit Liz Taylor zankt. Weil sie nur an sein Geld will... Das Paradox scheint keinem aufzufallen: Wenn es eine Scheinehe ist - warum müssen sie sich scheiden lassen? Nach der Scheinehe des Jahrhunderts - die Scheinscheidung des Jahrhunderts? Von Anfang bis Ende ein Riesenstunt? Bei Michael Jackson hält man jetzt alles für möglich. Auch unter sonst idealen Voraussetzungen hätte es diese Verbindung darum schwer gehabt. Die waren aber nicht ideal. Und sei es nur, weil sich der ewig kleine Michael niemandem überantworten kann. Control!

Das markanteste (öffentliche) Ereignis ihrer Ehe war das gemeinsame Live-Interview in der Fernsehshow von Diane Sawyer auf ABC am 14. Juli '95. Markant war indes nicht was sie sagten, sondern wie. Nie wirkte der nervöse, schüchterne Michael Jackson so gelassen und entspannt. Er alberte sogar rum, und nichtmal bei den Fragen nach dem Sex-Skandal hat er mit der Wimper gezuckt. Man hatte das deutliche Gefühl: Das kommt von „dieser Frau“! Es herrschte da offenbar ein großes Einverständnis, und es sah fast aus, als könne diese Ehe doch eine Weile halten. Zumal sie ihm grad in puncto kleine Jungs zur Seite stand! Als Frau Sawyer ihn mütterlich ermahnt: Na Michael, mit den kleinen Jungs im Bette ist ja nun wohl Schlu? - da antwortet er fast pampig: „Wieso denn?!“ Und als sie verdattert murmelt: Na was solln die Leute denken - da wird er richtig frech: „Niemand denkt sich was dabei, wenn ich mit Kindern ins Bett gehe.“ Und Lisa Marie pflichtet ihm heftig bei! Freilich lernt man sie auch als eine ausgesprochen starke Persönlichkeit kennen. Ein Psychologe formuliert am n„chsten Tag, was alle denken: „Sie hat die Hosen an.“ Das dachten auch die Fans. Die hatten - die weiblichen zumal – „diese Frau“ nie gemocht. Weil er ihnen gehört. Nach zwanzig Monaten hat sich das Paar getrennt.

Zuvor endlose Ketten von Gerüchten und Dementis. Sie erwarten ein Kind! „Bravo!“ titelt die erwähnte deutsche Tageszeitung am 5. 8. '94. Und sie bringt ein Computerporträt des zu erwartenden Elvis-Enkels: Opas Schmalztolle, Papas Rehaugen und (ursprüngliche) Hautfarbe; und, o Wunder: Dessen operierte Nase erbt der Kleine auch... Wieder eine Ente. Das Interesse der Weltöffentlichkeit wird auf eine harte Probe gestellt. Das Eheleben sicher auch.

Ihren ersten gemeinsamen Auftritt erlebte das Publikum in Budapest bei den Außenaufnahmen zum Werbetrailer für das neue Album. Wieder versa-melte sich die Weltpresse. Und alle wußten schon, wie grauenhaft der Reklamespot werden würde. Nicht nur der Boulevard; die Frankfurter Allgemeine bewies, daß auch ein dummer Kopf hinter ihr stecken kann. Als er dann im Mai '95 über die Mattscheiben flimmerte, welche Enttäuschung: Man sah nicht, was man hatte sehen wollen. Dafür erkannte man jetzt Ähnlichkeiten mit der NS-Propaganda von Leni Riefenstahl. Wegen der Massenszenen und Marschkolonnen. Man hätte ebensogut an Eisensteins Potemkin oder Fritz Langs Metropolis denken können. Doch das hätte dem Künstler geschmeichelt, statt ihn zu schmähen.

HIStory würde es schwerer haben als jeder seiner Vorgänger, das war klar. Der Sättigungsgrad des Publikumsinteresses war erreicht. Sony soll über dreißig Millionen Dollar in die Werbung gesteckt haben; auch ein Rekord. Es wurden alle Register gezogen. Allein das Plattencover habe eine Million gekostet. Die Plakate an den Litfaßsäulen waren gut zwei Meter hoch - und in sieben europäischen Metropolen, darunter in Berlin am Alexanderplatz, wurden zehn Meter hohe Michael-Jackson-Statuen aus Stahl und Fiberglas aufgebaut! Am 29. Mai '95 endlich erscheint in Europa Scream, „Aufschrei“, die erste Single aus dem neuen Album, und zwei Tage darauf in USA. Ein merkwürdiges Stück. Ein Duett mit seiner netten Schwester Janet - aber sonst ist nichts Nettes daran. Eine rudimentäre Melodie, sie singen nicht, sie schreien und fauchen, das Ganze unter einem gewaltigen Lärmteppich. Polyrhythmisch im reinsten Jackson-Stil - aber da „schwebt“ nichts mehr! Nicht Linien kreuzen sich, sondern Massen krachen aufeinander, daß die Erde bebt. Allerdings ist es kein rein-ästhetisches Problem. Es hat mit dem Text zu tun. Es ist eine vehemente Schimpfkanonade Über den „Fall Jackson“! Stop pressurin' me - make me wanna scream, hör auf, mich zu quetschen, daß ich schrei! Und beide singen gar, man traut seinen Ohren nicht, das schreckliche f...- Wort. Diesmal ist nichts zweideutig, und es gibt keinen Grund, daß irgendwas „schebt“. Der Klang bleibt, das sei gerechterweise gesagt, knochentrocken. Es knallt, aber - wie immer - es dröhnt nicht. Klarheit, kein Matsch.

