Der Kinderkönig kehrt
zurück
Tereza: „Erwachsen wollte
ich nie sein.“
Calvero: „Wer will das
schon!“
„Rampenlicht“
Nicht nur ist die
Ansteckung ein Anzeichen der Kunst.
Der Grad der Ansteckungsgefahr ist überdies
auch der
einzige Maßstab für die Vortrefflichkeit der
Kunst.
Tolstoi
Er hat sowas Rührendes.
Gerhard Schröder, Ministerpräsident
Schuldig
oder nicht schuldig, in einem Punkt waren sie alle einig: Er ist erledigt. „Das
Ende vom Lied“, titelte Deutschlands größte Illustrierte und wischte sich eine
Krokodilsträne ab; hielt sie ihn doch für das Opfer einer Intrige.
Und
dann hat er es überlebt. Es war die größte Materialschlacht der
Mediengeschichte. Der Golfkrieg dauerte nur ein paar Tage, aber der „Fall
Jackson“ über ein Jahr. Das allein zeigt, wie weit das Phänomen Michael Jackson
über die Ufer der Unterhaltungsbranche hinausgetreten ist. War Thriller die Supernova der
Unterhaltungsindustrie, so war The
Jackson Chase der SuperGAU der
Informationsgesellschaft. An ihm kann man wie im Versuchslabor ihre Gesetze
studieren.
Und
was kam raus? Der Mythus von der Allmacht der Medien ist gebrochen. Sie
beherrschen die öffentliche Meinung nach Gutdünken. Aber sie herrschen offenbar
nicht über die Köpfe der Menschen. Oder waren es die Herzen? Michael Jackson
hat sie jedenfalls überlebt. Sein Mythus war stärker.
Nicht
einmal die, von denen es am ehesten erwartet wurde, hatten in das Kreuzige eingestimmt: die Muttis und
Vatis. Sie blieben gelassen, sie stürmten nicht die Kinderzimmer, rissen nicht
die Platten aus den Schränken, die Videos aus dem Rekorder, die Poster von der
Wand. Auch Deutschlands größte Tageszeitung konnte nichts dergleichen
vermelden. „Niedriger hängen“ war die vorherrschende Stimmung. Ein bißchen überspannt
ist er ja, und vielleicht tut er auch nur so. Aber eine echte Schweinerei traut
man ihm nicht zu. Und vor allem: Wer weiá besser als Väter und Mütter, daß
dreizehnjährige Jungen nicht alle Chorknaben sind! Und selbst die...
Und
die „Betroffenen“, die Kinder? Noch weniger als ihre Eltern konnten sie sich
Michael Jackson bei einer Gemeinheit vorstellen. Und sie hatten einen Verdacht:
Da hatten sie einen Star, der „ganz ihnen gehörte“; größer war er als alle
andern - und den wollten Erwachsene ihnen nehmen! Mal ganz abgesehen davon, daß
sie einer Kampagne, bei der sie lediglich für die Rolle des willenlosen Opfers
taugten, ohnehin nicht trauen mochten.
Am
schwersten hatten es die geschworenen Fans. Nicht daß sie sich von der Frage
nach schuldig oder nicht schuldig irritieren ließen. „Sowas tut Michael nicht.“
Manch einer mag sich still dabei gedacht habe : Und wenn ers getan hat, dann
wird es keine Schweinerei gewesen sein.
Nein,
was sie an ihrem Idol zweifeln ließ, war - daß er nicht gekämpft hatte. Daß er
gelitten hat, davon waren sie überzeugter als irgendwer. Aber einfach
stillhalten? Er hätte den Prozeß durchstehen sollen, gegen Wind und Wetter. „Auf
uns hätte er sich jedenfalls verlassen können!“ Am schwersten fällt ihnen
einzusehen, daß der Star nicht nur von seinen Fans lebt, und seien sie noch so
treu. Er lebt von der breiten Masse des Publikums und den vielen, vielen
Millionen, die sie zahlen. Michael Jacksons Kunst eignet sich nicht zum
Geheimtip für Liebhaber. Sie braucht das große Publikum. Und dessen Zuspruch will
immer neu gewonnen werden.
So
blieb den Fans nur das ergebene Warten auf „das neue Album“, von dem alsbald
gemunkelt wurde. Die neuen Songs sollten mit allen seinen Verleumdern
abrechnen, endlich.
Eine
große Rolle bei der Verteidigung]von Michael Jacksons Weltkarriere spielte die
Münchener Bravo, mit einer Auflage
von anderthalb Millionen Europas größte Jugendzeitschrift, die von einem
Viertel aller deutschen Kinder und Jugendlichen gelesen wird. Kaum daß der
Skandal begann, schaltete Bravo eine
Hotline und fühlte ihren Lesern den Puls. Der Zuspruch war umwerfend. Und das
Ergebnis: Achtundneunzig Prozent glaubten von den Anschuldigungen kein Wort. Es
folgte die Aktion I love Michael. In
zehn Tagen sammelte Bravo rund vierzigtausend Briefe, Postkarten und Päckchen,
die Chefreporter Alex Gernandt persönlich nach Neverland brachte. Bravo war, und darauf ist sie stolz, das
einzige Blatt auf der Welt, das Michael Jackson durch den ganzen Skandal die
Treue gehalten hat.
A
propos Treue. Oben auf dem Gipfel ist es einsam: „Wenn du ein Entertainer bist,
weißt du nie...“ Nach dem Fall wird es noch einsamer.
Pepsi hatte sich am Tag nach
dem Abbruch der Tournee von Michael Jackson zurückgezogen. (Die Fans trinken
inzwischen Mystery - an original Michael
Jackson product.) EuroDisney bei Paris nahm Captain EO aus dem Programm, obwohl der Andrang größer war denn je.
Sonys Unterstützung war zwar knapp
und klar. Aber sie hätte energischer sein können.
Ein
Kapitel für sich war das Verhalten des offiziellen Hollywood. Janet
Jackson
und Liz Taylor gingen überall in die Offensive, wo sie konnten. Marlon Brando
und sein Sohn Miko hatten ihn vor den Staatsanwälten verteidigt. Die
Filmschaupielerin Sharon Stone war öffentlich für ihn eingetreten. Und Steven
Spielberg. Paul McCartney erzählte jedem, der ihn fragte, er würde Michael
Jackson jederzeit seine Kinder anvertrauen. Ein unerwartetes Echo kam von Frank
Dileo: Er habe Michael früher seine Kinder anvertraut und würde es wieder tun.
