Wie der Rhythm&Blues zur Musiksprache der Welt wurde
Michael sagt immer, die Musik, die er macht, ist für
jedermann.
Aber die Musikindustrie würde es trotzdem Rhythm and Blues nennen
- weil er ein
Schwarzer ist.
Katherine Jackson
Musik hat keine Hautfarbe.
Michael Jackson
Der
kleine Randy, der noch nicht mitdurfte, stand in seinem Klassenzimmer und fuhr
mit dem Finger über den Globus. Wo lag das sagenhafte Motown? Er fand es nicht.
Motown, Motor town - das ist Detroit,
die Stadt, aus der jedes zweite amerikanische Auto kam. Nirgends sonst gab es
ein so großes schwarzes Industrieproletariat, während andererseits die - knappe
- weiße Bevölkerungsmehrheit weitgehend aus Neueinwanderern bestand, aus aller
Herren Länder bunt zusammengemischt. Das waren günstige Bedingungen für die
Entfaltung einer selbständigen schwarzen Kulturszene, und so wurde Detroit in
den fünfziger Jahren zu einer Hauptstadt des Rhythm&Blues. Es war die städtische,
nördliche Hauptstadt. Die südliche, ländliche war Memphis am Mississippi, Elvis
Presleys zweite Heimat. Beide Musikzentren konkurrierten miteinander, und die unterschiedlichen
Lebensumstände hatten an beiden Stellen einen jeweils eigenen Klang
hervorgebracht. Für Memphis stand die Plattenfirma Stax. Sie war Motowns großer Gegenspieler. Jedenfalls, was den Ruhm
anlangt. Denn geschäftlich beherrschte Detroit das Feld. Motown war eine
schwarze Legende geworden, und dort zog es Joe Jackson hin. Motown war die
Garantie für eine ganz große Karriere.
So
saßen Joe und die Jungens also wieder in ihrem VW-Bus und quälten sich über
endlose Landstraßen von den Stränden des Michigan-Sees zum Ufer des
Detroit-River. Die Ochsentour durch den Chitlin Circuit sei ihm wie eine Runde
Monopoly vorgekommen, erinnert sich Michael später. Der Sieg im Apollo, das war
die Parkstraße. „Jetzt waren wir auf dem Weg zur Schloáallee - zu Motown.“
Wie
hatte es schließlich doch noch geklappt? Später waren mehrere Versionen darüber
im Umlauf, wer die Jackson 5 für Motown entdeckt habe. Die offizielle, von der
Firma selbst verbreitete Variante war, daß Diana Ross, Motowns Superstar jener
Tage, die Jungens bei einem Auftritt im Wahlkampf für Garys schwarzen Bürgermeister
Richard Hatcher erlebt und ihre Neuentdeckung sogleich an ihren Boß Berry Gordy
gemeldet habe. - Die Ansprüche von Gladys Knight haben wir schon erwähnt. Nach
einer dritten Lesart hat Joe Jackson während eines Auftritts im Chicagoer Regal Bobby Taylor angesprochen, den
Kopf der Vancouvers, und der habe ihm
zugesagt, bei Motown ein Wort einzulegen. Diese Version hat den Vorzug, von den
Jacksons bestätigt zu werden. Bobby Taylor hat Wort gehalten. Am 23. Juli 1968
trafen die Jackson 5 in Motowns legendärem Aufnahmestudio Hitsville, USA ein - 2648,
West Grand Boulevard. Es ist heute ein Museum, aber damals kam es den
Jackson-Brüdern etwas heruntergekommen vor. Sie waren enttäuscht. Der Empfang
war geschäftsmäßig. Es wimmelten viele Leute durch die Gänge, Joe Jacksons
Kinderband war nur eine von vielen Gruppen, die zum Vorspielen gekommen waren.
Aber immerhin, man kannte ihren Namen, sie wurden erwartet, und im Studio waren
die Instrumente und Mikrophone schon für sie aufgebaut, und sogar eine
Filmkamera. Der große Boß selber war nämlich - nicht da. Ihr Auftritt wurde
aufgezeichnet, und so kommt es, daß man heute bei jeder besseren
Michael-Jackson-Retrospektive in schwarz-weiß bewundern kann, wie gut der noch
nicht ganz Zehnjährige seine... James-Brown-Schritte geübt hatte.
Als
ihr Programm vorüber war, gabs keinen Beifall, keinen Kommentar, nur ein höfliches
„Danke, daß ihr gekommen seid“. Das wars auch schon. Die Jungen waren perplex.
Wie waren sie gewesen? Gut? Aufgeregt - und unprofessionell? Bislang hatten sie
noch stets vor einem hingerissenen Publikum gespielt, das über den
Professionalismus dieser Kinder nur staunen konnte. Doch bei Motown verblüfften
sie niemand. Professionalität wurde dort vorausgesetzt - sonst hätte man sie ja
gar nicht eingeladen. Und jetzt schickte man sie wortlos fort! ‚Man werde von
sich hören lassen‘... Aufgelöst zwischen Hoffnung und Zweifel machten sie sich
auf den Heimweg.
Was
sie nicht wußten: Nur ein paar Stunden nach ihrem Auftritt hatte Berry Gordy
sich die Filmaufnahmen angesehen und seinen Produktionsleiter Ralph Seltzer
angewiesen, die Verträge für die Kinderband auszuarbeiten.
Denn
die wichtigen Dinge bei Motown bestimmte der Boß allein. Berry Gordy stammt aus
dem schwarzen Mittelstand. Sein Vater, der in den dreißiger Jahren aus Georgia
nach Detroit gezogen war, betrieb mehrere Geschäfte. Auch der 1929 als Jüngster
von acht Kindern geborene Berry hatte von Jugend auf einen Sinn fürs Geschäft; aber
nicht gerade für die langweiligen Gemischtwarenläden seines Vaters. Er wollte höher
hinaus. Er interessierte sich früh für Musik und hatte mit einem
selbstgeschriebenen Song immerhin einen lokalen Talentwettbewerb gewonnen. Und
natürlich versuchte er sich auch im Boxen. Aber seine 1,60 m Länge reichten
wohl doch nicht zum Champion. Als er neunzehn war, trat er sogar zum Golden-Glove-Contest der Amateure an, mußte
aber mit zugeschwollenem Auge zusehen, wie ein erst sechzehnjähriger Freund die
Trophäe gewann. Der Freund hieß Jackie Wilson.
1953
hat Berry Gordy mit ein paar hundert Dollar, die er vom Vater geliehen hatte,
sein erstes Geschäft eröffnet, einen Schallplattenladen. Aber den Kunden muß
sein Angebot nicht gefallen haben. Er hatte sich für Charlie Parker und
Thelonius Monk begeistert, doch der Bebop
galt bei der Masse des schwarzen Publikums als versnobt. Nach zwei Jahren war
Berry pleite und fing bei Ford am Fließband an. Aber er schrieb weiter Songs,
und 1957 hatte sein Freund Jackie Wilson mit Reet Petite seinen ersten großen Erfolg; auch Lonely Teardrops stammt von Gordy. Im selben Jahr machte er die
Bekanntschaft von William „Smokie“ Robinson und dessen Band, wurde ihr Manager
und machte sie als The Miracles in und
um Detroit bekannt. Er produzierte auch gleich eine Platte mit ihnen, die von
einer New Yorker Firma vertrieben wurde und ganz gut ankam. Der frischgebackene
Producer und seine Musiker bekamen dafür einen Scheck über - sage und schreibe
$ 3,19.
