2. Black & white.

oder 
Wie der Rhythm&Blues zur Musiksprache der Welt wurde


Michael sagt immer, die Musik, die er macht, ist für jedermann.
Aber die Musikindustrie würde es trotzdem Rhythm and Blues nennen
 - weil er ein Schwarzer ist.
Katherine Jackson

Musik hat keine Hautfarbe.
 Michael Jackson

Der kleine Randy, der noch nicht mitdurfte, stand in seinem Klassenzimmer und fuhr mit dem Finger über den Globus. Wo lag das sagenhafte Motown? Er fand es nicht. Motown, Motor town - das ist Detroit, die Stadt, aus der jedes zweite amerikanische Auto kam. Nirgends sonst gab es ein so großes schwarzes Industrieproletariat, während andererseits die - knappe - weiße Bevölkerungsmehrheit weitgehend aus Neueinwanderern bestand, aus aller Herren Länder bunt zusammengemischt. Das waren günstige Bedingungen für die Entfaltung einer selbständigen schwarzen Kulturszene, und so wurde Detroit in den fünfziger Jahren zu einer Hauptstadt des Rhythm&Blues. Es war die städtische, nördliche Hauptstadt. Die südliche, ländliche war Memphis am Mississippi, Elvis Presleys zweite Heimat. Beide Musikzentren konkurrierten miteinander, und die unterschiedlichen Lebensumstände hatten an beiden Stellen einen jeweils eigenen Klang hervorgebracht. Für Memphis stand die Plattenfirma Stax. Sie war Motowns großer Gegenspieler. Jedenfalls, was den Ruhm anlangt. Denn geschäftlich beherrschte Detroit das Feld. Motown war eine schwarze Legende geworden, und dort zog es Joe Jackson hin. Motown war die Garantie für eine ganz große Karriere.

So saßen Joe und die Jungens also wieder in ihrem VW-Bus und quälten sich über endlose Landstraßen von den Stränden des Michigan-Sees zum Ufer des Detroit-River. Die Ochsentour durch den Chitlin Circuit sei ihm wie eine Runde Monopoly vorgekommen, erinnert sich Michael später. Der Sieg im Apollo, das war die Parkstraße. „Jetzt waren wir auf dem Weg zur Schloáallee - zu Motown.“

Wie hatte es schließlich doch noch geklappt? Später waren mehrere Versionen darüber im Umlauf, wer die Jackson 5 für Motown entdeckt habe. Die offizielle, von der Firma selbst verbreitete Variante war, daß Diana Ross, Motowns Superstar jener Tage, die Jungens bei einem Auftritt im Wahlkampf für Garys schwarzen Bürgermeister Richard Hatcher erlebt und ihre Neuentdeckung sogleich an ihren Boß Berry Gordy gemeldet habe. - Die Ansprüche von Gladys Knight haben wir schon erwähnt. Nach einer dritten Lesart hat Joe Jackson während eines Auftritts im Chicagoer Regal Bobby Taylor angesprochen, den Kopf der Vancouvers, und der habe ihm zugesagt, bei Motown ein Wort einzulegen. Diese Version hat den Vorzug, von den Jacksons bestätigt zu werden. Bobby Taylor hat Wort gehalten. Am 23. Juli 1968 trafen die Jackson 5 in Motowns legendärem Aufnahmestudio Hitsville, USA ein - 2648, West Grand Boulevard. Es ist heute ein Museum, aber damals kam es den Jackson-Brüdern etwas heruntergekommen vor. Sie waren enttäuscht. Der Empfang war geschäftsmäßig. Es wimmelten viele Leute durch die Gänge, Joe Jacksons Kinderband war nur eine von vielen Gruppen, die zum Vorspielen gekommen waren. Aber immerhin, man kannte ihren Namen, sie wurden erwartet, und im Studio waren die Instrumente und Mikrophone schon für sie aufgebaut, und sogar eine Filmkamera. Der große Boß selber war nämlich - nicht da. Ihr Auftritt wurde aufgezeichnet, und so kommt es, daß man heute bei jeder besseren Michael-Jackson-Retrospektive in schwarz-weiß bewundern kann, wie gut der noch nicht ganz Zehnjährige seine... James-Brown-Schritte geübt hatte. 
Als ihr Programm vorüber war, gabs keinen Beifall, keinen Kommentar, nur ein höfliches „Danke, daß ihr gekommen seid“. Das wars auch schon. Die Jungen waren perplex. Wie waren sie gewesen? Gut? Aufgeregt - und unprofessionell? Bislang hatten sie noch stets vor einem hingerissenen Publikum gespielt, das über den Professionalismus dieser Kinder nur staunen konnte. Doch bei Motown verblüfften sie niemand. Professionalität wurde dort vorausgesetzt - sonst hätte man sie ja gar nicht eingeladen. Und jetzt schickte man sie wortlos fort! ‚Man werde von sich hören lassen‘... Aufgelöst zwischen Hoffnung und Zweifel machten sie sich auf den Heimweg.

Was sie nicht wußten: Nur ein paar Stunden nach ihrem Auftritt hatte Berry Gordy sich die Filmaufnahmen angesehen und seinen Produktionsleiter Ralph Seltzer angewiesen, die Verträge für die Kinderband auszuarbeiten.

Denn die wichtigen Dinge bei Motown bestimmte der Boß allein. Berry Gordy stammt aus dem schwarzen Mittelstand. Sein Vater, der in den dreißiger Jahren aus Georgia nach Detroit gezogen war, betrieb mehrere Geschäfte. Auch der 1929 als Jüngster von acht Kindern geborene Berry hatte von Jugend auf einen Sinn fürs Geschäft; aber nicht gerade für die langweiligen Gemischtwarenläden seines Vaters. Er wollte höher hinaus. Er interessierte sich früh für Musik und hatte mit einem selbstgeschriebenen Song immerhin einen lokalen Talentwettbewerb gewonnen. Und natürlich versuchte er sich auch im Boxen. Aber seine 1,60 m Länge reichten wohl doch nicht zum Champion. Als er neunzehn war, trat er sogar zum Golden-Glove-Contest der Amateure an, mußte aber mit zugeschwollenem Auge zusehen, wie ein erst sechzehnjähriger Freund die Trophäe gewann. Der Freund hieß Jackie Wilson.

1953 hat Berry Gordy mit ein paar hundert Dollar, die er vom Vater geliehen hatte, sein erstes Geschäft eröffnet, einen Schallplattenladen. Aber den Kunden muß sein Angebot nicht gefallen haben. Er hatte sich für Charlie Parker und Thelonius Monk begeistert, doch der Bebop galt bei der Masse des schwarzen Publikums als versnobt. Nach zwei Jahren war Berry pleite und fing bei Ford am Fließband an. Aber er schrieb weiter Songs, und 1957 hatte sein Freund Jackie Wilson mit Reet Petite seinen ersten großen Erfolg; auch Lonely Teardrops stammt von Gordy. Im selben Jahr machte er die Bekanntschaft von William „Smokie“ Robinson und dessen Band, wurde ihr Manager und machte sie als The Miracles in und um Detroit bekannt. Er produzierte auch gleich eine Platte mit ihnen, die von einer New Yorker Firma vertrieben wurde und ganz gut ankam. Der frischgebackene Producer und seine Musiker bekamen dafür einen Scheck über - sage und schreibe $ 3,19.