Der ebenfalls in Ungnade gefallene John Branca ging weiter. Die Sache werde mit
einem großen Triumph für Jackson enden. Die Leute würden sagen: „Schaut euch
diesen Burschen an. Er hat keinem was getan, und seht, was die Presse mit ihm
macht. - Er wird ein Held werden.“ Aber was war mit seinen andern Freunden?
Gewiá, dies Völkchen hat in moralischer Hinsicht keinen guten Ruf in der Welt,
und zuviel Unterstützung hätte Jackson eher geschaden. Er selber sagte aber: „Manche
Freunde sind wie Schatten. Man sieht sie nur, wenn die Sonne scheint.“ Nur seine
Fans seien treu gewesen.
Eine
Stellungnahme wird auch ihn überrascht haben. Maximilian Schell veröffentlichte
im Hollywood Reporter ganzseitig
einen handgeschriebenen Brief an „Michael Jackson (irgendwo auf der Welt)“: „Ich
schäme mich zutiefst - für die Presse, für die Medien, für die Welt.“ Zwar sei
er ihm nur einmal begegnet, aber für sich und seine kleine Tochter sagt er: „Wir
lieben Dich für das, was Du bist.“ Die Fans waren zu Tränen gerührt. Da hat er
recht: Ihnen verdankt er, daß er nicht gefallen ist. Allerdings denken viele
seither, dß er ihnen jetzt ganz gehört. Teilen wollten sie nicht mehr. Schon
gar nicht mit „dieser Frau“.
Diese
Frau - das war Lisa Marie Presley. Seit der außergerichtlichen Einigung hat man
Michael Jackson zwar ein paarmal in der Öffentlichkeit gesichtet, zum Beispiel
am 28. April, um den Preis Caring for
Kids entgegenzunehmen, für den ihn 100 000 Schüler in Connecticut und New
Jersey in der Aktion „Children's Choice“ erwählt hatten. Sonst blieb er
unsichtbar. Aber man wußte, wo er war, was er tat. Er war in New York, wo ihn
der Immobilien-Zar Donald Trump in seinem Trump
Tower vor der Öffentlichkeit abschirmte, damit er - wie immer Tag und Nacht
- an seinem neuen Album arbeiten konnte. Sonst passierte nichts. Außer daß Anfang
Juli - mitten in der Saure-Gurken-Zeit - eines der albernsten Gerüchte in die
Gazetten kommt, die je über Michael Jackson erdacht worden sind. Er soll in der
Dominikanischen Republik klammheimlich geheiratet haben. Und keine andre als
Lisa Marie, die einzige Tochter und Erbin von Elvis, dem King Of Rock'n'Roll! Lee Solters dementierte prompt, und die
Sprecherin von Lisa Marie weiß von nichts. Inzwischen war man auf alles gefaßt
und glaubte, die Ente stamme von Jackson selbst. Schließlich, nach drei Wochen,
gibt MJJ Productions eine Erklärung
von Lisa Marie Presley an die Presse. Sie war seit dem 26. Mai mit Michael
Jackson verheiratet.
Warum
die Heimlichtuerei? „Doch nur, um erst recht Aufsehen zu erregen!“ Aber hätten
sie nicht heimlich geheiratet - welch ein Riesenspektakel wär das geworden. Wie hätte es geheißen? „Nur
um Aufsehen zu erregen!“ So oder so. Michael Jacksons
Karriere war an einem Point Of No Return
angelangt. An
seiner Person hat sich Hype zu einer objektiven Realität verselbständigt. Keiner,
buchstäblich keiner kann sich ihr entziehen, sobald er von ihm redet. Aber nicht
von ihm reden geht auch nicht: Seine Massenwirkung ist zu groß. Auch sie ist
ein Objektivum geworden.
Auf
dem Ben-Album hatte der elfjährige Michael
gesungen: Life ist the greatest show on
Earth - das Leben ist die größte Show der Welt. Der erwachsene Michael hat
das wahrgemacht. Sein Leben ist wirklich ein Show-Spiel. Wer sagt da, daß Spiel
kein Ernst sei? Dieses ist es, denn er kann nicht mehr aufhören.
Kulturpessimisten,
die den Realitätsverlust der Mediengesellschaft bereden, sind mit Blindheit
geschlagen (oder denkfaul). Denn es handelt sich um einen Realitätsgewinn.
Besser gesagt, die Realität ist auch nicht mehr, was sie war - oder schien. Das
Leben ist nicht, was es „ist“. Das Leben ist das Bild, das man sich von ihm
macht. - Das ist nicht neu, jede Künstlerbiographie hat es bewahrheitet, mehr
oder weniger. Was an der Biographie von Michael Jackson jeden Rahmen sprengt,
ist aber: Da ist ein Künstler, den alle
sehen. Das ist es, was ihn anstößig macht. Man kann nicht wegschaun. Er ist überall
und kommt immer wieder. Wir ziehn ihn uns zu, als hätten wir ihn verdient.
Daß
diese Ehe nicht gutgehen konnte, war klar: Alle wußten es. Man nennt es eine self fulfilling prophecy, eine
Propehzeiung, die dadurch wahr wird, daß genügend Leute daran glauben. Eine
Liebeshochzeit? Ausgeschlossen. Eine Scheinhochzeit. Eine Geschäftsverbindung.
Ein PR-Trick. Eine Rauchbombe, eine Maskerade, um Normalität vorzutäuschen - es
ist alles noch zu frisch in Erinnerung, um es zu wiederholen. Und natürlich vom
ersten Tag an die Spekulationen über die baldige Scheidung! Weil er sie nicht
singen lassen will. Weil er sich nicht mit ihren beiden Kindern versteht. Weil
er nie zuhause ist. Weil er immer nur arbeitet. Weil er sich mit kleinen
Jungens rumtreibt. Weil sie in der Scientology-Sekte
ist. Weil sie sich immer mit Liz Taylor zankt. Weil sie nur an sein Geld
will... Das Paradox scheint keinem aufzufallen: Wenn es eine Scheinehe ist -
warum müssen sie sich scheiden lassen? Nach der Scheinehe des Jahrhunderts - die
Scheinscheidung des Jahrhunderts? Von Anfang bis Ende ein Riesenstunt? Bei
Michael Jackson hält man jetzt alles für möglich. Auch unter sonst idealen
Voraussetzungen hätte es diese Verbindung darum schwer gehabt. Die waren aber
nicht ideal. Und sei es nur, weil sich der ewig kleine Michael niemandem überantworten
kann. Control!