Ein paar Tage später wird mit großem Brimborium das Video vorgestellt, schwarz-weiá, aggressiv, futuristisch, ein Spitzenprodukt der Computeranimation. Es soll allein schon 7 Millionen $ verschlungen haben.

Das neue Album beginnt sofort mit einem Rekord. Scream steigt in der ersten Woche auf Platz 5 der Billboard-Charts ein. Michael Jackson bricht den Rekord der Beatles. Doch wie um zu zeigen, wie schwer es His story noch haben wird, kommt in der nächsten Woche die kalte Dusche : Der neue Rekord wird sogleich eingestellt - ironischerweise von dem (im letzten März ermordeten) Gangsta-Rapper The Notorious BIG, der auf HIStory eine Gastdarbierung gibt (This Time Around). Schlimmer: Er verdrängt Scream nicht nach oben, sondern nach unten! Es fällt auf Platz 6, um nie mehr zu steigen.

Am 16. Juni, andertahlb Tage nach dem Interview auf ABC, kommt HIStory in Europa in die Läden, vier Tage später in den USA. In den ersten Tagen werden mehr davon verkauft als seinerzeit von Dangerous, und das Album steigt in wenigen Wochen auf allen wichtigen Märkten auf Platz eins, wo es sich eine Weile h„lt.

Genauer gesagt, es ist ein Doppelalbum. Lange vor dem „Fall“ war bei Sony über ein Greatest-Hits-Album nachgedacht worden, und nach Michaels Rückkehr aus dem englischen Exil wurde dieser Plan wieder aufgegriffen. Es sollte um drei neue Stücke mit direktem Bezug zu dem aktuellen Skandal erweitert und mitten im Gefecht auf den Markt geworfen werden. Aber das scheiterte an Michaels Arbeitsweise. Es blieb nicht bei drei neuen Stücken. Schließlich war das Material so angewachsen, daß ein Album mit zwei CDs daraus wurde. HIStory I umfaßt die fünfzehn weltweit erfolgreichsten Stücke seit Off The Wall. Sie wurden nach dem letzten Stand der Technik digital neu remastert. „Es ist als ob man sie zum erstenmal hört®, sagt der an dem Projekt beteiligte Produzent Babyface - und so ist es.

HIStory II umfaát 14 neue Stücke sowie eine Cover-Version von Michaels Lieblingslied der Beatles, Come Together. (Die kennt man aus dem Moonwalker-Film, sie war u. a. auch auf der Single Jam schon zu hören.)

Eigenartigerweise war der Verriß in der Musikpresse nicht so einstimmig wie befürchtet. Zwar ließ auch der Rolling Stone diesmal kein gutes Haar an dem Album, wie viele andere. Aber es gab auch manch durchwachsene Kritik. Begeistert begrüßt wurde es freilich nur von erklärten Fans, und nicht von allen. Der vorherrschende Eindruck war Befremdung. Wirkte Dangerous wie ein Werk aus einem Guß, so fällt HIStory durch die extreme Ungleichartigkeit der einzelnen Stücke auf. Da sind stimmungsvolle Balladen mit großem Orchester im reinsten Hollywood-Klang: Childhood, Little Susie, Smile (eine Reverenz an Charlie Chaplin). Und ohrenbetäubende Kracher wie Scream und 2Bad. Auch nicht grade leise, doch nervös verfunkt: This Time Around und D.S.; genau dazwischen Tabloid Junkey. Es gibt die spannungsreiche Soulballade Stranger In Moscow und die ekstatische Gospelpredigt Earth Song. Neben dem 08/15-Stück You Are Not Alone (von R. Kelly) steht als Solitär der hoffnungsfrohe Hymnus History. Dazwischen, man weiß nicht warum, das Beatles-Cover Come Together. Die Kinderhymne fehlt diesmal, stattdessen ein heftiger Abzählreim, zappelig und schrill, They Don't Care About Us. Und nicht zu vergessen: das kammermusikalische Juwel Money; minimal music, und doch - klassikerverdächtig.