Das sollte ihm eine Lehre sein!

Kaum daß man sich mit der Geschichte der schwarzen Musik beschaftigt, stößt man gleich auf das Stichwort control. Der Erfolg der schwarzen Musik über die Rassenschranken hinaus, auch beim weißen Publikum - das war eine Sache. Aber der Erfolg der schwarzen Musiker? Das war was anderes. Sie hatten in aller Regel nichts von ihrem Ruhm, oder doch nur soviel, wie die Firmen abgeben mochten. Und die Firmen waren stets in weißen Händen. Sie zahlten den schwarzen Musikern nur einen Bruchteil dessen, was weiße Interpreten bekamen. Es nutzte nichts, zur Konkurrenz zu gehen. Die machten es ebenso. Ja, auch die „schwarzen“ Rundfunkstationen gehörten Weißen. Die bezahlten ihre schwarzen Disc-Jockeys (ohne die es keine Einschaltquoten gab) so schlecht, daß viele sich schmieren lieen, um diese oder jene Platte über den Äther zu schicken - payola nannte man das. Da mußten die schwarzen Musiker auch noch dafür zahlen, daß die Platten, für die sie nichts bekamen, wenigstens gespielt wurden! Das ganze Show Business, der Mainstream, wo man wirklich Geld verdienen konnte, d. h. alles, was über den Chitlin Circuit hinausging, befand sich fest in weißer Hand. Ein Schwarzer, der beim breiten Publikum Erfolg hatte - und solche gab es ja, wie Louis Armstrong oder Nat „King“ Cole -, wurde zum Leibeigenen seines (weißen) Managements, fast wie zu Zeiten der Sklaverei. Sie mußten sich ihnen schließlich auch künstlerisch unterwerfen. Und wer sich einmal mit dem Mainstream der Pop-Musik eingelassen hatte, kam nicht wieder davon los. Also wurde es Zeit, daß die schwarzen Künstler die control über ihre Karrieren in die eignen Hände nahmen!

Auch in diesem Punkt war James Brown der Pionier. Er hat bis heute ein unbezähmbares Temperament, das sich nirgends ein-, geschweige denn unterordnen kann. Auch bot seine wilde und, nun ja, etwas grobe Musik - die sich, seiner eigenen Herkunft treu, am Geschmack des ärmsten Teils der schwarzen Landbevölkerung im Süden orientierte - kaum Aussicht auf Erfolg beim Mainstream-Publikum. So war keine der großen amerikanischen Firmen je scharf darauf, ihn in ihre Botmäßigkeit zu locken. Da mußte er eben „alles alleine machen“. Bei einem schier unglaublichen Arbeitspensum - über 300 Konzerte im Jahr, praktisch jeden Tag eines! - hatte er sich sozusagen mit Gewalt ins große Geschäft gezwungen. Er war alles zugleich - Sänger, Tänzer, Manager, Songschreiber, Arrangeur, Produzent, Impresario, Konzernchef... Damit hat er im Laufe der Jahre Millionen verdient, kaufte Rundfunk- und Fernsehstationen, einen Musikverlag, besaß eine Künstleragentur und eine Restaurantkette - und hat zwischendurch auch immer wieder mal alles verloren. Und dabei blieb er stets sein eigner Herr. Der amerikanische Traum wie im Bilderbuch - aber ganz in schwarz.

Doch auch James Brown hatte gelegentlich Anlaß, sich über selbstherrliche Eingriffe der (europäischen) Plattenfirma Polydor in seine Arrangements zu beklagen: Die „verstanden eben nichts von schwarzer Musik“! Berry Gordy, mehr Geschäftsmann als Kampfmaschine, wählte von vornherein einen andern Weg. Im Januar 1959 lieh er sich nochmal $ 800 von seinem Vater und gründete seinen eigenen Plattenverlag. Firmensitz wurde jenes Einfamilienhaus, das die Jackson-Jungens so enttäuscht hatte. Motown Records Corporation war das Firmendach, Tamla hieß das erste Plattenlabel, zu dem im Lauf der Jahre noch andere hinzukamen.  Motowns erster Star wurde Smokey Robinson mit seinen Miracles.

Berry Gordys Unternehmensphilosophie war klar. Das Marktsegment der schwarzen Plattenkäufer war zu schmal, um auf Dauer seine geschäftliche Unabhängigkeit zu sichern. Schon früher hatte es Plattenlabels in schwarzer Hand gegeben. Aber sobald ihre Musik Erfolg hatte, wurden sie von einer größeren und natürlich weißen Gesellschaft geschluckt. Man mußte auf eigene Rechnung in den Markt des Mainstream eindringen, wollte man seine Unabhängigkeit wahren. Schwarze Musik so produzieren, daß sie für die Masse der Weißen anhörbar wird - das war Motowns Geschäftspolitik. Es wurde auch ein Kunstprogramm. Ja, es wurde sogar zu einer kulturpolitischen Losung; zu einem Moment im Emanzipationskampf der nordamerikanischen Neger (so hieß das damals).

Über das Verhältnis von schwarzer und weißer Musik wird viel herumgeheimnißt. Über U-Musik wird noch seltener ohne Eigeninteresse geschrieben als über eine andere Kunstsparte - es ist ja auch mehr Geld im Spiel. Mystifikationen aller Art bieten Stoff für literarische Kontroversen und fördern den Umsatz. Und über allem, wo sich die sogenannte Rassenfrage einmischt, liegt eine Dunstglocke.

Es gibt eine handgreifliche und unzweideutige Unterscheidung von weißer und schwarzer Musik. Das sind die Billboard charts. Die Zeitschrift Billboard wendet sich an den kommerziellen Teil der Unterhaltungsindustrie. Sie handelt vom Geschäft. Händler und Werbeleute müssen wissen, was sich wie und wo verkauft, und also stellt Billboard seit den vierziger Jahren wöchentlich eine Bestseller-Liste zusammen. Die Plazierung ergibt sich aus einem im Lauf der Jahre immer weiter verfeinerten System, wo die Verkaufszahlen mit den Sendezeiten im Radio verrechnet werden; wobei natürlich auch Reichweiten und Einschaltquoten zu berücksichtigen sind. Nun bevorzugen das weiße und das schwarze Publikum der Vereinigten Staaten jeweils andere Programme - damals wie heute. So lag es im Interesse der Geschäftswelt, schwarze und weiße Sender gesondert zu erfassen, und es entstanden neben den allgemeinen, d. h. „weißen“ Pop charts die sogenannten Black charts. Was „schwarze“ und was „weiße“ Musik ist, kann man daran ablesen, daß ein Stück auf der einen Liste ganz oben, auf der andern ganz unten steht. Dabei mag die Hautfarbe der Interpreten für das Publikum eine Rolle spielen, aber nicht für die Plazierungen in den Billboard Charts. Seit Jahren ist es üblich, daß sechs bis sieben der Top Ten-Pop-Titel von Schwarzen stammen, und bei den Top Ten der Black Charts finden sich auch weiße Interpreten (letzthin allerdings seltener). Immer wieder mal konnte ein Stück auch von der einen auf die andre Liste überspringen und war in beiden ganz oben. Dann sprach man von crossover. Dieses heute in vielfältiger Bedeutung gebrauchte Schlagwort hatte ursprünglich nur diesen Sinn.