Das
sollte ihm eine Lehre sein!
Kaum
daß man sich mit der Geschichte der schwarzen Musik beschaftigt, stößt man
gleich auf das Stichwort control. Der
Erfolg der schwarzen Musik über die Rassenschranken hinaus, auch beim weißen
Publikum - das war eine Sache. Aber der Erfolg der schwarzen Musiker? Das war
was anderes. Sie hatten in aller Regel nichts von ihrem Ruhm, oder doch nur
soviel, wie die Firmen abgeben mochten. Und die Firmen waren stets in weißen Händen.
Sie zahlten den schwarzen Musikern nur einen Bruchteil dessen, was weiße Interpreten
bekamen. Es nutzte nichts, zur Konkurrenz zu gehen. Die machten es ebenso. Ja,
auch die „schwarzen“ Rundfunkstationen gehörten Weißen. Die bezahlten ihre
schwarzen Disc-Jockeys (ohne die es keine Einschaltquoten gab) so schlecht, daß
viele sich schmieren lieen, um diese oder jene Platte über den Äther zu
schicken - payola nannte man das. Da
mußten die schwarzen Musiker auch noch dafür zahlen, daß die Platten, für die
sie nichts bekamen, wenigstens gespielt wurden! Das ganze Show Business, der
Mainstream, wo man wirklich Geld verdienen konnte, d. h. alles, was über den
Chitlin Circuit hinausging, befand sich fest in weißer Hand. Ein Schwarzer, der
beim breiten Publikum Erfolg hatte - und solche gab es ja, wie Louis Armstrong
oder Nat „King“ Cole -, wurde zum Leibeigenen seines (weißen) Managements, fast
wie zu Zeiten der Sklaverei. Sie mußten sich ihnen schließlich auch künstlerisch
unterwerfen. Und wer sich einmal mit dem Mainstream der Pop-Musik eingelassen
hatte, kam nicht wieder davon los. Also wurde es Zeit, daß die schwarzen Künstler
die control über ihre Karrieren in
die eignen Hände nahmen!
Auch
in diesem Punkt war James Brown der Pionier. Er hat bis heute ein unbezähmbares
Temperament, das sich nirgends ein-, geschweige denn unterordnen kann. Auch bot
seine wilde und, nun ja, etwas grobe Musik - die sich, seiner eigenen Herkunft
treu, am Geschmack des ärmsten Teils der schwarzen Landbevölkerung im Süden
orientierte - kaum Aussicht auf Erfolg beim Mainstream-Publikum. So war keine
der großen amerikanischen Firmen je scharf darauf, ihn in ihre Botmäßigkeit zu
locken. Da mußte er eben „alles alleine machen“. Bei einem schier unglaublichen
Arbeitspensum - über 300 Konzerte im Jahr, praktisch jeden Tag eines! - hatte
er sich sozusagen mit Gewalt ins große Geschäft gezwungen. Er war alles
zugleich - Sänger, Tänzer, Manager, Songschreiber, Arrangeur, Produzent,
Impresario, Konzernchef... Damit hat er im Laufe der Jahre Millionen verdient,
kaufte Rundfunk- und Fernsehstationen, einen Musikverlag, besaß eine Künstleragentur
und eine Restaurantkette - und hat zwischendurch auch immer wieder mal alles
verloren. Und dabei blieb er stets sein eigner Herr. Der amerikanische Traum
wie im Bilderbuch - aber ganz in schwarz.
Doch
auch James Brown hatte gelegentlich Anlaß, sich über selbstherrliche Eingriffe
der (europäischen) Plattenfirma Polydor
in seine Arrangements zu beklagen: Die „verstanden eben nichts von schwarzer
Musik“! Berry Gordy, mehr Geschäftsmann als Kampfmaschine, wählte von vornherein
einen andern Weg. Im Januar 1959 lieh er sich nochmal $ 800 von seinem Vater
und gründete seinen eigenen Plattenverlag. Firmensitz wurde jenes
Einfamilienhaus, das die Jackson-Jungens so enttäuscht hatte. Motown Records Corporation war das
Firmendach, Tamla hieß das erste
Plattenlabel, zu dem im Lauf der Jahre noch andere hinzukamen. Motowns erster Star wurde Smokey Robinson mit
seinen Miracles.
Berry
Gordys Unternehmensphilosophie war klar. Das Marktsegment der schwarzen
Plattenkäufer war zu schmal, um auf Dauer seine geschäftliche Unabhängigkeit zu
sichern. Schon früher hatte es Plattenlabels in schwarzer Hand gegeben. Aber
sobald ihre Musik Erfolg hatte, wurden sie von einer größeren und natürlich weißen
Gesellschaft geschluckt. Man mußte auf eigene Rechnung in den Markt des
Mainstream eindringen, wollte man seine Unabhängigkeit wahren. Schwarze Musik
so produzieren, daß sie für die Masse der Weißen anhörbar wird - das war
Motowns Geschäftspolitik. Es wurde auch ein Kunstprogramm. Ja, es wurde sogar
zu einer kulturpolitischen Losung; zu einem Moment im Emanzipationskampf der
nordamerikanischen Neger (so hieß das damals).
Über das Verhältnis von schwarzer und
weißer Musik wird viel herumgeheimnißt. Über U-Musik wird noch seltener ohne
Eigeninteresse geschrieben als über eine andere Kunstsparte - es ist ja auch
mehr Geld im Spiel. Mystifikationen aller Art bieten Stoff für literarische
Kontroversen und fördern den Umsatz. Und über allem, wo sich die sogenannte
Rassenfrage einmischt, liegt eine Dunstglocke.
Es gibt eine handgreifliche und
unzweideutige Unterscheidung von weißer und schwarzer Musik. Das sind die Billboard charts. Die Zeitschrift Billboard wendet sich an den
kommerziellen Teil der Unterhaltungsindustrie. Sie handelt vom Geschäft.
Händler und Werbeleute müssen wissen, was sich wie und wo verkauft, und also
stellt Billboard seit den vierziger Jahren wöchentlich eine Bestseller-Liste
zusammen. Die Plazierung ergibt sich aus einem im Lauf der Jahre immer weiter
verfeinerten System, wo die Verkaufszahlen mit den Sendezeiten im Radio
verrechnet werden; wobei natürlich auch Reichweiten und Einschaltquoten zu
berücksichtigen sind. Nun bevorzugen das weiße und das schwarze Publikum der
Vereinigten Staaten jeweils andere Programme - damals wie heute. So lag es im
Interesse der Geschäftswelt, schwarze und weiße Sender gesondert zu erfassen,
und es entstanden neben den allgemeinen, d. h. „weißen“ Pop charts die sogenannten Black
charts. Was „schwarze“ und was „weiße“ Musik ist, kann man daran ablesen,
daß ein Stück auf der einen Liste ganz oben, auf der andern ganz unten steht.