Das
markanteste (öffentliche) Ereignis ihrer Ehe war das gemeinsame Live-Interview
in der Fernsehshow von Diane Sawyer auf ABC
am 14. Juli '95. Markant war indes nicht was sie sagten, sondern wie. Nie
wirkte der nervöse, schüchterne Michael Jackson so gelassen und entspannt. Er
alberte sogar rum, und nichtmal bei den Fragen nach dem Sex-Skandal hat er mit
der Wimper gezuckt. Man hatte das deutliche Gefühl: Das kommt von „dieser Frau“!
Es herrschte da offenbar ein großes Einverständnis, und es sah fast aus, als könne
diese Ehe doch eine Weile halten. Zumal sie ihm grad in puncto kleine Jungs zur
Seite stand! Als Frau Sawyer ihn mütterlich ermahnt: Na Michael, mit den
kleinen Jungs im Bette ist ja nun wohl Schlu? - da antwortet er fast pampig: „Wieso
denn?!“ Und als sie verdattert murmelt: Na was solln die Leute denken - da wird
er richtig frech: „Niemand denkt sich was dabei, wenn ich mit Kindern ins Bett
gehe.“ Und Lisa Marie pflichtet ihm heftig bei! Freilich lernt man sie auch als
eine ausgesprochen starke Persönlichkeit kennen. Ein Psychologe formuliert am
n„chsten Tag, was alle denken: „Sie hat die Hosen an.“ Das dachten auch die
Fans. Die hatten - die weiblichen zumal – „diese Frau“ nie gemocht. Weil er
ihnen gehört. Nach zwanzig Monaten hat sich das Paar getrennt.
Zuvor
endlose Ketten von Gerüchten und Dementis. Sie erwarten ein Kind! „Bravo!“
titelt die erwähnte deutsche Tageszeitung am 5. 8. '94. Und sie bringt ein
Computerporträt des zu erwartenden Elvis-Enkels: Opas Schmalztolle, Papas
Rehaugen und (ursprüngliche) Hautfarbe; und, o Wunder: Dessen operierte Nase
erbt der Kleine auch... Wieder eine Ente. Das Interesse der Weltöffentlichkeit
wird auf eine harte Probe gestellt. Das Eheleben sicher auch.
Ihren
ersten gemeinsamen Auftritt erlebte das Publikum in Budapest bei den Außenaufnahmen
zum Werbetrailer für das neue Album. Wieder versa-melte sich die Weltpresse.
Und alle wußten schon, wie grauenhaft der Reklamespot werden würde. Nicht nur
der Boulevard; die Frankfurter Allgemeine
bewies, daß auch ein dummer Kopf hinter ihr stecken kann. Als er dann im Mai
'95 über die Mattscheiben flimmerte, welche Enttäuschung: Man sah nicht, was
man hatte sehen wollen. Dafür erkannte man jetzt Ähnlichkeiten mit der NS-Propaganda
von Leni Riefenstahl. Wegen der Massenszenen und Marschkolonnen. Man hätte
ebensogut an Eisensteins Potemkin
oder Fritz Langs Metropolis denken können.
Doch das hätte dem Künstler geschmeichelt, statt ihn zu schmähen.
HIStory würde es schwerer
haben als jeder seiner Vorgänger, das war klar. Der Sättigungsgrad des
Publikumsinteresses war erreicht. Sony soll über dreißig Millionen Dollar in die
Werbung gesteckt haben; auch ein Rekord. Es wurden alle Register gezogen.
Allein das Plattencover habe eine Million gekostet. Die Plakate an den Litfaßsäulen
waren gut zwei Meter hoch - und in sieben europäischen Metropolen, darunter in
Berlin am Alexanderplatz, wurden zehn Meter hohe Michael-Jackson-Statuen aus
Stahl und Fiberglas aufgebaut! Am 29. Mai '95 endlich erscheint in Europa Scream, „Aufschrei“, die erste Single
aus dem neuen Album, und zwei Tage darauf in USA. Ein merkwürdiges Stück. Ein
Duett mit seiner netten Schwester Janet - aber sonst ist nichts Nettes daran.
Eine rudimentäre Melodie, sie singen nicht, sie schreien und fauchen, das Ganze
unter einem gewaltigen Lärmteppich. Polyrhythmisch im reinsten Jackson-Stil -
aber da „schwebt“ nichts mehr! Nicht Linien kreuzen sich, sondern Massen
krachen aufeinander, daß die Erde bebt. Allerdings ist es kein rein-ästhetisches
Problem. Es hat mit dem Text zu tun. Es ist eine vehemente Schimpfkanonade Über
den „Fall Jackson“! Stop pressurin' me -
make me wanna scream, hör auf, mich zu quetschen, daß ich schrei! Und beide
singen gar, man traut seinen Ohren nicht, das schreckliche f...- Wort. Diesmal ist nichts zweideutig, und es gibt keinen
Grund, daß irgendwas „schebt“. Der Klang bleibt, das sei gerechterweise gesagt,
knochentrocken. Es knallt, aber - wie immer - es dröhnt nicht. Klarheit, kein
Matsch.
Ein
paar Tage später wird mit großem Brimborium das Video vorgestellt,
schwarz-weiá, aggressiv, futuristisch, ein Spitzenprodukt der Computeranimation.
Es soll allein schon 7 Millionen $ verschlungen haben.
Das
neue Album beginnt sofort mit einem Rekord. Scream
steigt in der ersten Woche auf Platz 5 der Billboard-Charts ein. Michael
Jackson bricht den Rekord der Beatles. Doch wie um zu zeigen, wie schwer es His story noch haben wird, kommt in der
nächsten Woche die kalte Dusche : Der neue Rekord wird sogleich eingestellt -
ironischerweise von dem (im letzten März ermordeten) Gangsta-Rapper The Notorious BIG, der auf HIStory eine Gastdarbierung gibt (This Time Around). Schlimmer: Er verdrängt
Scream nicht nach oben, sondern nach
unten! Es fällt auf Platz 6, um nie mehr zu steigen.
Am
16. Juni, andertahlb Tage nach dem Interview auf ABC, kommt HIStory in
Europa in die Läden, vier Tage später in den USA. In den ersten Tagen werden
mehr davon verkauft als seinerzeit von Dangerous,
und das Album steigt in wenigen Wochen auf allen wichtigen Märkten auf Platz
eins, wo es sich eine Weile h„lt.