Praktisch war aber immer nur die eine Richtung gemeint: von schwarz nach weiß; selten umgekehrt. Gibt es womöglich doch einen hörbaren Unterschied in der Musik?! Mit Sicherheit gibt es einen im Geschmack der jeweiligen Hörerschaft. Schwarze und weiße Hörer erwarten offenbar je etwas anderes, wenn sie eine Schallplatte auflegen, das Radio anschalten oder ins Konzert gehen.

Unter Anthropologen und Kulturhistorikern wird gerätselt, ob die Musik ursprünglich aus dem Tanz oder aus der Nachahmung des Vogelgesangs entstanden sei. Vergleicht man europäische und afrikanische Musik, möchte man meinen: in Europa aus dem Vogelgesang, in Afrika aus dem Tanz. Auch die entwickelten, die ‚Kunstformen’ afrikanischer Musik verleugnen nie ihre kultisch-rituellen Wurzeln im Gemeinschaftstanz; denn immer ist es der Rhythmus, der herrscht. Mit der Kunstmusik Europas ist das nicht so einfach. Seit sich im 18. Jahrhundert die italienische Sonatenform, die aus dem Kirchengesang stammt, gegen die französische Suitenform durchgesetzt hatte, die vom höfischen Gesellschaftstanz herkam, wurde in Europa die Melodie zum beherrschenden Moment der Musik. Mit der Wiener Klassik verdrängt die deutsche Musik die italienische aus ihrer Vormachtstellung (abgesehen von der Oper). Mit dem Zeitalter der Romantik wird schließlich das Lied zum Inbegriff und Grundmuster der europäischen Musik. Das hat weitreichende Folgen für deren Grundcharakter; und schließlich auch für den Grad ihrer Hörbarkeit, d. h. Popularität. Das Nebeneinander oder Übereinander von menschlicher Stimme und instrumenteller Begleitung wirft harmonische Probleme auf und fordert zu thematisch-motivischer Arbeit heraus. Fragen der Konstruktion ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Es ist aber, mit Theodor W. Adorno zu reden, das „Ausdruckslose der Konstruktion“, das den Boden bereitet für die Trennung zwischen Kunst und Publikum in der Bildungsmusik des 20. Jahrhunderts - und auch für die Verselbständigung der Musikkritik als Erwerbszweig. Der Ausdruckscharakter der Kunst tritt jetzt ganz auf die Seite des Interpreten. Ausdruck ist ein zwischenmenschliches Ereignis, hier und jetzt. Will man es als geronnene Form konservieren, wird es leicht zur Karikatur (das künstlerische Grundproblem des Filmschauspielers). Und wenn sich gar ein Komponist daranmacht, Ausdruck thematisch zu „konstruieren“, kommt doch immer nur pompöser Kitsch zustande. Man mag sagen, gerade die Spannung zwischen der konstruktiven Idee des „schreibenden“® und dem Ausdruck des „darbietenden“ Künstlers habe die europäische Kunstmusik lebendig gehalten. Andererseits läßt sich über geschriebene Musik aber auch mehr - schreiben. Formanalyse wird zum Hätschelkind der Musikologie, und die kann man zur Not auch mit Fleiß betreiben; ohne ästhetische Intuition. Kritik seither auch. Es beginnt eine Art ‚Vertextung’ der europäischen Musik. (Lieben Sie Bach?) Es kann daher kaum überraschen, daß der kritischen Zunft die „weiße“ Musik als Musik schlechthin vorkommt: Sie sind vom selben Stamm. Und schließlich konnte eine Musik aufkommen, die für Kritiker gedacht ist, nicht für Hörer...

Warum dieser Ausflug in die europäische Kunst-Musik, wo es um schwarze U-Musik geht? Das, was der „schwarzen“ Musik in den Billboard-Charts als Mainstream-Pop gegenübersteht, nein - gegenüberstand, ist nämlich nicht aus einer einheimischen, traditionellen amerikanischen Volksmusik hervorgegangen, sondern aus Hollywood. Der große Aufschwung der durch Radio und Schallplatte verbreiteten Tanz- und Unterhaltungsmusik seit den zwanziger Jahren verdankt sich - auf beiden Seiten des Atlantiks - dem Siegeszug des Kinos. Dessen Musik stammt nicht aus der Volkstradition, sondern aus der Trivialisierung der europäischen Kunstmusik, wie sie auf dem New Yorker Broadway geschah. Noch heute haben „ernste“ amerikanische Komponisten ihren Brotberuf in Hollywood, um nebenher, als künstlerisches Steckenpferd, „richtige Musik“ schreiben zu können - für die sie kein Publikum fänden. Natürlich fanden in die Filmkompositionen alsbald, je nach Genre, reichlich Jazz- und Country-Elemente Eingang, aber doch nur als Kolorit in einem sonst weißen Klangtableau. Das war es, wogegen die „schwarze“ Musik Amerikas konkurrieren mußte.

Ist nun wenigstens diese schwarze Musik Volksmusik?
Womöglich afrikanische Volksmusik?!

Über die afrikanischen Wurzeln der schwarzamerikanischen Musik sind die Meinungen geteilt. Gerade unter Leuten, die etwas davon verstehen müßten. Michael Jackson erinnert sich an seinen ersten Besuch in Afrika, als er vierzehn war: „All right! I've got the rhythm! Das ist's! Da komme ich her. Der Ursprung. Da gibt es eine Verbindung, weil da die Wurzeln von allem Rhythmus liegen. Da ist mein Zuhaus.“ Man merke es schon daran, wie sich die Kinder bewegen; selbst die Babies wiegen sich im Takt der Trommel...