Dabei mag die Hautfarbe der Interpreten für das Publikum eine Rolle spielen,
aber nicht für die Plazierungen in den Billboard Charts. Seit Jahren ist es
üblich, daß sechs bis sieben der Top Ten-Pop-Titel von Schwarzen stammen, und
bei den Top Ten der Black Charts finden sich auch weiße Interpreten (letzthin
allerdings seltener). Immer wieder mal konnte ein Stück auch von der einen auf
die andre Liste überspringen und war in beiden ganz oben. Dann sprach man von crossover. Dieses heute in vielfältiger
Bedeutung gebrauchte Schlagwort hatte ursprünglich nur diesen Sinn.
Praktisch war aber immer nur die eine
Richtung gemeint: von schwarz nach weiß; selten umgekehrt. Gibt es womöglich
doch einen hörbaren Unterschied in der Musik?! Mit Sicherheit gibt es einen im
Geschmack der jeweiligen Hörerschaft. Schwarze und weiße Hörer erwarten
offenbar je etwas anderes, wenn sie eine Schallplatte auflegen, das Radio
anschalten oder ins Konzert gehen.
Unter Anthropologen und
Kulturhistorikern wird gerätselt, ob die Musik ursprünglich aus dem Tanz oder
aus der Nachahmung des Vogelgesangs entstanden sei. Vergleicht man europäische
und afrikanische Musik, möchte man meinen: in Europa aus dem Vogelgesang, in
Afrika aus dem Tanz. Auch die entwickelten, die ‚Kunstformen’ afrikanischer
Musik verleugnen nie ihre kultisch-rituellen Wurzeln im Gemeinschaftstanz; denn
immer ist es der Rhythmus, der herrscht. Mit der Kunstmusik Europas ist das
nicht so einfach. Seit sich im 18. Jahrhundert die italienische Sonatenform,
die aus dem Kirchengesang stammt, gegen die französische Suitenform
durchgesetzt hatte, die vom höfischen Gesellschaftstanz herkam, wurde in Europa
die Melodie zum beherrschenden Moment der Musik. Mit der Wiener Klassik
verdrängt die deutsche Musik die italienische aus ihrer Vormachtstellung
(abgesehen von der Oper). Mit dem Zeitalter der Romantik wird schließlich das Lied zum Inbegriff und Grundmuster der
europäischen Musik. Das hat weitreichende Folgen für deren Grundcharakter; und
schließlich auch für den Grad ihrer Hörbarkeit, d. h. Popularität. Das
Nebeneinander oder Übereinander von menschlicher Stimme und instrumenteller
Begleitung wirft harmonische Probleme auf und fordert zu thematisch-motivischer
Arbeit heraus. Fragen der Konstruktion ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Es
ist aber, mit Theodor W. Adorno zu reden, das „Ausdruckslose der Konstruktion“,
das den Boden bereitet für die Trennung zwischen Kunst und Publikum in der
Bildungsmusik des 20. Jahrhunderts - und auch für die Verselbständigung der Musikkritik als Erwerbszweig. Der
Ausdruckscharakter der Kunst tritt jetzt ganz auf die Seite des Interpreten.
Ausdruck ist ein zwischenmenschliches Ereignis, hier und jetzt. Will man es als
geronnene Form konservieren, wird es leicht zur Karikatur (das künstlerische
Grundproblem des Filmschauspielers). Und wenn sich gar ein Komponist
daranmacht, Ausdruck thematisch zu „konstruieren“, kommt doch immer nur
pompöser Kitsch zustande. Man mag sagen, gerade die Spannung zwischen der
konstruktiven Idee des „schreibenden“® und dem Ausdruck des „darbietenden“
Künstlers habe die europäische Kunstmusik lebendig gehalten. Andererseits läßt
sich über geschriebene Musik aber auch mehr - schreiben. Formanalyse wird zum
Hätschelkind der Musikologie, und die kann man zur Not auch mit Fleiß
betreiben; ohne ästhetische Intuition. Kritik seither auch. Es beginnt eine Art
‚Vertextung’ der europäischen Musik. (Lieben Sie Bach?) Es kann daher kaum
überraschen, daß der kritischen Zunft die „weiße“ Musik als Musik schlechthin
vorkommt: Sie sind vom selben Stamm. Und schließlich konnte eine Musik
aufkommen, die für Kritiker gedacht ist, nicht für Hörer...
Warum dieser Ausflug in die europäische
Kunst-Musik, wo es um schwarze U-Musik geht? Das, was der „schwarzen“ Musik in
den Billboard-Charts als Mainstream-Pop gegenübersteht, nein - gegenüberstand,
ist nämlich nicht aus einer einheimischen, traditionellen amerikanischen
Volksmusik hervorgegangen, sondern aus Hollywood. Der große Aufschwung der
durch Radio und Schallplatte verbreiteten Tanz- und Unterhaltungsmusik seit den
zwanziger Jahren verdankt sich - auf beiden Seiten des Atlantiks - dem
Siegeszug des Kinos. Dessen Musik stammt nicht aus der Volkstradition, sondern
aus der Trivialisierung der europäischen Kunstmusik, wie sie auf dem New Yorker
Broadway geschah. Noch heute haben „ernste“ amerikanische Komponisten ihren
Brotberuf in Hollywood, um nebenher, als künstlerisches Steckenpferd, „richtige
Musik“ schreiben zu können - für die sie kein Publikum fänden. Natürlich fanden
in die Filmkompositionen alsbald, je nach Genre, reichlich Jazz- und
Country-Elemente Eingang, aber doch nur als Kolorit in einem sonst weißen
Klangtableau. Das war es, wogegen die „schwarze“ Musik Amerikas konkurrieren
mußte.
Ist nun wenigstens diese schwarze Musik
Volksmusik?
Womöglich afrikanische Volksmusik?!
Über die afrikanischen Wurzeln der
schwarzamerikanischen Musik sind die Meinungen geteilt. Gerade unter Leuten,
die etwas davon verstehen müßten. Michael Jackson erinnert sich an seinen
ersten Besuch in Afrika, als er vierzehn war: „All right! I've got the rhythm! Das ist's! Da komme ich her. Der
Ursprung. Da gibt es eine Verbindung, weil da die Wurzeln von allem Rhythmus
liegen. Da ist mein Zuhaus.“ Man merke es schon daran, wie sich die Kinder
bewegen; selbst die Babies wiegen sich im Takt der Trommel...