Und es fällt auf: Alles eindeutig, keine Ironie, keine Komik. Daß dem Ganzen die unverwechselbare Physiognomie fehlt, kann man daher nicht sagen. Sie liegt aber nicht in der ästhetischen Form, sondern im Stoff. Denn wie ein Kranz sind alle Stücke rund um den springenden Punkt in His story geflochten: The Jackson Case! Das hat es noch nie gegeben: ein Album, das vollständig einem Ereignis aus dem Privatleben des Sängers gewidmet ist! Hype auf ihrem Höhepunkt? Ja, wenn es ein ‚privates‘ Leben gewesen wäre. Es war aber der öffentlichste Fall des Jahrhunderts. Was hätte man gesagt, wären auf dem so ungeduldig erwarteten „neuen Album“ grad mal Anspielungen, ein paar Andeutungen, einige Spitzen zu hören gewesen? Drückeberger ! So wars aber nicht. Wie heißt es jetzt? Größenwahn.

Will sagen, im „Fall Jackson“ ist auch Antihype zum Objektivum geworden; kein Weg führt an ihr vorbei.

Am 24. August '95 erscheint die Single You Are Not Alone, begleitet von einem aufsehenerregenden Video. Das Aufsehen gilt dem Ehepaar Jackson, das man hüllenlos miteinander turteln sieht. Die Single selbst stellt nun aber einen Rekord auf, den ihm keiner mehr nehmen kann: Zum erstenmal steigt ein Lied in den Billboard Charts auf Platz eins ein! Vierzehn Tage später verleiht MTV seinen Video Music Award. Scream war in elf Kategorien nominiert. Ein Riesenspektakel, denn - Michael Jackson eröffnet die Show. Es ist sein erster Auftritt in den USA seit dem Super Bowl. Und es wird einer seiner größten Triumphe. Nach einem Greatest-Hits-Medley, wo er von einem frenetischen Slash an der Gitarre unterstützt wurde, tanzt er Billy Jean, mit Moonwalk und allem, und es folgt das Gangster-Ballett zu Dangerous: „Es gibt Leute, die gehn auf Nummer sicher und nehmen den geraden Weg. Aber es gibt auch welche, die balancieren lieber auf der Mauer. - Dies Stück ist für die von euch, die gern gefährlich leben!“ Zum Schluß You Are Not Alone. Er ist in Höchstform, so als sei nichts passiert. Und nach  wie vor schwächt die immer weiter getriebene artistische Perfektion um keinen Deut die Ausdruckskraft. (Doch Lisa Marie sitzt dabei und verzieht keine Miene. Die Fans schütteln den Kopf.)

Scream erhält nur drei Auszeichnungen. Als Janet neben ihrem Bruder auf die Bühne steigt, liest man auf ihrem Rücken: Pervert 2; ebenfalls pervers.

Michael Jackson treibt sich in dieser Zeit oft in Europa herum. Während des gemeinsamen Interviews mit Lisa Marie hatte er davon gesprochen, Amerika zu verlassen und nach Europa oder nach Südafrika zu ziehen. „Schöne Länder - für den Urlaub“, hatte die Gattin pariert. Nun wollte man ihn allenthalben Grundstücke kaufen sehen, ein Schloß in Frankreich, ein Chalet in der Schweiz, ein Manor in Schottland... In Deutschland wurde er dagegen mehrfach im Vergnügungspark Fantasialand in Brühl bei Köln gesichtet, und man munkelt, er sei an dem Unternehmen beteiligt. Auffällig ist, wie (vergleichsweise) locker und leutselig er neuerdings seinen Fans begegnet. In Deutschland mag er vielleicht nicht wohnen (wieso eigentlich nicht?), aber das heißt nicht, daß er hier nichts vorhat. Er hat. Am 7. Oktober kündigte Thomas Gottschalk, das Sprechrohr der Nation, einen Live-Auftritt von Michael Jackson in seiner Fernsehshow „Wetten daß“ an, und man dachte, er sei auf „Verstehn Sie Spaß“ reingefallen.

War er nicht. Michael Jackson kam wirklich. „Ach, tut doch nicht so, als hättet ihr auf mich gewartet“, flaxt Thommy in den tosenden Saal. Doch so bescheiden, wie es klingt, ist es nicht gemeint. Er platzt fast vor Stolz. Das größte Medienereignis des Jahres! Ihm ist gelungen, was noch keinem gelungen war: Er hat den größten Star aller Zeiten in eine Fernsehshow geholt. „Es gab einige, die gehofft haben, er kommt nicht, gegönnt haben es uns die wenigsten, aber ich habe gewettet, daß er kommt!“

Seit dem Vorabend ist zwischen Rhein und Ruhr die Hölle los. „NRW im Jacko-Fieber“, meldet der Teenie-Sender VIVA. Achtzehn Millionen hatten diesmal „Wetten, daß“ eingeschaltet, eine Einschaltquote von märchenhaften zweiundfünfzig Prozent, und zu Spitzenzeiten bis zu fünfunzwanzig Millionen. Die Spitzenzeiten - das war der Auftritt von Michael Jackson. Zwei von drei Deutschen haben ihn gesehen. Keinen interessierten diesmal Gottschalks Wetten. Nein, auf ihn hatte man wirklich nicht gewartet. Doch gut eine Stunde lang hört man ihn tapfer talken. Gerhard Schröder, noch Ministerpräsident und Kanzler im Wartestand, und Andrew Lloyd Webber bestreiten wacker ein endloses Vorprogramm. Dann ist es so weit: „Er ist da!“