Ganz anders James Brown, der Godfather Of Soul: „Mit der afrikanischen Musik und mir ist es komisch. Ich wußte nicht einmal, daß es sie gab. Als mir Afrika bewußt wurde und ich beschlossen hatte zu sehen, wo meine Wurzeln sind, dachte ich, ich würde erfahren, woher ich das alles hatte. Aber als ich nach Afrika kam, erkannte ich nichts, was ich von dort hätte haben können.“

Natürlich spielte der Kult um die afrikanischen Wurzeln seine Rolle beim Erwachen eines schwarzen Selbstgefühls im Amerika der sechziger Jahre. Es ist aber viel Mythisches dabei. Die Einzigartigkeit der Situation der Schwarzen in den USA kommt doch daher, daß ihren Vorfahren, als sie in Amerika an Land gingen, außer ihrer Hautfarbe gar nichts geblieben war, das sie aus Afrika hätten mitbringen können. Sie waren als Volksgruppe in einer so umfassenden Weise enteignet worden, wie man ein einzelnes Individuum gar nicht enteignen kann. Sie hatten nicht nur ihre Heimat und ihren Besitz verloren. Man nahm ihnen auch ihre Namen, ihren sozialen Zusammenhang. Sie verloren ihre Sprachen, ihre Riten, ihre Zeichen, ihre Manieren, ihre Mythen. Selbst die elementarste Verwandtschaftsbeziehung, die zwischen Eltern und Kindern, wurde regelmäßig und absichtsvoll zerrissen. Kein Stamm, keine Sippe, keine Vaterschaft - und auch Mutterschaft hing immer an einem seidenen Faden. An deren Stelle traten der Aufseher, ein alttestamentarisch furchterregendes Christentum und ein rudimentärer englischer Wortschatz, der grademal zur Verständigung über das Nächstliegende taugte. Subtilere Dinge konnte man nicht mehr aussprechen; allenfalls singen...

Die afrikanische Musik aber war Tanz, und der ist an die Kultgemeinschaften der Dörfer und Stämme gebunden. Schwer vorstellbar, wie sie in der Sklaverei hätten überdauern sollen - wenn sich nicht einmal die afrikanischen Sprachen hatten halten können! Auf den Baumwollplantagen wurden Menschen aus verschiedenen Landstrichen, aus unterschiedlichen Völkern, aus lokal isolierten Kulturen zu einem künstlichen Kollektiv zusammengepreßt. Aber gerade als Kollektiv waren sie enteignet.

Alle persönlichen Unterschiede der Herkunft, des Verdienstes, der Sitte, des Mutes und der Klugheit waren hier ausgelöscht. Gemeinsam war die Hautfarbe. Darüberhinaus gab es lediglich - die Körperbeschaffenheit des einen und des andern. Über acht bis zehn Generationen war die einzige Chance zur Individuation, die den schwarzen Amerikanern offenstand, der Typus des Uncle Tom - der gegen seinen weißen Massa unterwürfige Neger, der, wo er kann, heimlich eine schützenden Hand über seine fella niggas hält, wie in Harriet Beecher-Stowes Erfolgs-roman „Onkel Toms Hütte“; ein Typus, der in der (auch in Europa populären) TV-Serie Roots allzu überzeugend von Lou Gosset Jr. dargestellt wird. Der Typus des selbstbewußten Rebellen hingegen, der dort in der Rolle des Kunta Kinté verkörpert ist, lebte in der Wirklichkeit nicht lange - und schon gar nicht bekam er die Chance, sich fortzupflanzen; weder physisch noch moralisch.

‚Über kein Thema wird in Amerika mehr gelogen als über das Rassenproblem’ - Roots ist ein Beispiel dafür. Nicht aus bösem Willen, sondern wegen der praktischen Erfordernisse Hollywoods: Als eine farbenkräftige, schreckliche, hochdramatische Geschichte wird im Zeitraffertempo in Szene gesetzt, was in Wahrheit ein ödes Jammertal war ohne Trost, ohne Ende, ohne Ausweg. Der Drang zur Selbstbehauptung ist zwar unausrottbar, aber unter den Negersklaven mußte er sich verkleiden - in der Maske des Clowns. Der lebte (wie sein ferner Verwandter, der Narr an den Fürstenhöfen Europas, der Prolet unter den Intellektuellen) grad gefährlich genug, und oft mußte er sich in die Musik flüchten, um seine Spuren zu verwischen. Die kindisch-alberne, singende und tanzende Clownerie ist der Tarnanzug, unter dem die schwarze Aufsässigkeit gegen das Herrenmenschentum überleben konnte. Das Clowneske ist nicht der geringste Beitrag, den die schwarzamerikanische Musik zum Entstehen der Unterhaltungsindustrie geleistet hat. Und, wenn ich vorgreifen darf, zur Weltkultur des 20. Jahrhunderts: Der Engländer Charles Chaplin wurde in Amerika zum (ersten) Weltstar. Ganz als wäre es selbstverständlich, betrachtet sich der schwarze Amerikaner Michael Jackson heut als sein Erbe.

Nein, es ist kaum vorstellbar und ist auch nie im Detail dargelegt worden, daß die schwarzen Sklaven originäre musikalische „Elemente“ aus Westafrika nach Amerika mitgebracht hätten. Es fällt im Gegenteil auf, daß die Melodik der schwarzamerikanischen Musik, von den frühesten Dokumenten des Jazz bis heute, aus dem Fundus europäischer Marsch- und Volksmusik schöpft. Wer Melodie sagt, sagt immer auch Harmonik. Stets werden als die harmonische Besonderheit schwarz-amerikanischer Musik die blue notes des Jazz genannt, d. h. der regelmäßige Gebrauch der verminderten Terz (statt z.B. von C zu E - von C zu Es) und der verminderten Septime (statt von C zu A - von C zu As) auch in den Dur-Tonarten, so daß der Unterschied zwischen Dur und Moll verschwimmt. Die Blue notes werden üblicherweise daraus erklärt, daß in Westafrika pentatonische Tonsysteme üblich gewesen seien, und nicht, wie im europäischen Oktavsystem üblich, auch die drei Halbtonschritte. Bei dem Bemühen der Negersklaven, die in Amerika vorgefundenen europäischen Melodien nachzusingen, seien harmonische Unsicherheiten aufgetreten; die Blue notes seien das Resultat eines Konflikts zwischen afrikanischer und europäischer Kultur. Nun, die Erfahrung macht gegen allzu plausibel klingende Erklärungen mißtrauisch; sie stimmen selten. Doch wie dem auch sei - die Blue notes wären in diesem Fall keine afrikanische Eigenart, die nach Amerika importiert wurde, sondern der unbeholfene Versuch eines Volks, dem buchstäblich alles genommen worden war, sich wenigstens die Brosamen anzueignen, die die weiße Herrschaft von ihren Tischen fallen ließ. (Die flattet fifth, verminderte Quinte, ist übrigens ein Manierismus, der erst in der Bebop-Ära in den Jazz eingeführt wurde.)

Ebenso einleuchtend (und mit der obigen Deutung nicht im Widerspruch) wäre die Annahme, daß das „Schweben“ der Musik zwischen den Tongeschlechtern Dur und Moll und die dadurch hervorgerufene elegische Grundstimmung dem Lebensgefühl der Negersklaven entsprach. Der Unterschied zwischen „schwarzer“ (amerikanischer) und „weißer“ Musik läßt sich kaum an einzelnen Bestandteilen dingfest machen, die man benennen und herauslösen könnte. Er liegt wohl mehr in einer unterschiedlichen Einstellung zur Musik, einer unterschiedlichen Erwartung an die Musik. Die aber macht sich nie entweder-oder, sondern immer nur mehr oder weniger geltend. Während der Schwerpunkt der europäisch-weißen Musik auf der Melodie und der guten Form liegt, liegt er bei der schwarz-amerikanischen Musik auf dem Rhythmus und dem Ausdruck.