Ganz anders James Brown, der Godfather
Of Soul: „Mit der afrikanischen Musik und mir ist es komisch. Ich wußte nicht
einmal, daß es sie gab. Als mir Afrika bewußt wurde und ich beschlossen hatte
zu sehen, wo meine Wurzeln sind, dachte ich, ich würde erfahren, woher ich das
alles hatte. Aber als ich nach Afrika kam, erkannte ich nichts, was ich von
dort hätte haben können.“
Natürlich spielte der Kult um die afrikanischen
Wurzeln seine Rolle beim Erwachen eines schwarzen Selbstgefühls im Amerika der
sechziger Jahre. Es ist aber viel Mythisches dabei. Die Einzigartigkeit der
Situation der Schwarzen in den USA kommt doch daher, daß ihren Vorfahren, als
sie in Amerika an Land gingen, außer ihrer Hautfarbe gar nichts geblieben war,
das sie aus Afrika hätten mitbringen können. Sie waren als Volksgruppe in einer
so umfassenden Weise enteignet worden, wie man ein einzelnes Individuum gar
nicht enteignen kann. Sie hatten nicht nur ihre Heimat und ihren Besitz
verloren. Man nahm ihnen auch ihre Namen, ihren sozialen Zusammenhang. Sie
verloren ihre Sprachen, ihre Riten, ihre Zeichen, ihre Manieren, ihre Mythen.
Selbst die elementarste Verwandtschaftsbeziehung, die zwischen Eltern und
Kindern, wurde regelmäßig und absichtsvoll zerrissen. Kein Stamm, keine Sippe,
keine Vaterschaft - und auch Mutterschaft hing immer an einem seidenen Faden.
An deren Stelle traten der Aufseher, ein alttestamentarisch furchterregendes
Christentum und ein rudimentärer englischer Wortschatz, der grademal zur
Verständigung über das Nächstliegende taugte. Subtilere Dinge konnte man nicht
mehr aussprechen; allenfalls singen...
Die afrikanische Musik aber war Tanz,
und der ist an die Kultgemeinschaften der Dörfer und Stämme gebunden. Schwer
vorstellbar, wie sie in der Sklaverei hätten überdauern sollen - wenn sich
nicht einmal die afrikanischen Sprachen hatten halten können! Auf den
Baumwollplantagen wurden Menschen aus verschiedenen Landstrichen, aus unterschiedlichen
Völkern, aus lokal isolierten Kulturen zu einem künstlichen Kollektiv
zusammengepreßt. Aber gerade als Kollektiv waren sie enteignet.
Alle persönlichen Unterschiede der
Herkunft, des Verdienstes, der Sitte, des Mutes und der Klugheit waren hier
ausgelöscht. Gemeinsam war die Hautfarbe. Darüberhinaus gab es lediglich - die
Körperbeschaffenheit des einen und des andern. Über acht bis zehn Generationen
war die einzige Chance zur Individuation, die den schwarzen Amerikanern
offenstand, der Typus des Uncle Tom -
der gegen seinen weißen Massa unterwürfige Neger, der, wo er kann, heimlich
eine schützenden Hand über seine fella
niggas hält, wie in Harriet Beecher-Stowes Erfolgs-roman „Onkel Toms
Hütte“; ein Typus, der in der (auch in Europa populären) TV-Serie Roots allzu überzeugend von Lou Gosset
Jr. dargestellt wird. Der Typus des selbstbewußten Rebellen hingegen, der dort
in der Rolle des Kunta Kinté
verkörpert ist, lebte in der Wirklichkeit nicht lange - und schon gar nicht
bekam er die Chance, sich fortzupflanzen; weder physisch noch moralisch.
‚Über kein Thema wird in Amerika mehr
gelogen als über das Rassenproblem’ - Roots
ist ein Beispiel dafür. Nicht aus bösem Willen, sondern wegen der praktischen
Erfordernisse Hollywoods: Als eine farbenkräftige, schreckliche,
hochdramatische Geschichte wird im Zeitraffertempo in Szene gesetzt, was in
Wahrheit ein ödes Jammertal war ohne Trost, ohne Ende, ohne Ausweg. Der Drang
zur Selbstbehauptung ist zwar unausrottbar, aber unter den Negersklaven mußte
er sich verkleiden - in der Maske des Clowns. Der lebte (wie sein ferner
Verwandter, der Narr an den Fürstenhöfen Europas, der Prolet unter den
Intellektuellen) grad gefährlich genug, und oft mußte er sich in die Musik
flüchten, um seine Spuren zu verwischen. Die kindisch-alberne, singende und
tanzende Clownerie ist der Tarnanzug, unter dem die schwarze Aufsässigkeit
gegen das Herrenmenschentum überleben konnte. Das Clowneske ist nicht der
geringste Beitrag, den die schwarzamerikanische Musik zum Entstehen der
Unterhaltungsindustrie geleistet hat. Und, wenn ich vorgreifen darf, zur
Weltkultur des 20. Jahrhunderts: Der Engländer Charles Chaplin wurde in Amerika
zum (ersten) Weltstar. Ganz als wäre es selbstverständlich, betrachtet sich der
schwarze Amerikaner Michael Jackson heut als sein Erbe.
Nein, es ist kaum vorstellbar und ist
auch nie im Detail dargelegt worden, daß die schwarzen Sklaven originäre
musikalische „Elemente“ aus Westafrika nach Amerika mitgebracht hätten. Es
fällt im Gegenteil auf, daß die Melodik der schwarzamerikanischen Musik, von
den frühesten Dokumenten des Jazz bis heute, aus dem Fundus europäischer
Marsch- und Volksmusik schöpft. Wer Melodie sagt, sagt immer auch Harmonik.
Stets werden als die harmonische Besonderheit schwarz-amerikanischer Musik die blue notes des Jazz genannt, d. h. der
regelmäßige Gebrauch der verminderten Terz (statt z.B. von C zu E - von C zu
Es) und der verminderten Septime (statt von C zu A - von C zu As) auch in den
Dur-Tonarten, so daß der Unterschied zwischen Dur und Moll verschwimmt. Die
Blue notes werden üblicherweise daraus erklärt, daß in Westafrika pentatonische
Tonsysteme üblich gewesen seien, und nicht, wie im europäischen Oktavsystem
üblich, auch die drei Halbtonschritte. Bei dem Bemühen der Negersklaven, die in
Amerika vorgefundenen europäischen Melodien nachzusingen, seien harmonische
Unsicherheiten aufgetreten; die Blue notes seien das Resultat eines Konflikts
zwischen afrikanischer und europäischer Kultur. Nun, die Erfahrung macht gegen
allzu plausibel klingende Erklärungen mißtrauisch; sie stimmen selten. Doch wie
dem auch sei - die Blue notes wären in diesem Fall keine afrikanische Eigenart,
die nach Amerika importiert wurde, sondern der unbeholfene Versuch eines Volks,
dem buchstäblich alles genommen worden war, sich wenigstens die Brosamen
anzueignen, die die weiße Herrschaft von ihren Tischen fallen ließ. (Die flattet fifth, verminderte Quinte, ist
übrigens ein Manierismus, der erst in der Bebop-Ära in den Jazz eingeführt
wurde.)
Ebenso einleuchtend (und mit der obigen
Deutung nicht im Widerspruch) wäre die Annahme, daß das „Schweben“ der Musik
zwischen den Tongeschlechtern Dur und Moll und die dadurch hervorgerufene
elegische Grundstimmung dem Lebensgefühl der Negersklaven entsprach. Der Unterschied
zwischen „schwarzer“ (amerikanischer) und „weißer“ Musik läßt sich kaum an
einzelnen Bestandteilen dingfest machen, die man benennen und herauslösen
könnte. Er liegt wohl mehr in einer unterschiedlichen Einstellung zur Musik,
einer unterschiedlichen Erwartung an die Musik. Die aber macht sich nie
entweder-oder, sondern immer nur mehr oder weniger geltend. Während der
Schwerpunkt der europäisch-weißen Musik auf der Melodie und der guten Form
liegt, liegt er bei der schwarz-amerikanischen Musik auf dem Rhythmus und dem
Ausdruck.