Und Deutschland erlebt sein blaues Wunder. Die erste Lieferung dauert gerade mal vier Minuten. Jackson tanzt Dangerous. Die Fans wußten ja, was sie erwarten durften. Aber wie viele waren das? Ein paar hunderttausend, eine große Masse - vergleichsweise. Doch heute Abend erleben ihn neun von zehn Zuschauern zum allererstenmal. Die Neugier treibt sie an die Mattscheiben, nicht die Sympathie. Mal sehn, was an dem dran ist.

Und sie sehn es. Jackson at his best. Beschreiben läßt es sich nicht. Ist auch nicht nötig: Die Chancen, daß Sie es selbst gesehen haben, lieber Leser, stehen zwei zu eins.

Der Neuling erhält eine Dreiviertelstunde Zeit, die Bilder zu verdauen. Nämlich das Nebeneinander, das Ineinander von vollkommener Perfektion, von kalt kalkulierter Raffinesse auf der einen, und unbekümmerter Wildheit auf der andern Seite - wie ein Junge, der auf seinem BMX-Rad tobt. Und alles so geschwind - die Kameraleute des ZDF sind sichtlich überfordert.

„Hier ist er ein zweites Mal“: Den Gangsterhut hatte er vorhin in die Menge geworfen, die schwarze Jacke hinterher, nur im offenen weißen Hemd tritt das schmale Kerlchen jetzt allein auf die Bühne, mit seinem dünnen, stets etwas heiseren Knabentimbre haucht er eine sanfte Ballade, Earth Song, Weltpremiere, schwefelgelber Rauch, ein brennender Wald, verkohlte Erde, es hat was mit der Umwelt zu tun, das trifft das Herz der Deutschen. Aber dann kommt Spannung auf, er schwingt, er hüpft, er stampft, er springt, er schreit - und nun ist er nicht mehr zu halten.

Nein, das hat man in Deutschland noch nicht gesehen. Der Saal ist in Aufruhr, krawattenbewehrte Herren in den besten Jahren und bei bester Gesundheit reißt es von ihren Sitzen, die Vatis und Muttis folgen ihrem Jüngsten und die Fans heulen sich die Seele aus dem Leib. Immerhin, diesmal hat er ganze sieben Minuten gebraucht. Und während der Saal so richtig kocht, erleben wir eine Minute lang den Blick in ein Mysterium. Stolz wie ein Schuljunge geht er an der Rampe lang, sonnt sich im Beifall und... bohrt verlegen die Hände in die Hosentaschen. Ach, es kommt noch schlimmer. Jetzt tritt Gottschalk neben ihn, der blonde Hüne überragt ihn um einen Fuß, der King Of Pop zieht wie vor seinem Lehrer den Kopf ein und die Schultern hoch, als hätte er sein Gedicht vergessen, ruft noch auf Deutsch „Ich liebe euch!“ in die Menge, aber schon weiß er nicht mehr, wo er die Hände lassen soll, zupft an dem zerissenen Hemd, am Kragen, an seinem Haar, er will weg, Gottschalk tritt näher, Achtung Michael, sieh dich vor! Er will dich ins Gespräch verwickeln! Da - er hat's gemerkt, er drückt dem verdatterten Plauderkönig knapp die Hand, und weg war er...

Eine weitere Premiere, eine kleine, die fast untergeht: Gottschalk hat's die Sprache verschlagen, das soll dem Michael mal einer nachmachen. Wußte er nicht, daß der King Of Pop Angst vor den Leuten hat? „Ich hab ihn vor der Show in seiner Garderobe getroffen“, sagt Gottschalk später, „da fällt er in sich zusammen. Auf der Bühne ein Energiebündel - und dann wieder scheu wie ein Reh.“ Hinterher sagt Schröder zur Presse: „Jetzt versteh ich die Begeisterung der Fans. Er hat sowas Rührendes!“

Die Presse ?

„Er ist wieder der Größte“, schreibt ein ungenanntes Blatt. Er steigt wie Phönix aus der Asche, schrieb Bravo. Earth Song ist bald darauf die Nr. 1 in Deutschland, und wird es sechs Wochen lang bleiben.