Genauer
gesagt, es ist ein Doppelalbum. Lange vor dem „Fall“ war bei Sony über ein
Greatest-Hits-Album nachgedacht worden, und nach Michaels Rückkehr aus dem
englischen Exil wurde dieser Plan wieder aufgegriffen. Es sollte um drei neue
Stücke mit direktem Bezug zu dem aktuellen Skandal erweitert und mitten im
Gefecht auf den Markt geworfen werden. Aber das scheiterte an Michaels
Arbeitsweise. Es blieb nicht bei drei neuen Stücken. Schließlich war das
Material so angewachsen, daß ein Album mit zwei CDs daraus wurde. HIStory I umfaßt die fünfzehn weltweit
erfolgreichsten Stücke seit Off The Wall.
Sie wurden nach dem letzten Stand der Technik digital neu remastert. „Es ist
als ob man sie zum erstenmal hört®, sagt der an dem Projekt beteiligte
Produzent Babyface - und so ist es.
HIStory II umfaát 14 neue Stücke
sowie eine Cover-Version von Michaels Lieblingslied der Beatles, Come Together. (Die kennt man aus dem Moonwalker-Film, sie war u. a. auch auf
der Single Jam schon zu hören.)
Eigenartigerweise
war der Verriß in der Musikpresse nicht so einstimmig wie befürchtet. Zwar ließ
auch der Rolling Stone diesmal kein
gutes Haar an dem Album, wie viele andere. Aber es gab auch manch durchwachsene
Kritik. Begeistert begrüßt wurde es freilich nur von erklärten Fans, und nicht
von allen. Der vorherrschende Eindruck war Befremdung. Wirkte Dangerous wie ein Werk aus einem Guß, so
fällt HIStory durch die extreme
Ungleichartigkeit der einzelnen Stücke auf. Da sind stimmungsvolle Balladen mit
großem Orchester im reinsten Hollywood-Klang: Childhood, Little Susie, Smile (eine Reverenz an Charlie Chaplin).
Und ohrenbetäubende Kracher wie Scream
und 2Bad. Auch nicht grade leise,
doch nervös verfunkt: This Time Around
und D.S.; genau dazwischen Tabloid Junkey. Es gibt die
spannungsreiche Soulballade Stranger In
Moscow und die ekstatische Gospelpredigt Earth Song. Neben dem 08/15-Stück You Are Not Alone (von R. Kelly) steht als Solitär der
hoffnungsfrohe Hymnus History.
Dazwischen, man weiß nicht warum, das Beatles-Cover Come Together. Die Kinderhymne fehlt diesmal, stattdessen ein
heftiger Abzählreim, zappelig und schrill, They
Don't Care About Us. Und nicht zu vergessen: das kammermusikalische Juwel Money; minimal music, und doch -
klassikerverdächtig.
Und
es fällt auf: Alles eindeutig, keine Ironie, keine Komik. Daß dem Ganzen die
unverwechselbare Physiognomie fehlt, kann man daher nicht sagen. Sie liegt aber
nicht in der ästhetischen Form, sondern im Stoff. Denn wie ein Kranz sind alle
Stücke rund um den springenden Punkt in His
story geflochten: The Jackson Case! Das
hat es noch nie gegeben: ein Album, das vollständig einem Ereignis aus dem
Privatleben des Sängers gewidmet ist! Hype auf ihrem Höhepunkt? Ja, wenn es ein
‚privates‘ Leben gewesen wäre. Es war aber der öffentlichste Fall des
Jahrhunderts. Was hätte man gesagt, wären auf dem so ungeduldig erwarteten „neuen
Album“ grad mal Anspielungen, ein paar Andeutungen, einige Spitzen zu hören
gewesen? Drückeberger ! So wars aber nicht. Wie heißt es jetzt? Größenwahn.
Will
sagen, im „Fall Jackson“ ist auch Antihype zum Objektivum geworden; kein Weg führt
an ihr vorbei.
Am
24. August '95 erscheint die Single You
Are Not Alone, begleitet von einem aufsehenerregenden Video. Das Aufsehen
gilt dem Ehepaar Jackson, das man hüllenlos miteinander turteln sieht. Die
Single selbst stellt nun aber einen Rekord auf, den ihm keiner mehr nehmen kann:
Zum erstenmal steigt ein Lied in den Billboard Charts auf Platz eins ein!
Vierzehn Tage später verleiht MTV seinen Video
Music Award. Scream war in elf
Kategorien nominiert. Ein Riesenspektakel, denn - Michael Jackson eröffnet die
Show. Es ist sein erster Auftritt in den USA seit dem Super Bowl. Und es wird
einer seiner größten Triumphe. Nach einem Greatest-Hits-Medley, wo er von einem
frenetischen Slash an der Gitarre unterstützt wurde, tanzt er Billy Jean, mit Moonwalk und allem, und
es folgt das Gangster-Ballett zu Dangerous:
„Es gibt Leute, die gehn auf Nummer sicher und nehmen den geraden Weg. Aber es
gibt auch welche, die balancieren lieber auf der Mauer. - Dies Stück ist für
die von euch, die gern gefährlich leben!“ Zum Schluß You Are Not Alone. Er ist in Höchstform, so als sei nichts
passiert. Und nach wie vor schwächt die
immer weiter getriebene artistische Perfektion um keinen Deut die
Ausdruckskraft. (Doch Lisa Marie sitzt dabei und verzieht keine Miene. Die Fans
schütteln den Kopf.)
Scream erhält nur drei
Auszeichnungen. Als Janet neben ihrem Bruder auf die Bühne steigt, liest man
auf ihrem Rücken: Pervert 2;
ebenfalls pervers.
Michael
Jackson treibt sich in dieser Zeit oft in Europa herum. Während des gemeinsamen
Interviews mit Lisa Marie hatte er davon gesprochen, Amerika zu verlassen und
nach Europa oder nach Südafrika zu ziehen. „Schöne Länder - für den Urlaub“,
hatte die Gattin pariert. Nun wollte man ihn allenthalben Grundstücke kaufen
sehen, ein Schloß in Frankreich, ein Chalet in der Schweiz, ein Manor in
Schottland... In Deutschland wurde er dagegen mehrfach im Vergnügungspark Fantasialand in Brühl bei Köln
gesichtet, und man munkelt, er sei an dem Unternehmen beteiligt. Auffällig ist,
wie (vergleichsweise) locker und leutselig er neuerdings seinen Fans begegnet.
In Deutschland mag er vielleicht nicht wohnen (wieso eigentlich nicht?), aber
das heißt nicht, daß er hier nichts vorhat. Er hat. Am 7. Oktober kündigte
Thomas Gottschalk, das Sprechrohr der Nation, einen Live-Auftritt von Michael
Jackson in seiner Fernsehshow „Wetten daß“ an, und man dachte, er sei auf „Verstehn
Sie Spaß“ reingefallen.