Freilich sind Melodie und Rhythmus
nicht zwei verschiedene Zutaten, von denen man mal mehr, mal weniger nehmen
kann, wie es grad gefällt. Wollte man Melodie und Rhythmus je für sich
definieren, ohne Bezug aufeinander, geriete man in bodenlose Spitzfindigkeiten.
Die Musik ist immer nur eine; aber sie hat verschiedene „Seiten“. Melodie und
Rhythmus sind gewissermaßen zwei Pole, zwischen denen die Musik „verläuft“ wie
ein elektrischer Strom: Es herrscht Spannung. Besser gesagt, der Rhythmus baut
die Spannung auf, die Melodie löst sie wieder. Das ist grob und schematisch,
und wenn man es allzu wörtlich nimmt und ins Detail geht, wird es manchmal
falsch. Aber ästhetische Sachverhalte lassen sich nicht in Worte fassen, es sei
denn, man nimmt sie bildlich...
Der Rhythmus ist nur in der Zeit. Er
muß gespielt werden. Ist die Musik aus, ist er weg. Er ist eine Abfolge von
verdichteter und verdünnter Zeit. Mit der Melodie ist das anders. Sie ist zwar
auch ein Nacheinander (von Tönen), aber sie ist zugleich Form, und also ein
bißchen „im Raum“. Man erkennt es an der Notation. Die Melodie läßt sich auf
dem Papier als sichtbare Linie nachzeichnen - und nachdenken. Menschen, die mit
dem absoluten Ohr begabt sind, können sie gleichsam „vom Blatt hören“. Man kann
sich noch lange an sie erinnern, nachdem sie verklungen ist - und kann sie
später wiedererkennen. Den Rhythmus aber muß die Phantasie des Musikanten
jedesmal neu hinzugeben. Er ist immer an den gebunden, der gerade spielt, und
läßt sich in der Notation nur andeuten - wenn etwa Jazz-Rhythmen durch sog.
Synkopen wiedergegeben werden. Noch unlängst glaubte man sogar, die
mittelalterliche europäische Musik sei stets monodisch-psalmodierend
vorgetragen worden, weil in der Neumen-Notation nicht einmal der Taktstrich
vorkommt. Dabei ist der auch nur ein vager Anhaltspunkt, der dazu taugt, daß -
man sich über ihn hinwegsetzt. „Rhythmus ist Verstoß gegen den Takt“, schrieb
der entwurzelte Russe Igor Strawinski, und kam damit der „schwarzen“ Musik überraschend
nahe. (Allerdings meinte er auch, die Musik drücke „gar nichts“ aus - was sehr
konstruktiv gedacht war.)
Als Grundtatsache der
schwarz-amerikanischen Rhythmik gilt der swing. Allerdings: In Afrika gibt es
keinen Swing. Auch nicht in der frühen New-Orleans- und Ragtime-Musik; deren
Rhythmen waren eindeutig und entsprachen dem Takt: die Schwerpunkte lagen, ganz
europäisch-konventionell, auf den „starken“ Taktteilen 1 und 3. (Im Dixieland
lag sie auf 2 und 4, aber das ist kaum was anderes.) Es bedurfte der
kommerziellen Verselbständigung der schwarzen Unterhaltungsmusik, damit sich
der Unterschied zwischen expressiver Rhythmik und förmlichem Taktschlagen zum
Gegensatz verschärfen konnte. Der Swing
entstand daraus, daß sich (im Jazz) die Melodie-Stimme (Klarinette, Saxophon,
Trompete...) erlaubt, einen andern Rhythmus zu singen, als der Begleitbaß
vorschlug: er 1 und 3, sie 2 und 4, off
beat. Freilich, „was Swing ist, läßt sich nicht aufzeichnen. Man kann nicht
einmal sagen, was es ist“, schrieb der deutsche Jazz-Historiker Joachim E.
Behrendt. Man kann allenfalls erzählen, wo es herkam. Aber seither hat er sich
zum beherrschenden Moment nicht nur des schwarzen Rhythm and Blues, sondern
auch der „weißen“ Rockmusik entwickelt (sofern sie diesen Namen noch verdient).
Der Swing ist die Elementarform jener „Polyrhythmik“, die später zum
Kennzeichen des Funk-Soul werden und ihren Meister in Michael Jackson finden
soll.
Übrigens: „Rhythm and Blues“ ist kein
Stilbegriff, sondern eine Vermarktungskategorie. Bis 1945 hatte Billboard seine
Black Charts unter dem Namen The Harlem
Hit Parade veröffentlicht, dann änderte das Blatt den Titel, dem
Sprachgebrauch der Schwarzen folgend, in Race
Music ab - was allerdings bald als diskriminierend empfunden wurde, und so
hieß die Rubrik seit 1949: Rhythm and
Blues. Das ist alles.
Rhythmisch
betont war die schwarze Musik immerhin, und daß vieles vom Blues herkam, stimmt
auch. Nun folgt zwar der Blues-Song einem strengen Formschema, aber stilistisch
ganz so eindeutig, wie man heute, nach seiner puristischen Verengung auf ein
(meist weißes) Liebhaber-Publikum glauben machen will - ganz so eindeutig ist
er nicht. Und er war früher auch nicht viel schwärzer als heute. Der Blues hat
seinen Namen nicht von den Blue notes. Wie jene, kommt er von feelin' blue, womit jene eigenartig
schwermütige Stimmung gemeint ist, wenn einen plötzlich die Frage nach dem Sinn
des Daseins erwischt; wenn man um sich sieht und auf einmal nur noch Fremde
erblickt; wenn alles festgefahren scheint... Im Blues ist immer irgendwas
kaputt. Eine Gemütsverfassung, die bei den Armen öfter vorkommt als bei den
Reichen und Schönen. Zwar gab und gibt es im Süden der USA auch eine Menge poor whites. Aber die Schwarzen waren
alle arm. Bei den Weißen war einiges, bei den Schwarzen war eigentlich alles
kaputt. Every Day I Have The Blues,
hieß B.B. Kings erster großer Plattenerfolg. Und so galt die Sorte von Liedern,
in denen sich das feelin' blue
Ausdruck und Erleichterung verschaffte, eben auch als „typisch“ schwarz. Aber
exklusiv schwarz war sie nicht. Ein Gutteil der „weißen“ Country- und
Westernmusik könnte man ebensogut als Blues einordnen, sowohl der Form als dem
stimmungsmäßigen Gehalt nach. Das Etikett C&W
ist so wenig ein Stilbegriff wie R&B,
sondern auch nur eine Vermarktungskategorie, eingeführt 1949 von Billboard als
Name für das Konsumverhalten des weißen Landproletariats in den Südstaaten. Und
natürlich hören nicht nur Weiße C&W:
„Meine Mutter wuchs in Alabama auf, und in diesem Teil des Landes war es für Schwarze
ebenso normal, mit Country&Western-Musik aus dem Radio großzuwerden, wie
mit Kirchenliedern“, schreibt Michael Jackson.