Das Comeback war in vollem Gang. Ein Paukenschlag stand für die Weihnachtszeit ins Haus. Weltweit würde ein Konzert von Michael Jackson im New Yorker Beacon-Theater vom Fernsehen übertragen werden. Höhepunkt: Er würde gemeinsam mit dem Mimen Marcel Marceau sein Lied Childhood interpretieren. Aber daraus wird nichts. Am Nikolaustag bricht Michael Jackson bei den Proben auf der Bühne zusammen und kommt auf die Intensivstation. Kreislaufkollaps. Aus aller Welt strömen die Fans herbei. Schlechte Nachrichten. Er sei in Lebensgefahr. Im offiziellen Ärztebulletin heißt es, er leide an Herzrhythmusstörungen, einer Magen- und Darminfektion, akuter Dehydration und gestörtem Salzhaushalt in Nieren und Leber. Kurz, er hat sich überarbeitet, hat seit vier Tagen nichts gegessen, hinzu kommt eine verschleppte Darmgrippe. Der National Enquirer weiß es wieder genauer als die andern. Bei einer Größe von 1,75 m wiege er nur noch 56 Kilo. Magersucht, sagt der Enquirer. Das Ideal jedes Tänzers ist die Schwerelosigkeit, sagt Heinrich v. Kleist.

Nach einer Woche kann er das Krankenhaus verlassen. Lisa Marie hatte ihn besucht und gesagt, daß sie sich scheiden läßt.

Das Medieninterese an Michaels Gesundheit war entschieden größer als das an seiner Performance. „Der Körper rächt sich für die Sünden“ (ungenanntes Blatt). Und auch als er im Februar wieder in der Öffentlichkeit erscheint, sind es nicht die künstlerischen Aktivitäten, die die größere Aufmerksamkeit finden. Die nächste Single wird They Don't Care About Us sein. Das Stück hatte schon bei Erscheinen des Albums für Skandal gesorgt. Es geht - auch hier - um Michael Jacksons Kampf gegen seine Verleumder und ihre Gerüchteküche. Da heißt es denn an einer Stelle: Chew me, sue me, everybody do me. Kick me, kike me, don't you black-or-white me! To kick - klar, das heißt treten. Aber to kike? Steht nicht im Oxford Dictionary. Denn kike ist ein amerikanisches Slangwort für Juden, ein abfälliges natürlich. Die Zeile heißt also sinngemäß: Zerkaut mich, zerrt mich vor Gericht, macht mich alle fertig! Tritt mich, nenn mich einen Itzig - aber frag mich nicht, ob schwarz oder weiß! Klar: das geht gegen den schleichenden Rassismus, mit dem er es selbst zu tun bekommen hat. Aber nein, es wird sich doch im großen Amerika einer finden, der laut „Antisemitismus“ schreit! Und er kann sicher sein, daß er damit ins Fernsehen kommt, wenns um Michael Jackson geht. Nein, lieber Leser, das ist kein öder Scherz. So war es wirklich. Ojektive Antihype.

Jetzt also wird zu diesem Stück ein Video gedreht - ohne das politisch unkorrekte Wort, versteht sich. Spike Lee, der Regisseur von Malcolm X, wird Regie führen. Und schon geht der Krach wieder los. Es soll nämlich in Brasilien gedreht werden, unter anderm in einer favela, einem Slumviertel von Rio. „Er will am Elend der Leute verdienen!“ Diese Aufnahmen würden den Fremdenverkehr schädigen und Rios Bewerbung für die Olympischen Spiel gefährden. Und so weiter! Der Gouverneur von Rio verbietet die Dreharbeiten. Die Presse heult. Sie kennen das Lied gar nicht. Es handelt nicht von den Elenden, Vergessenen, um die sich keiner kümmert. They don't care heißt an dieser Stelle: In Wahrheit sind wir ihnen sch...egal. Den Presseleuten nämlich. Und es stimmte auch diesmal. Als das (vorzügliche) Video Mitte März herauskommt, sieht man kein Elend, sondern lebhafte, begeisterte und farbenfrohe Menschen...

Mit Michael Jackson ist Kiddie Kulture zur kommerziellen Großmacht geworden, und er mit ihr. In einer stagnierenden Weltwirtschaft ist sie ein Wachstumspol. Entsprechend heiß umkämpft ist der Markt. Gerade war dem Branchenführer Disney im DreamWorks-Komplex der Hollywood-Tycoone Steven Spielberg, David Geffen und Jeffrey Katzenberger ein ernster Konkurrent erwachsen. Da tritt am 19. März Michael Jackson gemeinsam mit dem milliardenschweren saudischen Prinzen Al Walid in Paris vor die Weltpresse. Sie teilen die Gründung von Kingdom Entertainment mit, einem Multimedia-Konzern im Bereich der Familienunterhaltung. (Im Hintergrund - der Sultan von Brunei, reichster Mann der Welt und erprobter Jackson-Fan.) Michael Jackson will den beiden Großkonzernen als gleichgewichtiger Partner entgegentreten. Vom einsamen Star zum Weltimperium! Freizeitparks, Musicals, Elektronik, Spielzeug. Und vor alle : Filme. Doch zuerst einmal wird Kingdom Entertainment die HIStory-Welttournee sponsern.