Freilich sind Melodie und Rhythmus nicht zwei verschiedene Zutaten, von denen man mal mehr, mal weniger nehmen kann, wie es grad gefällt. Wollte man Melodie und Rhythmus je für sich definieren, ohne Bezug aufeinander, geriete man in bodenlose Spitzfindigkeiten. Die Musik ist immer nur eine; aber sie hat verschiedene „Seiten“. Melodie und Rhythmus sind gewissermaßen zwei Pole, zwischen denen die Musik „verläuft“ wie ein elektrischer Strom: Es herrscht Spannung. Besser gesagt, der Rhythmus baut die Spannung auf, die Melodie löst sie wieder. Das ist grob und schematisch, und wenn man es allzu wörtlich nimmt und ins Detail geht, wird es manchmal falsch. Aber ästhetische Sachverhalte lassen sich nicht in Worte fassen, es sei denn, man nimmt sie bildlich...

Der Rhythmus ist nur in der Zeit. Er muß gespielt werden. Ist die Musik aus, ist er weg. Er ist eine Abfolge von verdichteter und verdünnter Zeit. Mit der Melodie ist das anders. Sie ist zwar auch ein Nacheinander (von Tönen), aber sie ist zugleich Form, und also ein bißchen „im Raum“. Man erkennt es an der Notation. Die Melodie läßt sich auf dem Papier als sichtbare Linie nachzeichnen - und nachdenken. Menschen, die mit dem absoluten Ohr begabt sind, können sie gleichsam „vom Blatt hören“. Man kann sich noch lange an sie erinnern, nachdem sie verklungen ist - und kann sie später wiedererkennen. Den Rhythmus aber muß die Phantasie des Musikanten jedesmal neu hinzugeben. Er ist immer an den gebunden, der gerade spielt, und läßt sich in der Notation nur andeuten - wenn etwa Jazz-Rhythmen durch sog. Synkopen wiedergegeben werden. Noch unlängst glaubte man sogar, die mittelalterliche europäische Musik sei stets monodisch-psalmodierend vorgetragen worden, weil in der Neumen-Notation nicht einmal der Taktstrich vorkommt. Dabei ist der auch nur ein vager Anhaltspunkt, der dazu taugt, daß - man sich über ihn hinwegsetzt. „Rhythmus ist Verstoß gegen den Takt“, schrieb der entwurzelte Russe Igor Strawinski, und kam damit der „schwarzen“ Musik überraschend nahe. (Allerdings meinte er auch, die Musik drücke „gar nichts“ aus - was sehr konstruktiv gedacht war.)

Als Grundtatsache der schwarz-amerikanischen Rhythmik gilt der swing. Allerdings: In Afrika gibt es keinen Swing. Auch nicht in der frühen New-Orleans- und Ragtime-Musik; deren Rhythmen waren eindeutig und entsprachen dem Takt: die Schwerpunkte lagen, ganz europäisch-konventionell, auf den „starken“ Taktteilen 1 und 3. (Im Dixieland lag sie auf 2 und 4, aber das ist kaum was anderes.) Es bedurfte der kommerziellen Verselbständigung der schwarzen Unterhaltungsmusik, damit sich der Unterschied zwischen expressiver Rhythmik und förmlichem Taktschlagen zum Gegensatz verschärfen konnte. Der Swing entstand daraus, daß sich (im Jazz) die Melodie-Stimme (Klarinette, Saxophon, Trompete...) erlaubt, einen andern Rhythmus zu singen, als der Begleitbaß vorschlug: er 1 und 3, sie 2 und 4, off beat. Freilich, „was Swing ist, läßt sich nicht aufzeichnen. Man kann nicht einmal sagen, was es ist“, schrieb der deutsche Jazz-Historiker Joachim E. Behrendt. Man kann allenfalls erzählen, wo es herkam. Aber seither hat er sich zum beherrschenden Moment nicht nur des schwarzen Rhythm and Blues, sondern auch der „weißen“ Rockmusik entwickelt (sofern sie diesen Namen noch verdient). Der Swing ist die Elementarform jener „Polyrhythmik“, die später zum Kennzeichen des Funk-Soul werden und ihren Meister in Michael Jackson finden soll.

Übrigens: „Rhythm and Blues“ ist kein Stilbegriff, sondern eine Vermarktungskategorie. Bis 1945 hatte Billboard seine Black Charts unter dem Namen The Harlem Hit Parade veröffentlicht, dann änderte das Blatt den Titel, dem Sprachgebrauch der Schwarzen folgend, in Race Music ab - was allerdings bald als diskriminierend empfunden wurde, und so hieß die Rubrik seit 1949: Rhythm and Blues. Das ist alles.

Rhythmisch betont war die schwarze Musik immerhin, und daß vieles vom Blues herkam, stimmt auch. Nun folgt zwar der Blues-Song einem strengen Formschema, aber stilistisch ganz so eindeutig, wie man heute, nach seiner puristischen Verengung auf ein (meist weißes) Liebhaber-Publikum glauben machen will - ganz so eindeutig ist er nicht. Und er war früher auch nicht viel schwärzer als heute. Der Blues hat seinen Namen nicht von den Blue notes. Wie jene, kommt er von feelin' blue, womit jene eigenartig schwermütige Stimmung gemeint ist, wenn einen plötzlich die Frage nach dem Sinn des Daseins erwischt; wenn man um sich sieht und auf einmal nur noch Fremde erblickt; wenn alles festgefahren scheint... Im Blues ist immer irgendwas kaputt. Eine Gemütsverfassung, die bei den Armen öfter vorkommt als bei den Reichen und Schönen. Zwar gab und gibt es im Süden der USA auch eine Menge poor whites. Aber die Schwarzen waren alle arm. Bei den Weißen war einiges, bei den Schwarzen war eigentlich alles kaputt. Every Day I Have The Blues, hieß B.B. Kings erster großer Plattenerfolg. Und so galt die Sorte von Liedern, in denen sich das feelin' blue Ausdruck und Erleichterung verschaffte, eben auch als „typisch“ schwarz. Aber exklusiv schwarz war sie nicht. Ein Gutteil der „weißen“ Country- und Westernmusik könnte man ebensogut als Blues einordnen, sowohl der Form als dem stimmungsmäßigen Gehalt nach. Das Etikett C&W ist so wenig ein Stilbegriff wie R&B, sondern auch nur eine Vermarktungskategorie, eingeführt 1949 von Billboard als Name für das Konsumverhalten des weißen Landproletariats in den Südstaaten. Und natürlich hören nicht nur Weiße C&W: „Meine Mutter wuchs in Alabama auf, und in diesem Teil des Landes war es für Schwarze ebenso normal, mit Country&Western-Musik aus dem Radio großzuwerden, wie mit Kirchenliedern“, schreibt Michael Jackson.