Im Blues herrscht eine gedrückte
Stimmung. Der Bluessänger präsentiert sich als Einzelgänger, ein Glück- und
Heimatloser. Immer ist er irgendwie Opfer, und meistens klagt er. Nobody loves me, nobody seems to care,
sang B.B. King in besagtem Stück, keiner liebt mich, keiner schert sich um
mich. Der ursprüngliche country blues
wurde in den dreißiger Jahren von der Landstraße in die Cafés der
Schwarzenviertel der nördlichen Großstädte hineingetragen und wandelte sich da
zum city blues, der auch anders
klang, schneller, härter, aggressiver; und tanzbarer. Hier wird der Blues zur
„schwarzen“ Kunst. Er ist der fruchtbare Boden, aus dem sich der ewig
totgesagte Jazz immer wieder regeneriert. Der Jazz selbst war aber stets eine
Kunst von Eliten für Eliten, schwarze und weiße. Und eine kommerzielle Kunst:
nur für ein gut zahlendes Publikum. Der städtische Blues war zugleich auch ein
sprudelnder Quell für die Unterhaltungsmusik der einfachen Leute. Auch eine
kommerzielle Kunst - nur nicht so teuer ! Jede neue, lebenskräftige Form wird
durch zu lange Nutzung verschlissen, dann wird sie flach und schal. Aber nicht,
weil sie „kommerzialisiert“ wurde - das sagen nur die, die selbst keinen Erfolg
hatten. Hier ist überall von Unterhaltungskunst die Rede, und die ist
kommerziell, von Anbeginn. Sie ist nicht echt oder unecht, sondern gut oder
schlecht. (Bloß für Applaus und gute Worte tun's die Berliner Philharmoniker
übrigens auch nicht.)
Der Blues ist nur eine, nämlich die
profane und „sündige“ Quelle der schwarzen Unterhaltungsmusik. Die andere ist
der Gospel, die geistliche Quelle. Gospel, das ist The Good Spell, die Frohe Botschaft. Das einzige, was in der
schwarzen Welt nicht kaputt war. Unnötig zu sagen, daß auch die christlichen
Kirchenlieder nicht aus Afrika mitgebracht wurden. In den Nachbarschaften der
Südstaaten lebten Schwarze und Weiße, bei aller Segregation, doch näher
beieinander, als heute in den nördlichen Metropolen, wo die Innenstädte
schwarz, die Vororte weiß sind. Die neuen religiösen Erweckungsbewegungen, die
seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts durchs Volk gingen, waren bei der
Hautfarbe nicht wählerisch - Hauptsache, es kamen viele. In den Kirchlein und
Andachtsräumen des ländlichen Südens wurden, diesseits von schwarz und weiß, so
ziemlich dieselben Spirituals gesungen. Allerdings wurden sie, je nach
Zusammensetzung der Gemeinden, verschieden intoniert, zumal seit den dreißiger
Jahren, als bewußt Jazz-Klänge in die schwarzen Gebetssäle hineingetragen
wurden - und so Gospel im engeren Sinn entstand.
Nicht nur die musikalischen Formen des
Gospel, sondern auch seine Interpreten fanden Eingang in die
Unterhaltungsmusik. Schon der Blues zeigt Elemente des - als typisch
afrikanisch geltenden - call-and-response-Schemas:
In einem (viertaktigen) ersten Teil wird eine Frage formuliert; in den
folgenden vier Takten wird sie wiederholt. Im ebenfalls viertaktigen Schluß
gibt der Sänger sich endlich selbst eine Antwort. Dies Schema ist im Gospel
vereinfacht und akzentuiert. Der Vorsänger (Prediger) redet die Gemeinde an,
die Gemeinde antwortet im Chor - und die klassische Strophenform des
europäischen Volkslieds ist „neu erfunden“. (Der Refrain heißt in der
amerikanischen Unterhaltungsmusik seither chorus
- wie auch der melodiöse Solovortrag im Jazz.) Vom Blues kommen die Themen -
das Rassenthema, der Geschlechterkampf, die Not; und das Instrumentarium: Baß,
Bläser, Schlagzeug - und vor allem die Gitarre! Aus dem Gospel kommt die
spezifische Verbindung von ekstatischer Rhythmik mit einer Melodik, die mehr an
der Musik als am Wort orientiert ist. Es ist kein Zufall, daß die größten
R&B-Interpreten, von Little Richard über Ray Charles bis James Brown und
Stevie Wonder, vom Gospelgesang herkommen - und übrigens auch Elvis Presley.
Unterstrichen wird die größere Bedeutung der Melodie durch den Einsatz der
Orgel (Harmonium). Das alles bringt einen neuen Gestus in die profane Musik der
Schwarzen: Der depressive, jammernde Ton des Blues wird vom hoffnungsfrohen
Klang des Evangeliums abgelöst. Das feelin'
blue vereinzelt, die gemeinsame Erwartung des Erlösers vereinigt die
Menschen. Der Gospel drängt zum Tanz, und die Tanzmusik kann den Gospel besser gebrauchen
als den Blues.
Das, was Billboard seit 1949 (demselben
Jahr, als die Plattenfirma Chess Records
entstand, um den Chicago Blues zu
vermarkten) als Rhythm and Blues klassifizierte war einfach diejenige
Unterhaltungsmusik, die die Schwarzen hörten, und gewöhnlich stammte sie von
schwarzen Musikern... Darin flossen Elemente von Blues und Gospel zusammen. Das
melodische Material wurde von überall hergeholt - meistens aber aus dem
„weißen“ Pop. Letzteres ist ebenfalls kein Stilbegriff, sondern bezeichnet
wahllos alle „populäre“, d. h. Unterhaltungsmusik - im Unterschied zur
„ernsten“ Musik. Da aber nur ein gutes Zehntel des amerikanischen Publikums
„schwarz“, und die andern (mehr oder weniger) „weiß“ sind, herrscht im
Mainstream eben weißer Geschmack vor. Oder besser, herrschte. Denn was wir in
diesem Buch (unter anderm) erzählen, ist die Geschichte, wie sich der schwarze
Geschmack in der Unterhaltungsmusik durchgesetzt hat - erst in Amerika, dann
auf der ganzen Welt.
Es geht, wie gesagt, um die unterschiedliche
Verteilung von Melodik und Form hier, und Rhythmik und Ausdruck da. Der große
Kritiker und Wegbereiter der zeitgenössischen („ernsten“) Musik Hans Heinz
Stuckenschmidt hat schon in den fünfziger Jahren von der „rhythmischen
Verkümmerung in der Tonkunst der weißhäutigen Rassen“ gesprochen (und hat sich
mehr für Strawinski als für Schönberg interessiert). Jedoch „am Anfang war der
Rhythmus“, entdeckte vor über hundert Jahren der Dirigent Hans von Bülow (und
lief von Wagner zu Brahms über). Nein, es geht hier natürlich nicht um eine
Wertung, gar um die Umkehrung des konventionellen Urteils über ‚hohe’ weiße und
‚ordinäre’ schwarze Musik. Hier interessiert uns vielmehr das Phänomen, daß es
die schwarze Musik war, deren Rhythmik und Ausdrucksqualität zur Musiksprache
der Völker der Welt geworden ist, während die konstruktive weiße Musik, trotz
allen - gelegentlich forcierten - Ausdrucksbemühens sogar den Kontakt zu ihrem
angestammten Publikum verloren hat.