War
er nicht. Michael Jackson kam wirklich. „Ach, tut doch nicht so, als hättet ihr
auf mich gewartet“, flaxt Thommy in den tosenden Saal. Doch so bescheiden, wie
es klingt, ist es nicht gemeint. Er platzt fast vor Stolz. Das größte
Medienereignis des Jahres! Ihm ist gelungen, was noch keinem gelungen war: Er
hat den größten Star aller Zeiten in eine Fernsehshow geholt. „Es gab einige,
die gehofft haben, er kommt nicht, gegönnt haben es uns die wenigsten, aber ich
habe gewettet, daß er kommt!“
Seit
dem Vorabend ist zwischen Rhein und Ruhr die Hölle los. „NRW im Jacko-Fieber“,
meldet der Teenie-Sender VIVA. Achtzehn
Millionen hatten diesmal „Wetten, daß“ eingeschaltet, eine Einschaltquote von märchenhaften
zweiundfünfzig Prozent, und zu Spitzenzeiten bis zu fünfunzwanzig Millionen.
Die Spitzenzeiten - das war der Auftritt von Michael Jackson. Zwei von drei Deutschen
haben ihn gesehen. Keinen interessierten diesmal Gottschalks Wetten. Nein, auf
ihn hatte man wirklich nicht gewartet. Doch gut eine Stunde lang hört man ihn
tapfer talken. Gerhard Schröder, noch Ministerpräsident und Kanzler im
Wartestand, und Andrew Lloyd Webber bestreiten wacker ein endloses Vorprogramm.
Dann ist es so weit: „Er ist da!“
Und
Deutschland erlebt sein blaues Wunder. Die erste Lieferung dauert gerade mal
vier Minuten. Jackson tanzt Dangerous.
Die Fans wußten ja, was sie erwarten durften. Aber wie viele waren das? Ein
paar hunderttausend, eine große Masse - vergleichsweise. Doch heute Abend
erleben ihn neun von zehn Zuschauern zum allererstenmal. Die Neugier treibt sie
an die Mattscheiben, nicht die Sympathie. Mal sehn, was an dem dran ist.
Und
sie sehn es. Jackson at his best.
Beschreiben läßt es sich nicht. Ist auch nicht nötig: Die Chancen, daß Sie es
selbst gesehen haben, lieber Leser, stehen zwei zu eins.
Der
Neuling erhält eine Dreiviertelstunde Zeit, die Bilder zu verdauen. Nämlich das
Nebeneinander, das Ineinander von vollkommener Perfektion, von kalt
kalkulierter Raffinesse auf der einen, und unbekümmerter Wildheit auf der
andern Seite - wie ein Junge, der auf seinem BMX-Rad tobt. Und alles so geschwind - die Kameraleute des ZDF sind
sichtlich überfordert.
„Hier
ist er ein zweites Mal“: Den Gangsterhut hatte er vorhin in die Menge geworfen,
die schwarze Jacke hinterher, nur im offenen weißen Hemd tritt das schmale
Kerlchen jetzt allein auf die Bühne, mit seinem dünnen, stets etwas heiseren
Knabentimbre haucht er eine sanfte Ballade, Earth
Song, Weltpremiere, schwefelgelber Rauch, ein brennender Wald, verkohlte
Erde, es hat was mit der Umwelt zu tun, das trifft das Herz der Deutschen. Aber
dann kommt Spannung auf, er schwingt, er hüpft, er stampft, er springt, er
schreit - und nun ist er nicht mehr zu halten.
Nein,
das hat man in Deutschland noch nicht gesehen. Der Saal ist in Aufruhr,
krawattenbewehrte Herren in den besten Jahren und bei bester Gesundheit reißt
es von ihren Sitzen, die Vatis und Muttis folgen ihrem Jüngsten und die Fans
heulen sich die Seele aus dem Leib. Immerhin, diesmal hat er ganze sieben
Minuten gebraucht. Und während der Saal so richtig kocht, erleben wir eine
Minute lang den Blick in ein Mysterium. Stolz wie ein Schuljunge geht er an der
Rampe lang, sonnt sich im Beifall und... bohrt verlegen die Hände in die
Hosentaschen. Ach, es kommt noch schlimmer. Jetzt tritt Gottschalk neben ihn,
der blonde Hüne überragt ihn um einen Fuß, der King Of Pop zieht wie vor seinem Lehrer den Kopf ein und die
Schultern hoch, als hätte er sein Gedicht vergessen, ruft noch auf Deutsch „Ich
liebe euch!“ in die Menge, aber schon weiß er nicht mehr, wo er die Hände
lassen soll, zupft an dem zerissenen Hemd, am Kragen, an seinem Haar, er will
weg, Gottschalk tritt näher, Achtung Michael, sieh dich vor! Er will dich ins
Gespräch verwickeln! Da - er hat's gemerkt, er drückt dem verdatterten Plauderkönig
knapp die Hand, und weg war er...
Eine
weitere Premiere, eine kleine, die fast untergeht: Gottschalk hat's die Sprache
verschlagen, das soll dem Michael mal einer nachmachen. Wußte er nicht, daß der
King Of Pop Angst vor den Leuten hat?
„Ich hab ihn vor der Show in seiner Garderobe getroffen“, sagt Gottschalk später,
„da fällt er in sich zusammen. Auf der Bühne ein Energiebündel - und dann
wieder scheu wie ein Reh.“ Hinterher sagt Schröder zur Presse: „Jetzt versteh
ich die Begeisterung der Fans. Er hat sowas Rührendes!“
Die
Presse ?
„Er
ist wieder der Größte“, schreibt ein ungenanntes Blatt. Er steigt wie Phönix
aus der Asche, schrieb Bravo. Earth Song ist bald darauf die Nr. 1 in
Deutschland, und wird es sechs Wochen lang bleiben.