Im Blues herrscht eine gedrückte Stimmung. Der Bluessänger präsentiert sich als Einzelgänger, ein Glück- und Heimatloser. Immer ist er irgendwie Opfer, und meistens klagt er. Nobody loves me, nobody seems to care, sang B.B. King in besagtem Stück, keiner liebt mich, keiner schert sich um mich. Der ursprüngliche country blues wurde in den dreißiger Jahren von der Landstraße in die Cafés der Schwarzenviertel der nördlichen Großstädte hineingetragen und wandelte sich da zum city blues, der auch anders klang, schneller, härter, aggressiver; und tanzbarer. Hier wird der Blues zur „schwarzen“ Kunst. Er ist der fruchtbare Boden, aus dem sich der ewig totgesagte Jazz immer wieder regeneriert. Der Jazz selbst war aber stets eine Kunst von Eliten für Eliten, schwarze und weiße. Und eine kommerzielle Kunst: nur für ein gut zahlendes Publikum. Der städtische Blues war zugleich auch ein sprudelnder Quell für die Unterhaltungsmusik der einfachen Leute. Auch eine kommerzielle Kunst - nur nicht so teuer ! Jede neue, lebenskräftige Form wird durch zu lange Nutzung verschlissen, dann wird sie flach und schal. Aber nicht, weil sie „kommerzialisiert“ wurde - das sagen nur die, die selbst keinen Erfolg hatten. Hier ist überall von Unterhaltungskunst die Rede, und die ist kommerziell, von Anbeginn. Sie ist nicht echt oder unecht, sondern gut oder schlecht. (Bloß für Applaus und gute Worte tun's die Berliner Philharmoniker übrigens auch nicht.)

Der Blues ist nur eine, nämlich die profane und „sündige“ Quelle der schwarzen Unterhaltungsmusik. Die andere ist der Gospel, die geistliche Quelle. Gospel, das ist The Good Spell, die Frohe Botschaft. Das einzige, was in der schwarzen Welt nicht kaputt war. Unnötig zu sagen, daß auch die christlichen Kirchenlieder nicht aus Afrika mitgebracht wurden. In den Nachbarschaften der Südstaaten lebten Schwarze und Weiße, bei aller Segregation, doch näher beieinander, als heute in den nördlichen Metropolen, wo die Innenstädte schwarz, die Vororte weiß sind. Die neuen religiösen Erweckungsbewegungen, die seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts durchs Volk gingen, waren bei der Hautfarbe nicht wählerisch - Hauptsache, es kamen viele. In den Kirchlein und Andachtsräumen des ländlichen Südens wurden, diesseits von schwarz und weiß, so ziemlich dieselben Spirituals gesungen. Allerdings wurden sie, je nach Zusammensetzung der Gemeinden, verschieden intoniert, zumal seit den dreißiger Jahren, als bewußt Jazz-Klänge in die schwarzen Gebetssäle hineingetragen wurden - und so Gospel im engeren Sinn entstand.

Nicht nur die musikalischen Formen des Gospel, sondern auch seine Interpreten fanden Eingang in die Unterhaltungsmusik. Schon der Blues zeigt Elemente des - als typisch afrikanisch geltenden - call-and-response-Schemas: In einem (viertaktigen) ersten Teil wird eine Frage formuliert; in den folgenden vier Takten wird sie wiederholt. Im ebenfalls viertaktigen Schluß gibt der Sänger sich endlich selbst eine Antwort. Dies Schema ist im Gospel vereinfacht und akzentuiert. Der Vorsänger (Prediger) redet die Gemeinde an, die Gemeinde antwortet im Chor - und die klassische Strophenform des europäischen Volkslieds ist „neu erfunden“. (Der Refrain heißt in der amerikanischen Unterhaltungsmusik seither chorus - wie auch der melodiöse Solovortrag im Jazz.) Vom Blues kommen die Themen - das Rassenthema, der Geschlechterkampf, die Not; und das Instrumentarium: Baß, Bläser, Schlagzeug - und vor allem die Gitarre! Aus dem Gospel kommt die spezifische Verbindung von ekstatischer Rhythmik mit einer Melodik, die mehr an der Musik als am Wort orientiert ist. Es ist kein Zufall, daß die größten R&B-Interpreten, von Little Richard über Ray Charles bis James Brown und Stevie Wonder, vom Gospelgesang herkommen - und übrigens auch Elvis Presley. Unterstrichen wird die größere Bedeutung der Melodie durch den Einsatz der Orgel (Harmonium). Das alles bringt einen neuen Gestus in die profane Musik der Schwarzen: Der depressive, jammernde Ton des Blues wird vom hoffnungsfrohen Klang des Evangeliums abgelöst. Das feelin' blue vereinzelt, die gemeinsame Erwartung des Erlösers vereinigt die Menschen. Der Gospel drängt zum Tanz, und die Tanzmusik kann den Gospel besser gebrauchen als den Blues.

Das, was Billboard seit 1949 (demselben Jahr, als die Plattenfirma Chess Records entstand, um den Chicago Blues zu vermarkten) als Rhythm and Blues klassifizierte war einfach diejenige Unterhaltungsmusik, die die Schwarzen hörten, und gewöhnlich stammte sie von schwarzen Musikern... Darin flossen Elemente von Blues und Gospel zusammen. Das melodische Material wurde von überall hergeholt - meistens aber aus dem „weißen“ Pop. Letzteres ist ebenfalls kein Stilbegriff, sondern bezeichnet wahllos alle „populäre“, d. h. Unterhaltungsmusik - im Unterschied zur „ernsten“ Musik. Da aber nur ein gutes Zehntel des amerikanischen Publikums „schwarz“, und die andern (mehr oder weniger) „weiß“ sind, herrscht im Mainstream eben weißer Geschmack vor. Oder besser, herrschte. Denn was wir in diesem Buch (unter anderm) erzählen, ist die Geschichte, wie sich der schwarze Geschmack in der Unterhaltungsmusik durchgesetzt hat - erst in Amerika, dann auf der ganzen Welt.

Es geht, wie gesagt, um die unterschiedliche Verteilung von Melodik und Form hier, und Rhythmik und Ausdruck da. Der große Kritiker und Wegbereiter der zeitgenössischen („ernsten“) Musik Hans Heinz Stuckenschmidt hat schon in den fünfziger Jahren von der „rhythmischen Verkümmerung in der Tonkunst der weißhäutigen Rassen“ gesprochen (und hat sich mehr für Strawinski als für Schönberg interessiert). Jedoch „am Anfang war der Rhythmus“, entdeckte vor über hundert Jahren der Dirigent Hans von Bülow (und lief von Wagner zu Brahms über). Nein, es geht hier natürlich nicht um eine Wertung, gar um die Umkehrung des konventionellen Urteils über ‚hohe’ weiße und ‚ordinäre’ schwarze Musik. Hier interessiert uns vielmehr das Phänomen, daß es die schwarze Musik war, deren Rhythmik und Ausdrucksqualität zur Musiksprache der Völker der Welt geworden ist, während die konstruktive weiße Musik, trotz allen - gelegentlich forcierten - Ausdrucksbemühens sogar den Kontakt zu ihrem angestammten Publikum verloren hat.