Die Expressivität der
schwarzamerikanischen Musik hat sicher damit zu tun, daß den afrikanischen
Sklaven nach dem Verlust ihrer Muttersprachen als einziges Mittel zur
Darstellung seelischer und geistiger, d. h. nicht-handgreiflicher Bedeutungen
nur Gesang und Tanz geblieben waren. Ein vorzügliches Mittel, muß man sagen,
und sie haben es gut gepflegt. Andererseits war es bis in dieses Jahrhundert
hinein normal, daß ein Schwarzer nicht lesen, geschweige denn schreiben konnte.
Es wird kaum wundernehmen, wenn die kurze Zeit seither nicht ausgereicht hat,
unter den African Americans denselben
Sprach- und Wörterkult heranzuzüchten, auf den sich Old Europe so viel zugute
hält. Die Musik nimmt in der schwarzen Kultur auch weiterhin mehr Platz ein als
unter den Weißen. (Die sprachlastige zeitgenössische Rap-Welle erscheint so in
einem andern, sozusagen „weißen“ Licht.)
Die Zukunft der Musik liege in den
„Negerliedern“, prophezeite Antonin Dvorak vor hundert Jahren, am Ende seines
Amerika-Aufenthalts. Dies böhmische Naturtalent hatte ein feines Ohr fürs
Tänzerische. Dabei ging es ihm nicht um den Ausdruck an sich, sondern um den
Rhythmus als dasjenige Moment, das in der Musik die Spannung aufbaut: das, was
den Hörer ergreift - nicht als Zerstreuung, sondern als eine Unruhe, die ihn
(buchstäblich) auf die Beine bringt.
Man darf sich wohl fragen, ob sich der
abendländisch-weiße Kult um die Wörter und die logisch verknüpften Sätze nicht
um die Jahrtausendwende zu Tode gesiegt hat, und ob nicht die Anschaulichkeit
im ‚Begriff’ ist, eine neue Macht über den Geist der Menschen zu gewinnen. Doch
so weit sind wir hier noch nicht. Das kommt zum Schluß. An dieser Stelle reden
wir vom Anteil der Musik am Aufstieg des nigga
zum African American, der in den
sechziger Jahren begann. Wir sind wieder bei Berry Gordy und Motown.
Motowns Programm war es, die schwarze
Unterhaltungsmusik in Amerika zum herrschenden Geschmack zu machen - den
Mainstream „einzuschwärzen“. Wenn es zu diesem Zweck nötig wurde, die schwarze
Musik ein klein wenig zu „weißen“, dann war das für Berry Gordy keine
Gewissensfrage. Die Musik, die so entstand, wurde von Motown als The Sound Of Young America propagiert -
mit durchschlagendem Erfolg. So kamen von den hundert erfolgreichsten
Hit-Singles des Jahres 1966 bereits sechsunddreißig aus Berry Gordys Hitfactory ! Viele der bedeutendsten acts des R&B wurden von Motown
aufgebaut oder waren mit der Firma verbunden. Nach dem schon genannten Smokey
Robinson sollten Stars wie Stevie Wonder, Marvin Gaye, Marv Johnson, Gladys
Knight, Mary Wells und Diana Ross, sowie die Gruppen The Temptations, die Top
Four, die Isley Brothers, The Supremes kommen...
Was war das Erfolgsrezept der
Schlagerfabrik? Ein Mann von der Konkurrenzfirma Stax beschreibt es, halb anerkennend, halb verärgert, so: „Es gab
da diese Redensart unter Schwarzen, daß die Weißen es einfach nie lernen
würden, zum Takt der schwarzen Musik zu klatschen. Was Motown machte, war ganz
gerissen. Sie schlugen den weißen Kids den Beat einfach lautstark um die Ohren.
Das hörte sich für uns bei Stax zwar nicht mehr nach Soul an, aber Mann - es
verkaufte sich!“ Tatsächlich steckt die Besonderheit des Motown-Sounds im
Arrangement. Da war einerseits der reichliche Einsatz von Melodie-Instrumenten,
wie es der Mainstream-Hörer aus Hollywoods Filmsinfonien gewöhnt war. Dazu ein
unüberhörbarer Baß, der dem weißen Ohr etwas gab, woran es sich halten konnte.
Aber bei alldem ging der funk nicht
einfach verloren: Die Singstimmen wurden in den orchestralen Gesamtklang
eingewoben, traten nur gelegentlich ganz hervor, so daß ein Gewebe vieler
Linien entstand, die sich kreuzten, stritten und wohl auch verbanden. Über
einem hämmernden Beat „schwebte es“...
Als die Jackson 5 zu Motown kamen, hatte sich die amerikanische
Unterhaltungsmusik gegenüber der Zeit der Harlem
Hit Parade schon sehr verändert. Es war eine erste schwarze Welle durch den
Publikumsgeschmack gerollt, die aber nicht ohne Folgen für die schwarze Musik
selbst geblieben war. Was 1949 „Rhythm and Blues“ getauft wurde, war in zwei
Teile zerfallen - in weißen Rock'n'Roll
und schwarzen Soul. 1954 fiel dem New
Yorker Label Atlantic erstmals auf,
daß die weißen High-School-Kids im Süden neuerdings lieber nach den (von ihr
produzierten) R&B-Platten tanzten, statt - wie früher - nach C&W. Es
gab offenbar einen wachsenden weißen Markt für schwarze Musik. Doch nie würde
ein schwarzer Künstler zum ganz großen Star des Mainstream-Publikums werden!
Wenn es aber gelänge, den R&B äußerlich zu „entschwärzen“, mußte sich damit
viel Geld machen lassen... So soll es gekommen sein, daß der (weiße) New Yorker
Disc-Jockey Alan Freed seine R&B-Platten den (weißen) Radiohörern unter dem
neuen Etikett „Rock'n'Roll“ angepriesen hat. Und so kam es auch, daß ein Sänger
mit einer schwarzen Stimme und einem weißen Gesicht beiderseits des Atlantik
zum ersten Weltstar der Unterhaltungsmusik aufsteigen konnte. Die Rede ist von
Elvis Presley.
Der Rock'n'Roll hat die Welt erobert,
aber er hat sich dabei wirklich entschwärzt. Dahinter steckt eine interessante
Verflechtung gesellschaftlicher und technologischer Entwicklungen. In den
Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, erst recht aber seit Ende des Koreakriegs
war eine Unruhe unter der amerikanischen Jugend ausgebrochen, die sich bald
auch - nicht zuletzt durch Rock'n'Roll
und Bebop - auf Europa übertragen sollte.