Das
Comeback war in vollem Gang. Ein Paukenschlag stand für die Weihnachtszeit ins
Haus. Weltweit würde ein Konzert von Michael Jackson im New Yorker Beacon-Theater vom Fernsehen übertragen
werden. Höhepunkt: Er würde gemeinsam mit dem Mimen Marcel Marceau sein Lied Childhood interpretieren. Aber daraus
wird nichts. Am Nikolaustag bricht Michael Jackson bei den Proben auf der Bühne
zusammen und kommt auf die Intensivstation. Kreislaufkollaps. Aus aller Welt
strömen die Fans herbei. Schlechte Nachrichten. Er sei in Lebensgefahr. Im
offiziellen Ärztebulletin heißt es, er leide an Herzrhythmusstörungen, einer
Magen- und Darminfektion, akuter Dehydration und gestörtem Salzhaushalt in
Nieren und Leber. Kurz, er hat sich überarbeitet, hat seit vier Tagen nichts
gegessen, hinzu kommt eine verschleppte Darmgrippe. Der National Enquirer weiß es wieder genauer als die andern. Bei einer
Größe von 1,75 m wiege er nur noch 56 Kilo. Magersucht, sagt der Enquirer. Das Ideal jedes Tänzers ist
die Schwerelosigkeit, sagt Heinrich v. Kleist.
Nach
einer Woche kann er das Krankenhaus verlassen. Lisa Marie hatte ihn besucht und
gesagt, daß sie sich scheiden läßt.
Das
Medieninterese an Michaels Gesundheit war entschieden größer als das an seiner
Performance. „Der Körper rächt sich für die Sünden“ (ungenanntes Blatt). Und
auch als er im Februar wieder in der Öffentlichkeit erscheint, sind es nicht
die künstlerischen Aktivitäten, die die größere Aufmerksamkeit finden. Die nächste Single wird They Don't
Care About Us sein. Das
Stück hatte schon bei Erscheinen des Albums für Skandal gesorgt. Es geht - auch
hier - um Michael Jacksons Kampf gegen seine Verleumder und ihre Gerüchteküche.
Da heißt es denn an einer Stelle: Chew
me, sue me, everybody do me. Kick me, kike me, don't you black-or-white me! To kick - klar, das heißt
treten. Aber to kike? Steht nicht im Oxford Dictionary. Denn kike ist ein amerikanisches Slangwort für
Juden, ein abfälliges natürlich. Die Zeile heißt also sinngemäß: Zerkaut mich,
zerrt mich vor Gericht, macht mich alle fertig! Tritt mich, nenn mich einen
Itzig - aber frag mich nicht, ob schwarz oder weiß! Klar: das geht gegen den
schleichenden Rassismus, mit dem er es selbst zu tun bekommen hat. Aber nein,
es wird sich doch im großen Amerika einer finden, der laut „Antisemitismus“
schreit! Und er kann sicher sein, daß er damit ins Fernsehen kommt, wenns um
Michael Jackson geht. Nein, lieber Leser, das ist kein öder Scherz. So war es
wirklich. Ojektive Antihype.
Jetzt
also wird zu diesem Stück ein Video gedreht - ohne das politisch unkorrekte
Wort, versteht sich. Spike Lee, der Regisseur von Malcolm X, wird Regie führen. Und schon geht der Krach wieder los.
Es soll nämlich in Brasilien gedreht werden, unter anderm in einer favela, einem Slumviertel von Rio. „Er
will am Elend der Leute verdienen!“ Diese Aufnahmen würden den Fremdenverkehr
schädigen und Rios Bewerbung für die Olympischen Spiel gefährden. Und so weiter!
Der Gouverneur von Rio verbietet die Dreharbeiten. Die Presse heult. Sie kennen
das Lied gar nicht. Es handelt nicht von den Elenden, Vergessenen, um die sich
keiner kümmert. They don't care heißt
an dieser Stelle: In Wahrheit sind wir ihnen sch...egal. Den Presseleuten nämlich.
Und es stimmte auch diesmal. Als das (vorzügliche) Video Mitte März
herauskommt, sieht man kein Elend, sondern lebhafte, begeisterte und
farbenfrohe Menschen...
Mit
Michael Jackson ist Kiddie Kulture
zur kommerziellen Großmacht geworden, und er mit ihr. In einer stagnierenden
Weltwirtschaft ist sie ein Wachstumspol. Entsprechend heiß umkämpft ist der
Markt. Gerade war dem Branchenführer Disney im DreamWorks-Komplex der Hollywood-Tycoone Steven Spielberg, David
Geffen und Jeffrey Katzenberger ein ernster Konkurrent erwachsen. Da tritt am
19. März Michael Jackson gemeinsam mit dem milliardenschweren saudischen
Prinzen Al Walid in Paris vor die Weltpresse. Sie teilen die Gründung von Kingdom Entertainment mit, einem
Multimedia-Konzern im Bereich der Familienunterhaltung. (Im Hintergrund - der
Sultan von Brunei, reichster Mann der Welt und erprobter Jackson-Fan.) Michael
Jackson will den beiden Großkonzernen als gleichgewichtiger Partner
entgegentreten. Vom einsamen Star zum Weltimperium! Freizeitparks, Musicals,
Elektronik, Spielzeug. Und vor alle : Filme. Doch zuerst einmal wird Kingdom Entertainment die HIStory-Welttournee sponsern.
Diesmal
hat Jackson nicht die Wahl: Er muß wieder auf Tour. Er muß das verlorene
Terrain gutmachen, er muß seine Stellung in Übersee ausbauen. Und außerdem
schuldet er es dem Münchener Konzertveranstalter Marcel Avram, der beim Abbruch
der Dangerous-Tournee Millionen
eingebüßt hatte. Es ist wie immer. Ankündigungen, Verschiebungen, Gerüchte.
Michael Jackson findet kein Ende. Die Fans schwanken wieder zwischen Erwartung,
Enttäuschung, Ungeduld. Wann? Und wo? November, Juni, nächstes Frühjahr...
Singapur, Monte Carlo, Berlin. Nein, bloß nicht Deutschland! Theo Waigels neue
Gesetze machen den internationalen Stars dort den Auftritt unmöglich. (Marcel
Avram ging inzwischen wegen Steuerhinterziehung hinter Gitter.)
Am
7. September beginnt in Prag die HIStory-Welttournee.
Ein neuer Rekord, natürlich: Fast 140 000 Zuschauer bei einem einzigen Konzert,
das gab es noch nicht. Seit dem Vorabend ist eine Völkerwanderung im Gange. Gut
die Hälfte der Teilnehmer kommt aus dem verschmähten Deutschland angereist.