Die Expressivität der schwarzamerikanischen Musik hat sicher damit zu tun, daß den afrikanischen Sklaven nach dem Verlust ihrer Muttersprachen als einziges Mittel zur Darstellung seelischer und geistiger, d. h. nicht-handgreiflicher Bedeutungen nur Gesang und Tanz geblieben waren. Ein vorzügliches Mittel, muß man sagen, und sie haben es gut gepflegt. Andererseits war es bis in dieses Jahrhundert hinein normal, daß ein Schwarzer nicht lesen, geschweige denn schreiben konnte. Es wird kaum wundernehmen, wenn die kurze Zeit seither nicht ausgereicht hat, unter den African Americans denselben Sprach- und Wörterkult heranzuzüchten, auf den sich Old Europe so viel zugute hält. Die Musik nimmt in der schwarzen Kultur auch weiterhin mehr Platz ein als unter den Weißen. (Die sprachlastige zeitgenössische Rap-Welle erscheint so in einem andern, sozusagen „weißen“ Licht.)

Die Zukunft der Musik liege in den „Negerliedern“, prophezeite Antonin Dvorak vor hundert Jahren, am Ende seines Amerika-Aufenthalts. Dies böhmische Naturtalent hatte ein feines Ohr fürs Tänzerische. Dabei ging es ihm nicht um den Ausdruck an sich, sondern um den Rhythmus als dasjenige Moment, das in der Musik die Spannung aufbaut: das, was den Hörer ergreift - nicht als Zerstreuung, sondern als eine Unruhe, die ihn (buchstäblich) auf die Beine bringt.

Man darf sich wohl fragen, ob sich der abendländisch-weiße Kult um die Wörter und die logisch verknüpften Sätze nicht um die Jahrtausendwende zu Tode gesiegt hat, und ob nicht die Anschaulichkeit im ‚Begriff’ ist, eine neue Macht über den Geist der Menschen zu gewinnen. Doch so weit sind wir hier noch nicht. Das kommt zum Schluß. An dieser Stelle reden wir vom Anteil der Musik am Aufstieg des nigga zum African American, der in den sechziger Jahren begann. Wir sind wieder bei Berry Gordy und Motown.

Motowns Programm war es, die schwarze Unterhaltungsmusik in Amerika zum herrschenden Geschmack zu machen - den Mainstream „einzuschwärzen“. Wenn es zu diesem Zweck nötig wurde, die schwarze Musik ein klein wenig zu „weißen“, dann war das für Berry Gordy keine Gewissensfrage. Die Musik, die so entstand, wurde von Motown als The Sound Of Young America propagiert - mit durchschlagendem Erfolg. So kamen von den hundert erfolgreichsten Hit-Singles des Jahres 1966 bereits sechsunddreißig aus Berry Gordys Hitfactory ! Viele der bedeutendsten acts des R&B wurden von Motown aufgebaut oder waren mit der Firma verbunden. Nach dem schon genannten Smokey Robinson sollten Stars wie Stevie Wonder, Marvin Gaye, Marv Johnson, Gladys Knight, Mary Wells und Diana Ross, sowie die Gruppen The Temptations, die Top Four, die Isley Brothers, The Supremes kommen...

Was war das Erfolgsrezept der Schlagerfabrik? Ein Mann von der Konkurrenzfirma Stax beschreibt es, halb anerkennend, halb verärgert, so: „Es gab da diese Redensart unter Schwarzen, daß die Weißen es einfach nie lernen würden, zum Takt der schwarzen Musik zu klatschen. Was Motown machte, war ganz gerissen. Sie schlugen den weißen Kids den Beat einfach lautstark um die Ohren. Das hörte sich für uns bei Stax zwar nicht mehr nach Soul an, aber Mann - es verkaufte sich!“ Tatsächlich steckt die Besonderheit des Motown-Sounds im Arrangement. Da war einerseits der reichliche Einsatz von Melodie-Instrumenten, wie es der Mainstream-Hörer aus Hollywoods Filmsinfonien gewöhnt war. Dazu ein unüberhörbarer Baß, der dem weißen Ohr etwas gab, woran es sich halten konnte. Aber bei alldem ging der funk nicht einfach verloren: Die Singstimmen wurden in den orchestralen Gesamtklang eingewoben, traten nur gelegentlich ganz hervor, so daß ein Gewebe vieler Linien entstand, die sich kreuzten, stritten und wohl auch verbanden. Über einem hämmernden Beat „schwebte es“...

Als die Jackson 5 zu Motown kamen, hatte sich die amerikanische Unterhaltungsmusik gegenüber der Zeit der Harlem Hit Parade schon sehr verändert. Es war eine erste schwarze Welle durch den Publikumsgeschmack gerollt, die aber nicht ohne Folgen für die schwarze Musik selbst geblieben war. Was 1949 „Rhythm and Blues“ getauft wurde, war in zwei Teile zerfallen - in weißen Rock'n'Roll und schwarzen Soul. 1954 fiel dem New Yorker Label Atlantic erstmals auf, daß die weißen High-School-Kids im Süden neuerdings lieber nach den (von ihr produzierten) R&B-Platten tanzten, statt - wie früher - nach C&W. Es gab offenbar einen wachsenden weißen Markt für schwarze Musik. Doch nie würde ein schwarzer Künstler zum ganz großen Star des Mainstream-Publikums werden! Wenn es aber gelänge, den R&B äußerlich zu „entschwärzen“, mußte sich damit viel Geld machen lassen... So soll es gekommen sein, daß der (weiße) New Yorker Disc-Jockey Alan Freed seine R&B-Platten den (weißen) Radiohörern unter dem neuen Etikett „Rock'n'Roll“ angepriesen hat. Und so kam es auch, daß ein Sänger mit einer schwarzen Stimme und einem weißen Gesicht beiderseits des Atlantik zum ersten Weltstar der Unterhaltungsmusik aufsteigen konnte. Die Rede ist von Elvis Presley.

Der Rock'n'Roll hat die Welt erobert, aber er hat sich dabei wirklich entschwärzt. Dahinter steckt eine interessante Verflechtung gesellschaftlicher und technologischer Entwicklungen. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, erst recht aber seit Ende des Koreakriegs war eine Unruhe unter der amerikanischen Jugend ausgebrochen, die sich bald auch - nicht zuletzt durch Rock'n'Roll und Bebop - auf Europa übertragen sollte. Sie machte die Jugend als eine besondere Käuferschicht interessant und machte sie zu einem Marktfaktor. Denn gerade hatte der Wechsel von Schellack zu Vinyl der Plattenindustrie erlaubt, anstelle der schweren, zerbrechlichen 78er die leichten, haltbaren 45er-Singles auf den Markt zu bringen, die außerdem noch billiger waren – Taschengeld-verträglich! Heute bedeutet Massenkultur, trotz Vergreisung des Westens, ganz selbstverständlich Jugendkultur. Doch das ist erst seit dem Rock'n'Roll so.

An diesem Punkt beginnt sich der Rock'n'Roll vom Rhythm&Blues zu unterscheiden. R&B war schwarz, aber altersunabhängig. Ihn hörten Greise und Kinder. Rock'n'Roll war rassenneutral, aber generationsspezifisch. „Die Teenagersicht der Dinge, die schon immer der Kern des Rock'n'Roll-Ethos war“ - so der R&B-Historiker Nelson George -, sei in Text und Musik gleichermaßen h”rbar. Freilich konnten sich auf Dauer nur die jungen Weißen leisten, sich zu allererst als Teenager zu fühlen. Die jungen Schwarzen dagegen blieben vor allen Dingen - Nigger. Rock'n'Roll war keine neue musikalische Richtung, sondern ein neuer Lebensstil. Und der war - Chuck Berry und Little Richard zum Trotz - so weiß wie Elvis Presley und Jerry Lee Lewis.

Auch musikalisch verdankt der Rock'n'Roll seinen Siegeszug einer technischen Neuerung. Und zwar der elektrischen Gitarre, die 1953 auf den Markt kam. „Der elektrische Baß veränderte für immer die Beziehung zwischen der Rhythmusgruppe, den Bläsern und den anderen Melodieinstrumenten“, schreibt Nelson George und zitiert Quincy Jones: Der E-Baß „änderte wirklich den Sound der Musik, weil er so viel Raum beanspruchte. Sein Klang war so dominierend im Vergleich zum herkömmlichen Baß, er konnte einfach nicht die gleiche Funktion haben. Vor dem Aufkommen des elektrischen Baß und der elektrischen Gitarre diente die Rhythmusgruppe nur zur Unterstützung der Bläser und des Klaviers. Aber nachdem sie auftraten, mußte sich ‚oben’ alles ein bißchen in den Hintergrund verziehen. Die Rhythmusgruppen wurden zu Stars. Alles wegen der technischen Entwicklung.“ Mit dem R&B war die Tanzmusik schnell geworden. Jetzt wurde sie ohrenbetäubend laut. Der Geschmack der Jugend beginnt, in der Massenkultur den Ton anzugeben.

Während anfang der Sechziger der Rock'n'Roll mehr und mehr zu einer weißen Angelegenheit wurde, scheint zugleich das schwarze Publikum den Gefallen am Blues verloren zu haben. Übrigens auch am typischen Instrument des Blues, der Gitarre. Fast möchte man sagen, die charakteristische Blues-Stimmung habe bei den Rockern Zuflucht gefunden. Sicher ist, daß seine resignierte und wehleidige Grundhaltung gar nicht mehr passen wollte zu dem neuen schwarzen Selbstbewußtsein, das sich in Amerika seit dem blutigen Aufstand von 1965 in Watts, dem Negerghetto von Los Angeles, ausgebreitet hatte. Die Stimmung der Schwarzen wurde selbstbewußt, dynamisch und optimistisch. Sie kam jener andern Quelle des R&B, der Frohen Botschaft des Gospel, wieder näher. (Daß die Weinerlichkeit des Blues seither die weiße Hörerschaft ergriffen hat, steht auf einem andern Blatt.) Bereits 1954 hatte Ray Charles den Blues-Text I got A Woman zur Melodie der Gospel-Hymne My Jesus Is All The World I Need gesungen, womit er ein Tabu gebrochen und die frommen Eiferer gegen sich aufgebracht hatte. Das gilt als die Geburtsstunde des Soul.

Als die Jackson 5 bei Motown anfangen, ist Soul längst zum zeitgemäßeren Synonym für R&B geworden. Ein Stilbegriff ist es immer noch nicht. Im Soul tritt der melodische Charakter des Chorus gegenüber dem rhythmisch akzentuierten Couplet noch stärker hervor und der Kontrast zwischen den anspannenden und den entspannenden Passagen wird verschärft; aber das ist alles relativ... Ob ein Stück in den Plattenregalen unter Soul/R&B oder unter Rock und Pop einsortiert wird, hängt darum im Zweifelsfall doch eher von der Hautfarbe der Musiker ab - und von der Subkultur, aus der sie kommen. Aber der Zweifel ist in diesem Fall die Regel. Als beispielsweise Michael Jackson 1984 wegen des überwältigenden Erfolgs von Thriller einen ganzen armvoll Grammy-Awards erhalten mußte, waren die Titel Beat it als Soul, Billie Jean als Pop und Thriller als Rock klassifiziert worden. Man hätte es ebensogut andersrum drehen können...

Natürlich wurde Motowns synkretistische Vermengung von weißem und schwarzem Geschmack auch angefeindet. Von der Konkurrenz sowieso. Von den Musikkritikern auch, den die leben vom Kultivieren des feinen Unterschieds. Vor allem aber von den Ideologen der black consciousness.

Als Motowan Galionsfigur Diana Ross und ihre Supremes zu Crossover-Superstars geworden waren, interessierte sich die Werbebranche für sie; man ließ sie für Weißbrot Reklame machen – und prompt hatte The Sound Of Young America den Spottnamen Whitebread soul weg. Man warf ihnen vor, die so teuer erkämpfte schwarze Identität zu verraten. Doch über kein Thema wird ja in Amerika so viel gelogen wie über die Rassenfrage – in allen Lagern. Wen einer zu schwarzer Eigenständigkeit und schwarzem Selbstvertrauen beigetragen hat, dann wohl Berry Gordy, indem er den ersten schwarzen Wirtschaftkonzern schuf. Nicht nur James Brown, auch Louis Farrakhan von den Black Muslims versteht unter Black Power zu allererst: „Bildung und Eigentum“. Und Crossover verkauft auch nicht die schwarze Seele. Im Gegenteil, ohne die Pionierarbeit von Crossover-Stars wie Louis Armstrong, Nat King Cole, Harry Belafonte und auch Diana Ross hätten weder James Brown noch der Reggae oder gar der heutige Gangsta-Rap beim weißen Publikum je eine Chance bekommen und könnten sich am Markt nicht halten. (Freilich – ohne  Puristen wie Stax und James Brown hätten sie nicht, was sie ‚vermitteln’ könnten…)

Doch entscheidend ist: Ohne den Sound of Young America wäre das schwarze Idiom nicht zur Musiksprache der Welt geworden. Ohne Motown hätte nie ein Schwarzer zum größten Star aller Zeiten werden können. So richtig schwarz ist er dabei allerdings nicht geblieben: keine Kunst ohne Ironie...




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