Diesmal hat Jackson nicht die Wahl: Er muß wieder auf Tour. Er muß das verlorene Terrain gutmachen, er muß seine Stellung in Übersee ausbauen. Und außerdem schuldet er es dem Münchener Konzertveranstalter Marcel Avram, der beim Abbruch der Dangerous-Tournee Millionen eingebüßt hatte. Es ist wie immer. Ankündigungen, Verschiebungen, Gerüchte. Michael Jackson findet kein Ende. Die Fans schwanken wieder zwischen Erwartung, Enttäuschung, Ungeduld. Wann? Und wo? November, Juni, nächstes Frühjahr... Singapur, Monte Carlo, Berlin. Nein, bloß nicht Deutschland! Theo Waigels neue Gesetze machen den internationalen Stars dort den Auftritt unmöglich. (Marcel Avram ging inzwischen wegen Steuerhinterziehung hinter Gitter.)

Am 7. September beginnt in Prag die HIStory-Welttournee. Ein neuer Rekord, natürlich: Fast 140 000 Zuschauer bei einem einzigen Konzert, das gab es noch nicht. Seit dem Vorabend ist eine Völkerwanderung im Gange. Gut die Hälfte der Teilnehmer kommt aus dem verschmähten Deutschland angereist. Prag gleicht tagelang einem Heerlager. Die monumentale Show (die sechzig Meter lange Bühne stilisiert das Brandenburger Tor) ist erwartungsgemäß mit Special effects vollgestopft. „Woraus andere fünf Shows zimmern, das steckt Michael Jackson in ein einziges Konzert“, sagt Alex Gernandt von Bravo. Es ist eine dramaturgisch durchgearbeitete Folge von szenischen Bildern, kleine Akte am roten Faden eines Künstlerlebens: His story. Eine Kunstform irgendwo zwischen Konzert, Multimediashow und Rockoper. Das ungenannte Blatt ist ein schlechter Verlierer. „Das Konzert ein Flop. Der Funke sprang nicht über.“ Eine Stimme von hundertvierzigtausend.

Marcel Avram stimmte anders. Er schob rasch am 28. und 30. September noch zwei Konzerte in Amsterdam in den ursprünglichen Tourneeplan - wieder bei den Deutschen gleich um die Ecke. Binnen zwei Stunden waren beide Konzerte im Ajax-Stadion ausgebucht; 150 000 Plätze.

Es folgen Konzerte in Budapest, Warschau und Moskau, ein erstes Konzert auf afrikanischem Boden, in Tunis. Dann gehts nach Ostasien. Und Australien.

Sidney, Sheraton-Hotel. Michael Jackson heiratet zum zweitenmal. Warum diesmal? Keine Frage: Er muß. Debbie Rowe, die blonde Krankenschwester mit den etwas herben Zgen, die seit anderthalb Jahrzehnten in der Praxis von Dr. Arnold Klein sein Hautleiden behandelt, ist im sechsten Monat schwanger. Es wurde alles darüber gesagt und geschrieben, was sich sagen und schreiben läßt. Harald Schmidt hat mitgebohrt. Und doch wurde Michael Jackson am 13. Februar dieses Jahres Vater. Ein weiteres ungenanntes Blatt zitiert Little Michael: „Mein wunderschöner kleiner Junge!“

Die Tour geht weiter. Nach seinem Auftritt zu Liz Taylors 65. Geburtstag, wo er seiner treuen Feundin I Love You, Elizabeth sang, war er wieder in den Aufnahmestudios. Mitte Mai erscheint Blood On The Dancefloor; pünktlich zum Start der zweiten Staffel in Monte Carlo. Es folgt ein Album mit Remix-Versionen der HIStory-Songs und vier neuen Liedern. Ende des Monats ist er in Deutschland.

Abschluß eines Kapitels? Anfang eines Kapitels? Scheideweg, Wendepunkt?

Sicher muß die gegenwärtige Welttournee ein kommerzieller Erfolg werden. Aber das ist nicht das wichtigste. Wichtiger ist der künstlerische Gehalt. Wichtiger ist das Schicksal der Jacko-Figur. Es war nicht das Ende vom Lied, er ist nicht erledigt, his story continues. Doch so wie früher ist es nicht: „Der Lack ist ab.“ Die Frage ist aber, ob er den Lack noch braucht. Ob The Magic of Michael Jackson auf die vorhehaltslose Bereitschaft des Publikums, sich schon von seinem bloßen Anblick hypnotisieren zu lassen, überhaupt angewiesen ist. Es war der tiefste „Fall“ aller Zeiten, und er hat ihn überlebt. Das macht ihn in ungeahnter Weise interessant. Sie alle schauen jetzt - auch die Fans, und die gerade - überlegter, aber auch aufmerksamer hin. Und wenn die künstlerische Substanz den kritischer gewordenen Blicken weiterhin standhält, braucht die Magie keinen Lack. Dann steckt sie auch so an.