Prag gleicht tagelang einem Heerlager. Die monumentale Show (die sechzig Meter
lange Bühne stilisiert das Brandenburger Tor) ist erwartungsgemäß mit Special
effects vollgestopft. „Woraus andere fünf Shows zimmern, das steckt Michael
Jackson in ein einziges Konzert“, sagt Alex Gernandt von Bravo. Es ist eine dramaturgisch durchgearbeitete Folge von szenischen
Bildern, kleine Akte am roten Faden eines Künstlerlebens: His story. Eine Kunstform irgendwo zwischen Konzert, Multimediashow
und Rockoper. Das ungenannte Blatt ist ein schlechter Verlierer. „Das Konzert
ein Flop. Der Funke sprang nicht über.“ Eine Stimme von hundertvierzigtausend.
Marcel
Avram stimmte anders. Er schob rasch am 28. und 30. September noch zwei
Konzerte in Amsterdam in den ursprünglichen Tourneeplan - wieder bei den
Deutschen gleich um die Ecke. Binnen zwei Stunden waren beide Konzerte im Ajax-Stadion ausgebucht; 150 000 Plätze.
Es
folgen Konzerte in Budapest, Warschau und Moskau, ein erstes Konzert auf
afrikanischem Boden, in Tunis. Dann gehts nach Ostasien. Und Australien.
Sidney,
Sheraton-Hotel. Michael Jackson
heiratet zum zweitenmal. Warum diesmal? Keine Frage: Er muß. Debbie Rowe, die
blonde Krankenschwester mit den etwas herben Zgen, die seit
anderthalb Jahrzehnten in der Praxis von Dr. Arnold Klein sein Hautleiden
behandelt, ist im sechsten Monat schwanger. Es wurde alles darüber gesagt und
geschrieben, was sich sagen und schreiben läßt. Harald Schmidt hat mitgebohrt.
Und doch wurde Michael Jackson am 13. Februar dieses Jahres Vater. Ein weiteres
ungenanntes Blatt zitiert Little Michael: „Mein wunderschöner kleiner Junge!“
Die
Tour geht weiter. Nach seinem Auftritt zu Liz Taylors 65. Geburtstag, wo er
seiner treuen Feundin I Love You,
Elizabeth sang, war er wieder in den Aufnahmestudios. Mitte Mai erscheint Blood On The Dancefloor; pünktlich zum
Start der zweiten Staffel in Monte Carlo. Es folgt ein Album mit
Remix-Versionen der HIStory-Songs und
vier neuen Liedern. Ende des Monats ist er in Deutschland.
Abschluß
eines Kapitels? Anfang eines Kapitels? Scheideweg, Wendepunkt?
Sicher
muß die gegenwärtige Welttournee ein kommerzieller Erfolg werden. Aber das ist
nicht das wichtigste. Wichtiger ist der künstlerische Gehalt. Wichtiger ist das
Schicksal der Jacko-Figur. Es war nicht das Ende vom Lied, er ist nicht
erledigt, his story continues. Doch
so wie früher ist es nicht: „Der Lack ist ab.“ Die Frage ist aber, ob er den
Lack noch braucht. Ob The Magic of
Michael Jackson auf die vorhehaltslose Bereitschaft des Publikums, sich
schon von seinem bloßen Anblick hypnotisieren zu lassen, überhaupt angewiesen
ist. Es war der tiefste „Fall“ aller Zeiten, und er hat ihn überlebt. Das macht
ihn in ungeahnter Weise interessant. Sie alle schauen jetzt - auch die Fans,
und die gerade - überlegter, aber auch aufmerksamer hin. Und wenn die künstlerische
Substanz den kritischer gewordenen Blicken weiterhin standhält, braucht die
Magie keinen Lack. Dann steckt sie auch so an.
Die
eigentliche Geburtsstunde des Künstlers und des Schauspielers zumal, so meinte
der dänische Philosoph und Theaternarr Sören Kierkegaard, sei seine „Krise“.
Wenn er nämlich aufhört, nur so zu sein, wie er „von ganz alleine“ ist, und
sich mit voller Absicht ein zweitesmal zu dem machen muß, was er werden soll,
weil er es „im Grunde“ immer war. Mit dem geborenen Künstler Michael Jackson
ist das allerdings komplizierter. Seine Verdoppelung zum Ewigen Knaben Jacko
hatte er nur zur Hälfte „gemacht“. Zur andern Hälfte war auch sie ihm ganz von
allein passiert.
Die
künstlerische Substanz oder der Gehalt des Jacko-Mythos, das ist ganz dasselbe.
Das Kindliche ist eine ständige Versuchung für die Erwachsenen. In ihrem geschäftigen
Alltag haben sie sich um ein' Gutteil der Möglichkeiten gebracht, die sie
einmal hatten. Daher die immer neue Begeisterung für Wunderkinder aller Art: „Sieh
an, das hättest du sein können!“ Daß einer aus dem Sentiment für das Kindliche
Kapital schlägt, wäre nun nicht neu gewesen. Aber Michael Jackson verkörpert
nicht einfach nur das Kindliche und basta; das war Peter Pan. Der hatte sich
einfach aus der Welt verdrückt. Wenn Erwachsensein bedeutet, einen Beruf
ergreifen und es „zu was bringen in der Welt“, dann war Michael Jackson
erwachsener als irgendwer. Daß er sich von da aus wieder zum Kind macht, das
ist der Witz. Er repräsentiert das Kindliche, das in einer erwachsenen Welt,
gegen eine erwachsene Welt kämpft und - siegt. Und so recht repräsentiert er es
auch erst seit seinem Fall. Die wahre Krise wäre, daß das Kindliche sich gegen
Tod und Teufel behauptet, ohne daran zu „reifen“.
Wenn es sich behauptet!
Oder wird er der Versuchung nachgeben, sich zu einem „seriösen“ Künstler zu
mausern? Die Videos zum neuen Album lassen diese Befürchtung zu. Nichts
Komisches, gedeckte Farben, kein Tanz, höchstens Zorn, aber alles tiefernst.
Abstoßend gar das bedauerliche, häßliche Stranger
In Moscow, das doch eine ganz andere Behandlung verdient hätte. Einziger
Lichtblick: das elektrische They Don't
Care (brasilianische Fassung), ein rasanter rhythmischer Bilderbogen, wo
Michael in alter Frische mit einer Schar halbnackter brauner Jungens tanzt wie
je und zum Schluß mit dem kleinsten und schwärzesten von ihnen eine Ehrenrunde
dreht... Aber das hat ihm, dem Vernehmen nach, nicht gefallen. Dafür ist Stranger In Moscow in Deutschland
spurlos untergegangen. Weiß das Publikum besser, wer Michael Jackson ist, als
er selbst?
Doch
ist er ein hundertprozentiger Profi. Er führt seine Comeback-Kampagne generalstabsmäßig.