Sie machte die Jugend als eine besondere Käuferschicht interessant und machte
sie zu einem Marktfaktor. Denn gerade hatte der Wechsel von Schellack zu Vinyl
der Plattenindustrie erlaubt, anstelle der schweren, zerbrechlichen 78er die
leichten, haltbaren 45er-Singles auf den Markt zu bringen, die außerdem noch
billiger waren – Taschengeld-verträglich! Heute bedeutet Massenkultur, trotz
Vergreisung des Westens, ganz selbstverständlich Jugendkultur. Doch das ist
erst seit dem Rock'n'Roll so.
An diesem Punkt beginnt sich der
Rock'n'Roll vom Rhythm&Blues zu unterscheiden. R&B war schwarz, aber
altersunabhängig. Ihn hörten Greise und Kinder. Rock'n'Roll war rassenneutral,
aber generationsspezifisch. „Die Teenagersicht der Dinge, die schon immer der
Kern des Rock'n'Roll-Ethos war“ - so der R&B-Historiker Nelson George -,
sei in Text und Musik gleichermaßen h”rbar. Freilich konnten sich auf Dauer nur
die jungen Weißen leisten, sich zu allererst als Teenager zu fühlen. Die jungen
Schwarzen dagegen blieben vor allen Dingen - Nigger. Rock'n'Roll war keine neue musikalische Richtung, sondern
ein neuer Lebensstil. Und der war - Chuck Berry und Little Richard zum Trotz -
so weiß wie Elvis Presley und Jerry Lee Lewis.
Auch musikalisch verdankt der
Rock'n'Roll seinen Siegeszug einer technischen Neuerung. Und zwar der
elektrischen Gitarre, die 1953 auf den Markt kam. „Der elektrische Baß
veränderte für immer die Beziehung zwischen der Rhythmusgruppe, den Bläsern und
den anderen Melodieinstrumenten“, schreibt Nelson George und zitiert Quincy
Jones: Der E-Baß „änderte wirklich den Sound der Musik, weil er so viel Raum
beanspruchte. Sein Klang war so dominierend im Vergleich zum herkömmlichen Baß,
er konnte einfach nicht die gleiche Funktion haben. Vor dem Aufkommen des elektrischen
Baß und der elektrischen Gitarre diente die Rhythmusgruppe nur zur
Unterstützung der Bläser und des Klaviers. Aber nachdem sie auftraten, mußte
sich ‚oben’ alles ein bißchen in den Hintergrund verziehen. Die Rhythmusgruppen
wurden zu Stars. Alles wegen der technischen Entwicklung.“ Mit dem R&B war
die Tanzmusik schnell geworden. Jetzt wurde sie ohrenbetäubend laut. Der
Geschmack der Jugend beginnt, in der Massenkultur den Ton anzugeben.
Während anfang der Sechziger der
Rock'n'Roll mehr und mehr zu einer weißen Angelegenheit wurde, scheint zugleich
das schwarze Publikum den Gefallen am Blues verloren zu haben. Übrigens auch am
typischen Instrument des Blues, der Gitarre. Fast möchte man sagen, die
charakteristische Blues-Stimmung habe bei den Rockern Zuflucht gefunden. Sicher
ist, daß seine resignierte und wehleidige Grundhaltung gar nicht mehr passen
wollte zu dem neuen schwarzen Selbstbewußtsein, das sich in Amerika seit dem
blutigen Aufstand von 1965 in Watts, dem Negerghetto von Los Angeles, ausgebreitet
hatte. Die Stimmung der Schwarzen wurde selbstbewußt, dynamisch und
optimistisch. Sie kam jener andern Quelle des R&B, der Frohen Botschaft des
Gospel, wieder näher. (Daß die Weinerlichkeit des Blues seither die weiße
Hörerschaft ergriffen hat, steht auf einem andern Blatt.) Bereits 1954 hatte
Ray Charles den Blues-Text I got A Woman
zur Melodie der Gospel-Hymne My Jesus Is
All The World I Need gesungen, womit er ein Tabu gebrochen und die frommen
Eiferer gegen sich aufgebracht hatte. Das gilt als die Geburtsstunde des Soul.
Als die Jackson 5 bei Motown anfangen, ist Soul längst zum zeitgemäßeren
Synonym für R&B geworden. Ein Stilbegriff ist es immer noch nicht. Im Soul
tritt der melodische Charakter des Chorus gegenüber dem rhythmisch akzentuierten
Couplet noch stärker hervor und der Kontrast zwischen den anspannenden und den
entspannenden Passagen wird verschärft; aber das ist alles relativ... Ob ein
Stück in den Plattenregalen unter Soul/R&B oder unter Rock und Pop
einsortiert wird, hängt darum im Zweifelsfall doch eher von der Hautfarbe der
Musiker ab - und von der Subkultur, aus der sie kommen. Aber der Zweifel ist in
diesem Fall die Regel. Als beispielsweise Michael Jackson 1984 wegen des
überwältigenden Erfolgs von Thriller
einen ganzen armvoll Grammy-Awards erhalten mußte, waren die Titel Beat it als Soul, Billie Jean als Pop und Thriller
als Rock klassifiziert worden. Man hätte es ebensogut andersrum drehen
können...
Natürlich wurde Motowns synkretistische
Vermengung von weißem und schwarzem Geschmack auch angefeindet. Von der
Konkurrenz sowieso. Von den Musikkritikern auch, den die leben vom Kultivieren
des feinen Unterschieds. Vor allem aber von den Ideologen der black consciousness.
Als Motowan Galionsfigur Diana Ross und
ihre Supremes zu Crossover-Superstars
geworden waren, interessierte sich die Werbebranche für sie; man ließ sie für
Weißbrot Reklame machen – und prompt hatte The Sound Of Young America den
Spottnamen Whitebread soul weg. Man
warf ihnen vor, die so teuer erkämpfte schwarze Identität zu verraten. Doch
über kein Thema wird ja in Amerika so viel gelogen wie über die Rassenfrage –
in allen Lagern. Wen einer zu schwarzer Eigenständigkeit und schwarzem
Selbstvertrauen beigetragen hat, dann wohl Berry Gordy, indem er den ersten
schwarzen Wirtschaftkonzern schuf. Nicht nur James Brown, auch Louis Farrakhan
von den Black Muslims versteht unter Black
Power zu allererst: „Bildung und Eigentum“. Und Crossover verkauft auch
nicht die schwarze Seele. Im Gegenteil, ohne die Pionierarbeit von
Crossover-Stars wie Louis Armstrong, Nat King Cole, Harry Belafonte und auch
Diana Ross hätten weder James Brown noch der Reggae oder gar der heutige
Gangsta-Rap beim weißen Publikum je eine Chance bekommen und könnten sich am
Markt nicht halten. (Freilich – ohne
Puristen wie Stax und James Brown hätten sie nicht, was sie
‚vermitteln’ könnten…)
Doch entscheidend ist: Ohne den Sound
of Young America wäre das schwarze Idiom nicht zur Musiksprache der Welt
geworden. Ohne Motown hätte nie ein Schwarzer zum größten Star aller Zeiten
werden können. So richtig schwarz ist er dabei allerdings nicht geblieben:
keine Kunst ohne Ironie...
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