Die eigentliche Geburtsstunde des Künstlers und des Schauspielers zumal, so meinte der dänische Philosoph und Theaternarr Sören Kierkegaard, sei seine „Krise“. Wenn er nämlich aufhört, nur so zu sein, wie er „von ganz alleine“ ist, und sich mit voller Absicht ein zweitesmal zu dem machen muß, was er werden soll, weil er es „im Grunde“ immer war. Mit dem geborenen Künstler Michael Jackson ist das allerdings komplizierter. Seine Verdoppelung zum Ewigen Knaben Jacko hatte er nur zur Hälfte „gemacht“. Zur andern Hälfte war auch sie ihm ganz von allein passiert.

Die künstlerische Substanz oder der Gehalt des Jacko-Mythos, das ist ganz dasselbe. Das Kindliche ist eine ständige Versuchung für die Erwachsenen. In ihrem geschäftigen Alltag haben sie sich um ein' Gutteil der Möglichkeiten gebracht, die sie einmal hatten. Daher die immer neue Begeisterung für Wunderkinder aller Art: „Sieh an, das hättest du sein können!“ Daß einer aus dem Sentiment für das Kindliche Kapital schlägt, wäre nun nicht neu gewesen. Aber Michael Jackson verkörpert nicht einfach nur das Kindliche und basta; das war Peter Pan. Der hatte sich einfach aus der Welt verdrückt. Wenn Erwachsensein bedeutet, einen Beruf ergreifen und es „zu was bringen in der Welt“, dann war Michael Jackson erwachsener als irgendwer. Daß er sich von da aus wieder zum Kind macht, das ist der Witz. Er repräsentiert das Kindliche, das in einer erwachsenen Welt, gegen eine erwachsene Welt kämpft und - siegt. Und so recht repräsentiert er es auch erst seit seinem Fall. Die wahre Krise wäre, daß das Kindliche sich gegen Tod und Teufel behauptet, ohne daran zu „reifen“.

Wenn es sich behauptet! Oder wird er der Versuchung nachgeben, sich zu einem „seriösen“ Künstler zu mausern? Die Videos zum neuen Album lassen diese Befürchtung zu. Nichts Komisches, gedeckte Farben, kein Tanz, höchstens Zorn, aber alles tiefernst. Abstoßend gar das bedauerliche, häßliche Stranger In Moscow, das doch eine ganz andere Behandlung verdient hätte. Einziger Lichtblick: das elektrische They Don't Care (brasilianische Fassung), ein rasanter rhythmischer Bilderbogen, wo Michael in alter Frische mit einer Schar halbnackter brauner Jungens tanzt wie je und zum Schluß mit dem kleinsten und schwärzesten von ihnen eine Ehrenrunde dreht... Aber das hat ihm, dem Vernehmen nach, nicht gefallen. Dafür ist Stranger In Moscow in Deutschland spurlos untergegangen. Weiß das Publikum besser, wer Michael Jackson ist, als er selbst?

Doch ist er ein hundertprozentiger Profi. Er führt seine Comeback-Kampagne generalstabsmäßig. Aber Planung ist auf diesem Feld das wenigste. Wenn Image Building eine Kunst ist, nämlich ein gewagtes Spiel mit tausend Unbekannten, dann ist es Image Rebuilding doppelt und dreifach.

Gegen das, was gewesen ist, anspielen zu wollen, wäre hoffnungslos. Das Bild des Jacko hat einen bleibenden Schatten davongetragen. Der wird ihm anhängen - und sei es nur als ein Hauch von Verruchtheit: thrilling, bad und dangerous. Das ließe sich immerhin kapitalisieren.

Es scheint, als geschähe diese Kampagne in zwei Phasen: Zuerst wird in einer Art „Image-Zapping“ das vertraute Erscheinungsbild bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, um dann wie Phönix den alten Jacko „neu“ aus der Asche steigen zu lassen. Beide Phasen überschneiden sich. In You Are Not Alone erscheint er bald als tragische Unschuld wie Asta Nielsen, bald als Latin Lover wie Rodolfo Valentino, und dann noch mit Lisa Marie wie in einem Softporno. In They Don't Care erscheint das Glitzerding in T-Shirt und Schmuddeljeans als King of Schlichtheit, in Childhood und Earth Song geht er gar in Lumpen. Und in Stranger In Moscow - ach herrje !