Aber Planung ist auf diesem Feld das wenigste. Wenn Image Building eine Kunst
ist, nämlich ein gewagtes Spiel mit tausend Unbekannten, dann ist es Image
Rebuilding doppelt und dreifach.
Gegen
das, was gewesen ist, anspielen zu wollen, wäre hoffnungslos. Das Bild des
Jacko hat einen bleibenden Schatten davongetragen. Der wird ihm anhängen - und
sei es nur als ein Hauch von Verruchtheit: thrilling,
bad und dangerous. Das ließe sich immerhin kapitalisieren.
Es
scheint, als geschähe diese Kampagne in zwei Phasen: Zuerst wird in einer Art „Image-Zapping“
das vertraute Erscheinungsbild bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, um dann wie
Phönix den alten Jacko „neu“ aus der Asche steigen zu lassen. Beide Phasen überschneiden
sich. In You Are Not Alone erscheint
er bald als tragische Unschuld wie Asta Nielsen, bald als Latin Lover wie Rodolfo Valentino, und dann noch mit Lisa Marie wie
in einem Softporno. In They Don't Care erscheint
das Glitzerding in T-Shirt und Schmuddeljeans als King of Schlichtheit, in Childhood
und Earth Song geht er gar in Lumpen.
Und in Stranger In Moscow - ach
herrje !
Dagegen
ist der halbstündige Musikfilm Ghosts,
der seit Ende Oktober in amerikanischen Kinos im Vorprogramm läuft, ein
waschechtes Jacko-Stück. Zu der Musik von 2Bad
und dem unveröffentlichten Ghost
singt, tanzt und mimt er in fünf verschiedenen Rollen - d. h. Masken, unter
denen er nicht wiederzuerkennen ist. Der Film hat eine Story (an der Stephen
King beteiligt war), und die kann man kaum mißverstehen. Ein „Maestro“ zieht in
eine amerikanische Kleinstadt, wo er die bigotten Einwohner und vorneweg ihren
Bürgermeister (auch den spielt Michael) gegen sich aufbringt: Er sei unheimlich
und bringe die Kinder auf dumme Gedanken, er soll gehen - aber er steckt sie
alle an. Es ist ein Gruselstück, ästhetisch in der Linie von Thriller und Smooth Criminal, und dürfte auch die ungeduldigsten Fans mit
ihrem Helden aussöhnen: Jacko at his best;
ganz neu geworden, um ganz der alte zu bleiben... Rechtzeitig zur
Deutschland-Tournee kommt das Stück auch bei uns heraus.
Wird
die Tournee halten, was Ghosts
verspricht?
In Deutschland gehört der Zwiespalt zum Nationalcharakter. Daß Michael Jackson hier eine besonders ergebene Gemeinde gefunden hat, lag in der Natur der Sache. Und es kann noch mehr draus werden, die Tournee wirds erweisen. Inzwischen ist es auch bei uns bald so, daß während seiner Kindheit jeder irgendwann Michael-Jackson-Fan wird, die Jungen früher, die Mädchen später. Bei dem einen dauerts, bei dem andern nicht. Doch auch, wenn es vorüber ist, bleibt die Erinnerung an eine persönliche Intimität zurück wie mit keinem anderen Star. Die Kinder der Bad-Generation sind bald selber Eltern. Und so fort. Am Ende ist - wie in den USA - kaum einer übrig, der mit diesem Künstler nicht irgendwann einmal ein „Verhältnis“ gehabt hat. Das wäre nicht bloß ein Mengenrekord. Es wäre eine neue Qualität, denn es untergräbt die Scheidung von Kindern und Erwachsenen. Crossover.
Was
wird also aus dem Jacko-Mythus? Wir kommen auf den Punkt. In der Gestalt des
Entertainers Michael Jackson erscheint die Schwäche für das Kindliche nicht
mehr bloß als eine Versuchung, sondern als fait
accompli, als vollendete Tatsache. Er hat's versucht, und es ist geglückt.
Es war keine Schnapsidee, es ist wirklich passiert. Es könnte anstecken. Und
wie sagte doch sein Bruder Jermaine? „Wären mehr von uns so kindlich geblieben
wie er, dann ginge es auf der Welt besser zu.“
Am
31. Mai dieses Jahres beginnt in Bremen Michael Jacksons Deutschlandtournee.
Hier
ist unsere Erzählung zuende. Aber nicht unsere Geschichte: Wir sind noch
mittendrin. Sie ist ohne Beispiel. Und weil der Lebensweg von Michael Jackson
einzigartig ist, erzählt er uns mehr darüber, ‚was der Mensch ist‘, als tausend
Normalbiographien. Wenn man das Allgemeine studieren wolle, müsse man sich
zuerst nach einer berechtigten Ausnahme umsehen, heißt es bei Kierkegaard. Denn
was etwas ist, wird an dem deutlich, was es nicht ist. Es steckt aber noch mehr
darin. Das Faszinierende am Ganz-Anderen ist nämlich der Verdacht, daß sich in
der Ausnahme die Umrisse der künftigen Regel andeuten. Daß sie ein Beispiel
geben könnte. Daß sie uns ansteckt.
Im
Juni 1992 erschien bei Doubleday ein zweites Buch von Michael Jackson, Dancing the Dream. Sinngemäß: Traumtänzer;
eine Sammlung von Fotos und selbstverfaßten, sentimentalen Gedichten. Eines
handelt zum Beispiel vom Fall der Berliner Mauer.
Ein anderes beginnt mit der Zeile Once there was a child and was free. Sein Titel ist Magical child, und kein Zweifel, wer mit dem magischen Kind gemeint
ist:
He
knew his power was the power of God
He
was so sure, they considered him odd
His
power of innocence, of compassion, of light
Threatened
the priests and created a fright
In
endless ways they sought to dismantle
This
mysterious force they could not handle
Soothsayers
came and fortunes were told
Some
were vehement, others were bold
In
denouncing this child, this perplexing creature
With
the rest of the world he shared no feature
Is
he real? He is so strange
His
unpredictable nature knows no range
He
puzzles us so, is he straight?
What's
his destiny? What's his fate?
And
while they whispered and conspired
Through
endless rumors to get him tired,
-
ließ sich das magische Kind nicht ins Boxhorn jagen und blieb wie es war:
Don't
stop this child, he's the father of man
Don't
cross his way, he's part of the plan
I
am the child, but so are you
You've
just forgotten, just lost the clue
Deep
inside, you know it's true
Just
find the child, it's hiding in you.
Na,
da hast du dir was vorgenommen, kleiner Michael.
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