Dagegen ist der halbstündige Musikfilm Ghosts, der seit Ende Oktober in amerikanischen Kinos im Vorprogramm läuft, ein waschechtes Jacko-Stück. Zu der Musik von 2Bad und dem unveröffentlichten Ghost singt, tanzt und mimt er in fünf verschiedenen Rollen - d. h. Masken, unter denen er nicht wiederzuerkennen ist. Der Film hat eine Story (an der Stephen King beteiligt war), und die kann man kaum mißverstehen. Ein „Maestro“ zieht in eine amerikanische Kleinstadt, wo er die bigotten Einwohner und vorneweg ihren Bürgermeister (auch den spielt Michael) gegen sich aufbringt: Er sei unheimlich und bringe die Kinder auf dumme Gedanken, er soll gehen - aber er steckt sie alle an. Es ist ein Gruselstück, ästhetisch in der Linie von Thriller und Smooth Criminal, und dürfte auch die ungeduldigsten Fans mit ihrem Helden aussöhnen: Jacko at his best; ganz neu geworden, um ganz der alte zu bleiben... Rechtzeitig zur Deutschland-Tournee kommt das Stück auch bei uns heraus.

Wird die Tournee halten, was Ghosts verspricht?

In Deutschland gehört der Zwiespalt zum Nationalcharakter. Daß Michael Jackson hier eine besonders ergebene Gemeinde gefunden hat, lag in der Natur der Sache. Und es kann noch mehr draus werden, die Tournee wirds erweisen. Inzwischen ist es auch bei uns bald so, daß während seiner Kindheit jeder irgendwann Michael-Jackson-Fan wird, die Jungen früher, die Mädchen später. Bei dem einen dauerts, bei dem andern nicht. Doch auch, wenn es vorüber ist, bleibt die Erinnerung an eine persönliche Intimität zurück wie mit keinem anderen Star. Die Kinder der Bad-Generation sind bald selber Eltern. Und so fort. Am Ende ist - wie in den USA - kaum einer übrig, der mit diesem Künstler nicht irgendwann einmal ein „Verhältnis“ gehabt hat. Das wäre nicht bloß ein Mengenrekord. Es wäre eine neue Qualität, denn es untergräbt die Scheidung von Kindern und Erwachsenen. Crossover.

Was wird also aus dem Jacko-Mythus? Wir kommen auf den Punkt. In der Gestalt des Entertainers Michael Jackson erscheint die Schwäche für das Kindliche nicht mehr bloß als eine Versuchung, sondern als fait accompli, als vollendete Tatsache. Er hat's versucht, und es ist geglückt. Es war keine Schnapsidee, es ist wirklich passiert. Es könnte anstecken. Und wie sagte doch sein Bruder Jermaine? „Wären mehr von uns so kindlich geblieben wie er, dann ginge es auf der Welt besser zu.“

Am 31. Mai dieses Jahres beginnt in Bremen Michael Jacksons Deutschlandtournee.

Hier ist unsere Erzählung zuende. Aber nicht unsere Geschichte: Wir sind noch mittendrin. Sie ist ohne Beispiel. Und weil der Lebensweg von Michael Jackson einzigartig ist, erzählt er uns mehr darüber, ‚was der Mensch ist‘, als tausend Normalbiographien. Wenn man das Allgemeine studieren wolle, müsse man sich zuerst nach einer berechtigten Ausnahme umsehen, heißt es bei Kierkegaard. Denn was etwas ist, wird an dem deutlich, was es nicht ist. Es steckt aber noch mehr darin. Das Faszinierende am Ganz-Anderen ist nämlich der Verdacht, daß sich in der Ausnahme die Umrisse der künftigen Regel andeuten. Daß sie ein Beispiel geben könnte. Daß sie uns ansteckt.

Im Juni 1992 erschien bei Doubleday ein zweites Buch von Michael Jackson, Dancing the Dream. Sinngemäß: Traumtänzer; eine Sammlung von Fotos und selbstverfaßten, sentimentalen Gedichten. Eines handelt zum Beispiel vom Fall der Berliner Mauer.

Ein anderes beginnt mit der Zeile Once there was a child and was free. Sein Titel ist Magical child, und kein Zweifel, wer mit dem magischen Kind gemeint ist:

He knew his power was the power of God
He was so sure, they considered him odd
His power of innocence, of compassion, of light
Threatened the priests and created a fright
In endless ways they sought to dismantle
This mysterious force they could not handle

Soothsayers came and fortunes were told
Some were vehement, others were bold
In denouncing this child, this perplexing creature
With the rest of the world he shared no feature
Is he real? He is so strange
His unpredictable nature knows no range
He puzzles us so, is he straight?
What's his destiny? What's his fate?

And while they whispered and conspired
Through endless rumors to get him tired,

- ließ sich das magische Kind nicht ins Boxhorn jagen und blieb wie es war:

Don't stop this child, he's the father of man
Don't cross his way, he's part of the plan
I am the child, but so are you
You've just forgotten, just lost the clue
Deep inside, you know it's true
Just find the child, it's hiding in you.

Na, da hast du dir was vorgenommen, kleiner Michael.

Die gegenwärtige Welttournee ist der dramatische Knoten. Sie muß zeigen, ob sich Magical Child Jacko behauptet und zurückkehrt wie Phönix. Sie entscheidet darüber, ob er nur ein Entertainer ist, und sei's auch der größte von allen, oder ein Jahrhundertereignis, das eine neue Zeit verheißt.







Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen